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NAHOST/1076: Irak - Die Rückkehr des IS (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 18. Dezember 2018
german-foreign-policy.com

Die Rückkehr des IS


BERLIN/BAGDAD/MOSSUL - Berichte über ein erneutes Erstarken des IS begleiten den gestrigen Kurzbesuch von Außenminister Heiko Maas in Bagdad. Maas war gestern in die irakische Hauptstadt gereist, um bei dem neuen irakischen Ministerpräsidenten dem Berliner Dringen auf einen stärkeren Einfluss im Irak Nachdruck zu verleihen. Unter anderem setzte er sich für einen milliardenschweren Auftrag für Siemens ein und hörte, wie sein Bagdader Amtskollege irakische Flüchtlinge zur Rückkehr in ihr Herkunftsland aufrief. Die irakischen Behörden sind laut Berichten nicht nur für den schleppenden Wiederaufbau in den sunnitisch geprägten Landesteilen verantwortlich. Sunniten werden darüber hinaus im Namen des Kampfes gegen den IS willkürlich inhaftiert, gefoltert oder ohne Schuldbeweis zum Tode verurteilt. "Das ist nicht nur Rache am IS", erklärt ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter: "Das ist Rache an den Sunniten." Beobachter warnen, dies treibe dem im Untergrund fortbestehenden IS neue Kämpfer zu. Dieser befindet sich laut Berichten bereits wieder "in der Offensive".

"Freund und Partner"

Mit einem Kurzbesuch in Bagdad hat Außenminister Heiko Maas am gestrigen Montag dem Berliner Dringen auf einen größeren Einfluss im Irak Nachdruck verliehen. Das Land befindet sich aktuell in einem Regierungswechsel, dessen Folgen noch nicht abschließend einzuschätzen sind. Maas sei es darum gegangen, "dem neuen Ministerpräsidenten Abdel Mahdi den Rücken zu stärken", wurde gestern aus der irakischen Hauptstadt berichtet.[1] Der Außenminister kündigte an, Deutschland werde dem Irak "als Freund und Partner weiter verlässlich zur Seite stehen". Bagdad erhofft sich nicht zuletzt finanzielle Unterstützung. Die Kriegszerstörungen sind umfassend; nach Angaben der Weltbank beläuft sich die Summe, die für den Wiederaufbau veranschlagt werden muss, auf 80 Milliarden Euro. Die Bundesrepublik zählt bisher zu den wichtigsten Geldgebern des Irak.

Siemens gegen GE

Allerdings fordert Berlin Gegenleistungen von Bagdad. Berichten zufolge hat sich Außenminister Maas gestern in der irakischen Hauptstadt unter anderem um einen Großauftrag für Siemens bemüht. Dabei geht es um den Wiederaufbau der Stromversorgung; notwendig sind zunächst die Reparatur des maroden, teils zerstörten Stromnetzes und die Instandsetzung und der Neubau von Kraftwerken. Der Auftrag wird auf einen Wert von mindestens 13 Milliarden Euro geschätzt. Siemens hatte den Zuschlag nach einer unmittelbaren Intervention deutscher Regierungsstellen in Bagdad sicher geglaubt, muss jetzt allerdings zur Kenntnis nehmen, dass Washington zugunsten von General Electric (GE) Druck ausübt und der US-Konzern zumindest lukrative Teilaufträge erhalten soll.[2] Die Auseinandersetzungen dauern an.

"Freiwillige Rückkehr"

Darüber hinaus ist Bagdad der Bundesregierung gestern mit einem Aufruf an irakische Flüchtlinge entgegengekommen, den Heimweg anzutreten. "Wir hoffen, dass diese Bürger freiwillig in den Irak zurückkehren werden", sagte der irakische Außenminister Mohammed Ali al Hakim nach seinem Treffen mit Maas über die rund 245.000 Iraker, die in die Bundesrepublik geflohen sind. Es handelt sich um die zweitgrößte nationale Gruppe von Flüchtlingen in Deutschland nach den Syrern. "Der Irak ist ein sicheres Land", erklärte Al Hakim; lediglich im Nachbarland Syrien gebe es noch "viele Dinge, die ... Grund zur Besorgnis liefern".[3] Damit entsprach Al Hakim nicht nur dem Interesse Berlins, die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zu reduzieren. Er bestätigte auch die offizielle Haltung der Bundesregierung, wonach der Irak sich auf recht gutem Wege befinde, in Syrien hingegen immense Schwierigkeiten fortbestünden.

