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NAHOST/437: Sicherheitslage und Menschenrechtssituation im Irak (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Sicherheitslage und Menschenrechtssituation im Irak

Von Michael Kirschner


Millionenfach ist die irakische Bevölkerung nicht erst seit 2003 infolge von Pogromen, Attentaten und der Gewalt verschiedener Kriege geflohen. Anderen ist der Verbleib oder die Rückkehr wegen der in der Heimat vollständig zerstörten ökonomischen und sozialen Infrastruktur nicht möglich. Sie leben als Inlandsvertriebene oder als Flüchtlinge in den Nachbarländern des Irak unter erheblich prekären Bedingungen. In einem ausführlichen Bericht "Irak - Aktuelle Entwicklungen" berichtet Michael Kirschner der Schweizerischen Flüchtlingshilfe im August 2008 über die aktuelle Gefährdungslage im Irak.

In regelmäßiger Kontinuität herrscht seit 1980 im Irak Krieg: bis 1988 gegen Iran, 1991 gegen die USA und ihre Alliierten mit anschließenden Aufstandsunterdrückungsgewalt innerhalb des Iraks und immer wiederkehrenden Scharmützeln gegen die Alliierten bis zum Beginn des Dritten Golfkriegs 2003, den seit dem die USA und ihre zeitweilig bis zu 50 Alliierten führen. Von 1990 bis 2003 litt die Bevölkerung darüber hinaus unter härtesten Sanktionen und einen internationalen Boykott, dem nach Schätzungen Hundertausende zum Opfer fielen.

Der Irak gilt als failed state. In Folge des Krieges gibt es keine funktionierende Zentralregierung und -verwaltung. Erpresserische Macht wird von Milizen, Banden, Militär- und Verwaltungschefs in den Provinzen, im Zentral- und im Südirak z.B. durch kleptokratische Stromversorgung, durch Klientelversorgungspraktiken oder mafiöse Gewalt demonstriert. In Bagdad und anderen zentralirakischen Gebieten ist trotz alliierter Omnipräsenz die Situation am problematischsten. Unüberwindbare ethnische und (pseudo) religiöse Barrieren haben sich in den Köpfen von Interessensgruppen etabliert: Nachbarschaften, Schulen, Hospitäler, Basare und allemal Verwaltungen verlieren ihre Diversität.

Einer von vielen Gründen für zunehmende Binnenfluchtbewegungen - zahlreich in den kurdischen Norden. Doch seit Mai 2007 erlaubten kurdische Behörden Inlandsflüchtlingen die Einreise in kurdisches Gebiet nur, wenn diese einen Einheimischen als Bürgen vorweisen konnten. Die autonome Region Kurdistan funktioniert vergleichsweise stabil. Die Intervention der türkischen Armee zur Bekämpfung der nordkurdischen PKK hat im Nordirak zu tausendfacher Vertreibung von Zivilisten, zur Zerstörung von Dörfern, Brücken, Gesundheitszentren und Schulen geführt.


Sicherheitslage

Heute unterstehen 10 von 18 Provinzen offiziell wieder der Kontrolle zentralirakischer Sicherheitskräfte. Das bedeutet aber nicht, dass sie dort auch in der Lage sind, terroristische, extremistische oder kriminelle Bedrohungen zu kontrollieren. Ein Heer junger Männer, die nicht in die irakische Armee aufgenommen werden, sind Zielgruppen der Rekrutierung durch Aufständischen und der Mafia gleichermaßen und bilden eine nicht versiegende Reservearmee für Attentate, Entführungen, und Erpressungen. Immer wieder aufflammende Kämpfe und Mordanschläge verunmöglichen Einwohnern der betroffenen Gebiete die Flucht und verhindern die Rückkehr der intern Vertriebenen.

Im Südirak sind seit Frühjahr 2008 die Kämpfe zwischen irakischer Armee und Aufständischen in einer weiterdrehenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt wieder aufgeflammt. Mitglieder von Milizen unterwandern die irakischen Sicherheitskräfte und kommen so an Waffen, Salär und Legitimation. Zivilisten irren beim Versuch der Gewalt zu entkommen ziellos umher, werden aber auch gezielt am Verlassen der Kampfzonen gehindert.

Nicht nur in Bagdad haben schiitische Milizen in den Stadtteilen ein System von willkürlich herrschenden "islamischen Gerichten" etabliert, die Angst und Terror verbreiten. In der Provinz Diyala haben eine sunnitische mit Al Kaida verbündete Gruppe ein Kriegskabinett ausgerufen, das mit Bombenanschlägen, Überfällen auf Dörfer, Enthauptungen, öffentlichen Hinrichtungen und Foltergefängnissen die Einhaltung "radikal-islamischer" Gesetze erzwingt.

