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NAHOST/485: Palästina - Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Sicht (Tlaxcala)


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Palästina:
Versöhnung und Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Sicht

Interview mit Prof. Ali Jarbawi, Teilnehmer an der jüngsten Kairoer Konferenz
Von Hakam Abdel-Hadi


Prof. Ali Jarbawi, Hochschullehrer für politische Wissenschaft an der Universität Birzeit/Westbank, hat als Unabhängiger an der palästinensischen Versöhnungskonferenz teilgenommen, die am 26. Februar 2009 in Kairo auf Einladung der ägyptischen Regierung stattfand. An dieser Konferenz nahmen Vertreter von Fatah, Hamas und allen anderen palästinensischen Organisationen sowie unabhängige Persönlichkeiten wie Bischof Michail Sabbah teil. Kurz danach führte Hakam Abdel-Hadi mit Prof. Jarbawi folgendes Interview:


Frage: Meinen Sie, dass Fatah und Hamas sich im Zuge solcher Versöhnungskonferenzen auf eine Regelung der grundlegenden Fragen, insbesondere im Hinblick auf die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, einigen werden?

Antwort: Es herrschte auf der Kairoer Konferenz eine konstruktive Atmosphäre. Beide Seiten stehen unter massivem Druck, wenn auch die Ursachen und die Hintergründe unterschiedlich sind. Deshalb sehen sie sich veranlasst, die Kluft zwischen ihren Positionen zu überwinden und die Spaltung zu beenden. Nach meiner Auffassung dürfen sich aber diese Bemühungen nicht in erster Linie darauf konzentrieren, Fragen, wie die Regierungsbildung oder die Reform der PLO etc. zu erörtern. Vielmehr muss die künftige Strategie für die politische Arbeit im Vordergrund stehen. Wenn sich die Einigung darin erschöpfte, nur eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, dann würde die Lage später kompliziert sein. Derzeit haben wir nämlich zwei konträre Richtungen: Die eine Partei ist für Verhandlungen und die andere für Widerstand. Wenn ein Konsens in der Strategie herbeigeführt wird, dann kann man alle anderen Probleme leicht lösen.

Frage: Es gibt dringliche Aufgabe wie den Wiederaufbau von Gaza, die eine Versöhnung beschleunigen, oder?

Antwort: Es gibt eine Reihe von Akten: Den Wiederaufbau von Gaza, die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas, die Waffenruhe und die Aufhebung der Blockade, den Gefangenenaustausch, die Reform der PLO und die Reorganisation der Sicherheitskräfte. Manche Teilnehmer sind zunächst davon ausgegangen, dass diese Aufgaben eine nach der anderen gemeistert werden sollen, aber es stellte sich heraus, dass alle zusammenhängen, und man kann sie nicht getrennt behandeln. Inzwischen wird dies auf allen Treffen eingesehen. Sie müssen auf nationaler und internationaler Ebene als Paket angegangen werden.

Frage: Die internationale Gemeinschaft will den Wiederaufbau Gazas finanzieren, aber von der Verantwortung Israels ist keine Rede. Wie sehen Sie das?

Antwort: Es ist empörend, dass Israel alle diese Wohngebiete und die Infrastruktur in Gaza zerstört hat, genau wie dies auch 2002 in den palästinensischen Gebieten unter Herrschaft der Autonomiebehörde und 2006 im Libanon geschah, ohne dass jemand Israel zu Rechenschaft zieht und verlangt, dass es Wiedergutmachung leisten und die moralische Verantwortung dafür übernehmen muss. Israel zerstörte Gaza, und die Weltgemeinschaft und die Araber haben es wiederaufzubauen. Wir wissen aber leider, dass die Politik der internationalen Gemeinschaft darum bemüht ist, Israel von allen Konsequenzen frei zu sprechen.

Wie auch immer, die internationale finanzielle Hilfe wurde von den Geberländern zugesagt, aber die Menschen in Gaza können damit nichts anfangen, wenn Israel die Blockade nicht aufhebt. Bisher weigert sich Israel, die Grenzübergänge zu öffnen. Es geht ja um die Lieferung von Zement, Eisen und anderen Baustoffen, nicht nur um Güter für humanitäre Zwecke. Israel behauptet aber, dass diese Materialien für den Tunnel- und den Raketenbau verwendet würden, und deshalb ist es notwendig, dass ein politisches Programm der Palästinenser beschlossen und eine Waffenruhe erzielt wird. Und dann geht es um die Bildung einer Regierung mit einem politischen Programm, das von palästinensischer und internationaler Seite getragen wird. Danach kann dann der Wiederaufbau von Gaza in Angriff genommen werden.

Frage: Die internationale Gemeinschaft nimmt nun eine andere Haltung gegenüber Hamas ein. Wie schätzen Sie die neue Situation ein?