Kein Wiederaufbau

Tatsächlich sind die Probleme im Irak insbesondere in den sunnitisch geprägten Landesteilen, die von der IS-Herrschaft und vom Krieg gegen den IS besonders betroffen waren, riesig. Beobachter warnen, dem IS gelinge es inzwischen, sich im Untergrund zu konsolidieren; die Aktivitäten der Regierung in Bagdad, der Behörden und insbesondere der schiitischen Milizen seien geeignet, der Rückkehr der Jihadisten den Boden zu bereiten. So komme etwa der Wiederaufbau in den kriegszerstörten Städten, insbesondere in der einstigen IS-Zentrale Mossul, nicht voran; Bagdads schiitisch dominierter Regierung widerstrebe es offenbar, sunnitisch geprägten Gebieten in ausreichendem Maße Geld zur Verfügung zu stellen. Zuletzt habe Bagdad auf massiven Druck hin 100 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau locker gemacht; gebraucht würden jedoch Milliarden.[4] Die irakischen Sunniten fühlten sich von der Regierung massiv benachteiligt und diskriminiert. Dies wiegt schwer: Die Benachteiligung und Diskriminierung der sunnitischen Minderheit hatte einst dem IS, der sich aus den sunnitischen Bevölkerungsteilen speiste und der schiitischen Mehrheit den mörderischen Kampf angesagt hatte, den Aufstieg erleichtert.

"Rache an den Sunniten"

Hinzu kommt, dass die sunnitische Minderheit nach dem Sieg über den IS ins Fadenkreuz der Bagdader Behörden geraten ist. Bereits während des Krieges gegen den IS, insbesondere während der Schlacht um Mossul, wurde nicht selten berichtet, Sunniten, die verdächtigt worden seien, die Jihadisten zu unterstützen, seien misshandelt und zuweilen bestialisch ermordet worden. Ähnliches wird nun von den Gerichtsverfahren gegen tatsächliche oder angebliche IS-Mitglieder bekannt. Demnach werden Gefangene in Haftanstalten des irakischen Innenministeriums in der Nähe von Mossul gefoltert und in einigen Fällen umgebracht.[5] Ein hochrangiger Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes wird mit der Aussage zitiert, "Hunderte" seien bei Verhören getötet worden; als Todesursache werde üblicherweise "Herzversagen" oder "unbekannt" notiert.[6] Gefangene vegetierten in überfüllten Zellen unter schlimmsten Bedingungen dahin; Verletzungen würden nicht behandelt, was zuweilen zu Amputationen oder gar zum Tode der Betroffenen führe. In Prozessen werden selbst offenkundig unschuldige Sunniten laut einem aktuellen Bericht zu härtesten Strafen, manchmal sogar zum Tode verurteilt; Insider erklären, täglich würden mindestens 25 Todesurteile gefällt.[7] Der erwähnte Geheimdienstmann erklärt, die Bagdader Regierung decke sogar schwerste Verbrechen; so seien Journalisten zu Massengräbern angeblicher IS-Opfer geführt worden, in denen tatsächlich aber Opfer von Massakern schiitischer Milizen lagen. "Wir vernichten Tausende Familien der irakischen Gesellschaft", urteilt der Geheimdienstler: "Das ist nicht nur Rache am IS. Das ist Rache an den Sunniten."

"Die Samen für den nächsten Konflikt"

Katastrophale Zustände herrschen demnach auch in Lagern, in denen tatsächliche oder angebliche Ehefrauen von IS-Kämpfern mit ihren Kindern interniert werden. Beobachter vergleichen sie mit Konzentrationslagern.[8] Internierte, die - ob zu Recht oder zu Unrecht - mit dem IS in Verbindung gebracht würden, erhielten nicht genug Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung; die Frauen müssten sich in vielen Fällen prostituieren, um zu überleben; sie würden von Wächtern und von anderem Lagerpersonal vergewaltigt. "Entsprechend erziehen sie ihre Kinder", berichtet ein Zeuge, "und ihre Söhne werden nach Rache streben": "Die Samen für den nächsten Konflikt sind alle da."

Aus der Deckung

Tatsächlich geht der IS inzwischen, wie berichtet wird, "wieder in die Offensive über". Anfang August forderte der IS-Führer Abu Bakr al Bagdadi in einer Audiobotschaft die Mitglieder seiner Organisation auf, jetzt systematisch "Angriff für Angriff" zu führen.[9] Jihadisten, die sich bisher "in entlegenen Wüstengegenden" verschanzt hätten, mischten sich nun "in ihren Heimatorten wieder unter die Bevölkerung": "In manchen irakischen Dörfern sind sie bereits wieder die nächtlichen Herrscher"; andernorts trauten sie sich "auch tagsüber wieder aus der Deckung". "Die Zahl der Terrorangriffe nimmt wieder zu", heißt es: Der Krieg des Westens gegen den IS droht ebenso zu scheitern wie am Hindukusch der westliche Krieg gegen die Taliban.


Anmerkungen:

[1] Daniel Brössler: Maas auf hoffnungsvoller Mission im Irak. sueddeutsche.de 17.12.2018.

[2] S. dazu Der Menschenrechtskonzern
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7765/

[3] Irak ruft Flüchtlinge zur Rückkehr aus Deutschland auf. welt.de 17.12.2018.

[4] Christoph Ehrhardt: Nicht besiegt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.2018.

[5] Iraq: Chilling Accounts of Torture, Deaths. hrw.org 19.08.2018.

[6], [7], [8] Ben Taub: Iraq's Post-ISIS Campaign of Revenge. newyorker.com 24.12.2018.

[9] Christoph Ehrhardt: Nicht besiegt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.2018.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2018

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