Die ursprünglich zur Bekämpfung von Aufständischen von den USA bewaffneten und bezahlten sunnitischen Bürgerwehren in den sunnitischen Stammesgebieten des Zentralirak umfassen 80 - 90.000 Mitglieder und haben sich zum Vertreibungsfaktor der nichtsunnitischen Bevölkerung entwickelt. Sie sind von Extremisten unterwandert.

Schiitische Milizen, wie die Mahdi-Armee, außer Kontrolle geratene Untergruppen oder andere shiitische Verbrecher- und Mordzellen, die keinen Anweisungen mehr folgen, haben sich zur stärksten, gefährlichsten und bestbewaffneten Bewegung im Irak entwickelt.


Menschenrechte

Angst vor Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Vertreibung ist ein Hauptgrund für zunehmende Erkrankungen und Erschöpfungen in der Bevölkerung. Menschenrechtsverletzungen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren werden in einem Klima von Anarchie und Gewalt im Zentral- und Südirak vielerorts zumeist nicht einmal aufgezeichnet und geahndet. Eher werden von US-Militärstandards abweichende «irakische Methoden» im Kampf gegen Gewalt und Terror als Alternative zu einer unbegrenzten Besatzungszeit hingenommen.

Werden Einzelpersonen als Terroristen, Kollaborateure oder zum Beispiel frühere Baath-Mitglieder verdächtigt, droht ihnen unmittelbar Lebensgefahr. An Checkpoints werden Hunderte Personen unter dem Verdacht, für bewaffnete Gruppen zu arbeiten, festgenommen und verschwinden oftmals spurlos.

Frauen werden landesweit Opfer von Erniedrigungen und gezielten Tötungen wegen ihren politischen Einstellungen, bei Verstößen gegen die «islamischen Lehre», islamische Kleidungsvorschriften oder die Familienehre. Frauen werden mancherorts von militanten Gruppen regelrecht gejagt und gezielt ermordet, wenn sie sich entgegen "religiösen Normen" verhielten, militante Gruppen kritisierten oder weil sie früher zur Baath-Partei gehörten. Frauen sind regelmäßig Opfer von Zwangsehen oder so genannten «Ehrenmorden». Frauen verüben auch Selbstmordversuche, um der innerfamiliären Gewalt zu entkommen.

Etwa 70.000 Frauen wurden zu Witwen. Frauen sind dennoch in die Öffentlichkeit gezwungen, da ihre Männer wegen Bedrohungen und aus Angst vor Entführungen nicht mehr ihre Häuser verlassen. Geistig behinderte Frauen wurden als Selbstmordattentäterinnen rekrutiert. Schwangere sehen sich extremen Problemen gegenüber. Frauenaktivistinnen werden Opfer von Bedrohungen. Bei Nichtregierungsorganisationen tätige Frauen werden entführt.

Angehörige von ethnischen und religiösen Minderheiten sind extremistischer und terroristischer Gewalt in der Regel schutzlos ausgeliefert. Christen, Yeziden, Shabak, Turkmenen, Kurden und Faili-Kurden (schiitische Kurden), arabische Schiiten und Sunniten wurden Opfer von Bedrohungen, Entführungen, Vertreibungen, gezielten Attentaten, Zerstörungen und Tötungen.

Kinder sind wegen der allgemeinen Gewalt, zunehmend auch wegen häuslicher Gewalt sowie aufgrund von interner Vertreibung extremen Belastungen ausgesetzt. Kinder wurden zu Hunderten von ihren Eltern verlassen. Aus Angst, ihre Kinder wegen der anhaltenden Gewalt und Entführungen zu verlieren, halten Eltern ihre Kinder im Haus und von der Schule fern. Kinderarbeit stellt wegen zunehmender Armut ein ernsthaftes Problem dar. Kinder werden als Kindersoldaten vor allem von der Kaida im Irak und der Mahdi-Armee rekrutiert.

Journalisten werden durch verschiedene Gruppen bedroht, entführt oder gezielt ermordet. Hunderte mussten das Land verlassen. Kritische Berichterstattung wird von Politikern als persönliche Beleidigung empfunden und mit Drohungen (Verhaftung, Blutrache) beantwortet.

Personen, die für die US-Koalition gearbeitet haben, und deren Familien und Verwandte sind gefährdet, Opfer von Entführungen, Racheakten und gezielten Tötungen zu werden. Militante haben Preisgelder ausgesetzt für Informationen zu «Kollaborateuren». Kurden, die für das US-Militär gearbeitet haben, gelten in Kurdistan-Irak nicht als Verräter. Nicht-irakische Flüchtlinge aus Palästina oder kurdische Flüchtlinge aus dem Iran befinden sich weiterhin in einer prekären Lage. Sie werden Opfer von Attentaten und Verhaftungen und den verschlechterten Lebensbedingungen in ihren Lagern. Das gilt auch für ehemalige iranische Volksmujahedin oder iranische Kurden.


Michael Kirschner recherchiert die Entwicklung im Irak regelmäßig für die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Sein ausführlicher Bericht aus August 2008 steht im Internet: www.osar.ch


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Irak: Flüchtlinge

Im deutschen Ausländerzentralregister waren zum Stichtag 31. Oktober 2007 ca.72.000 IrakerInnen erfasst. Davon sind seit Beginn des aktuellen Irak-Krieges 16.291 Personen nach Deutschland eingereist. Zum Stichtag waren etwa 5.381 noch im laufenden Asylverfahren, 3.335 waren Asylberechtigte, 24.552 hatten einen GFK-Flüchtlingsstatus und 9.358 waren aufenthaltsrechtlich geduldet. Über 10.000 IrakerInnen galten schon im Herbst 2007 als ausreisepflichtig bzw. ihnen wurde die Abschiebung angedroht.

Seit 2004 wurden über 40.000 anerkannte irakische Flüchtlinge mit Widerrufverfahren ihres Flüchtlingsstatusses überzogen. Diese Praxis stellte das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erst 2008 aufgrund zahlreicher Proteste aus Politik und Nichtregierungsorganisationen vorläufig ein. Im Jahr 2007 sind 600 irakische Flüchtlinge an den Grenzen der BRD abgewiesen worden. Viele derjenigen, denen die Einreise jedoch gelungen ist, werden auf dem Weg zu ihrem Fluchtziel Skandinavien in Schleswig-Holstein aufgegriffen, festgesetzt und gem. dem Dublin-Übereinkommen in das EU-Land zurückgeschoben, über das sie nach Europa eingereist sind.

Gleichzeitig ist seit Anfang des Jahres eine Mediendiskussion über die Aufnahme von ca. 60.000 laut UNHCR besonders schutzbedürftigen irakischer Flüchtlingen entbrannt, die zunächst in den Nachbarländern des Iraks Erstaufnahme gefunden haben. Heute leben 2,78 Mio. Menschen als intern Vertriebene im Irak. Mindestens 2 Mio. Iraker hat es in Flüchtlingsexil in den Nachbarländern verschlagen. Während Kirchen, Verbände und Flüchtlingsorganisationen hierzulande ein nationalitäten- und herkunftslandunabhängiges jährliches Flüchtlingsaufnahmekontingent (Resettlement) von ca. 30.000 Flüchtlingen einfordern, ist Bundesinnenminister Schäuble allenfalls zur einmaligen Aufnahme von 5.000 IrakerInnen bereit. Eine Kleinstaufnahmequote, die PRO ASYL als "traurig und beschämend" kritisiert.

Martin Link, Oktober 2008


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Irak: Bevölkerung und Religion

Der Irak hat nach verschiedenen Quellen ca. 24-28 Mio. Einwohner. Die zentralen Provinzen Bagdad und Babylon sind am dichtesten besiedelt. Etwa 75 bis 80 % der heute im Irak lebenden Bevölkerung sind Araber, 15 bis 20 % sind Kurden, die Kurmandschi, Sorani und Südkurdisch sprechen. Verbreitetste kurdische Sprache im Irak ist Sorani. Die restlichen ca. 3 % setzen sich aus Turkomanen, Assyrern und Armeniern zusammen. Die Übergriffe auf die Chaldo-assyrischen Christen im Irak ließen fast eine Million Menschen dieser Urbevölkerung des Iraks aus dem Land entfliehen.

Etwa 95 % der Bevölkerung sind muslimisch. Über 60 % sind Schiiten und knapp 35 % Sunniten. Die große Mehrheit der muslimischen Kurden ist sunnitisch.

Christen und andere Religionen sind derzeit nur mehr mit ca. 5 % vertreten, davon etwa 3 % Christen, während sie vor 100 Jahren noch etwa 25 % ausmachten. In den letzten Jahren sind fast 2 Millionen Christen geflohen. Die Christen zählen überwiegend zu den orientalisch-christlichen Gemeinschaften: Chaldäisch-Katholische Kirche, Assyrische Kirche des Ostens, Alte Apostolische Kirche des Ostens, Armenier, römische und syrische Katholiken, Altsyrisch-Orthodoxe, Protestanten und andere.

Des Weiteren gibt es noch die kurdischen Jesiden, deren Zahl teilweise mit über 500.000 angegeben wird, Schabbak die entweder als extreme Schiiten oder als eigene Gruppe angesehen werden und einige Tausend Mandäer. Weiterhin sollen im Südosten 20.000-50.000 Marsch-Araber leben.

Bis 1948 lebten noch 150.000 Juden im Irak, aufgrund der gemischten Politik des Baath-Regimes von erzwungenen und genehmigten Ausreisen wird die Zahl der noch dort leben Juden auf unter 10 Personen geschätzt.

Quelle: Wikipedia


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 45 - Herbst 2008, Seite 63-65
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität
in Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/735 000; Fax: 0431/736 077
E-Mail: schlepper@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 16,50 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009