Antwort: Von Anfang an war es ein grober Fehler, dass man Hamas isolieren wollte, obwohl sie die Wahlen (2006) gewonnen hat. Man gab ihr keine Chance, ihre Innen- und Außenpolitik umzusetzen. Sowohl die bis dahin in der Autonomieverwaltung dominierende Fatah als auch die internationale Gemeinschaft zielten darauf ab, Hamas auszuschließen. Die internationale Gemeinschaft ergriff bereits nach der Unterzeichnung der Osloer Verträge (1993) Partei zu Gunsten Israels und versuchte, die Palästinenser gefügig zu machen und ihnen das israelische Diktat aufzuzwingen. Dies trug entscheidend zur Stärkung von Hamas bei. Aber auf der anderen Seite erleichterte die unklare lokale und außenpolitischen Linie von Hamas auch das Vorgehen ihrer Gegner. Dies hatte schlimme Folgen nicht nur für Hamas, sondern auch für das palästinensische Volk: Die Blockade gegen Gaza und schließlich der Gaza-Krieg. Inzwischen sieht Hamas ein, dass sie ihre Auffassungen auf nationaler und internationalen Ebene nicht durchsetzen kann. Hamas ist also flexibler geworden. Die internationale Gemeinschaft ihrerseits hat nun begriffen, dass ein Ausschluss von Hamas nicht möglich ist, da sie ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft ist. Sie hat ihre Anhänger und eine politische Position, die von beachtlichen Anteilen der Bevölkerung respektiert wird. Schließlich waren die von Fatah favorisierten palästinensisch-israelischen Verhandlungen im Hinblick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen des palästinensischen Volkes nicht nur völlig unergiebig, sondern auch schädlich, weil die israelischen Siedlungen während der Verhandlungen ausgebaut wurden.

Frage: Gibt es nach Ihrem Eindruck eine internationale Akzeptanz für eine Beteiligung von Hamas an der nächsten Regierung?

Antwort: Ja, Hamas bemüht sich politisch um die Befreiung von ihrer Isolation, insbesondere nach dem Krieg in Gaza. Die internationale Gemeinschaft kommt Hamas ein Stückchen entgegen, aber ob diese Entwicklung dahin führen wird, dass viele Staaten, insbesondere die USA, in kürze einen offiziellen Dialog mit Hamas führen? Nein, das glaube ich nicht, aber sogar die USA werden wahrscheinlich die Präsenz von Hamas-Mitgliedern oder von Persönlichkeiten, die ihr nahe stehen, in einer Regierung der nationalen Einheit tolerieren, wenn das Regierungsprogramm nicht mit dem Programm von Hamas identisch ist. Es geht nicht darum, dass Hamas ihre Ideologie aufgibt, sondern um die Verankerung eines neuen Regierungsprogramms.

Frage: Einer Umfrage zufolge ist Hamas nach dem Krieg in Gaza populärer als Fatah in der Westbank. Ist dieser Trend überall bei den Palästinensern zu beobachten?

Antwort: Es wurden im Januar 2009 drei Umfragen von angesehenen Instituten durchgeführt, die alle zum gleichen Ergebnis kamen, dass die Popularität von Hamas zunimmt je weiter die Bürger vom Kriegsschauplatz entfernt leben: In der Westbank ist sie beliebter als in Gaza und bei den Diasporapalästinensern noch mehr als in der Westbank. Moralisch steht Hamas hoch im Kurs, aber objektiv fällt das Verhältnis zwischen diesem Gewinn und der Zerstörung zu Ungunsten von Hamas aus. Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher werden die Menschen die Situation reflektieren und Hamas vielleicht zur Rechenschaft ziehen.

Dennoch genießt Hamas nach wie vor eine beachtliche Beliebtheit auf lokaler Ebene und im Ausland. Wenn Wahlen abgehalten würden, würde Hamas einen hohen Prozentsatz der Wählerstimmen erzielen; das Wahlergebnis würde dann auch davon abhängen, ob die anderen Parteien eine gemeinsame Wahlliste bilden oder weiterhin zersplittert bleiben. Die Wahlen werden alles entscheiden, aber ich zweifele, dass sie wie geplant im Januar 2010 stattfinden werden.

Frage: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? Haben Fatah und Hamas kein Interesse daran, den Wahltermin einzuhalten? Antwort: Wie gesagt, bis dahin wird Hamas die Sympathie vieler Wähler verlieren, weil das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ihnen bewusster wird, aber auch für Fatah arbeitet die Zeit nicht, denn sie hat es immer noch nicht geschafft ihren 6. Parteitag abzuhalten. Darauf warten die Mitglieder und die Bevölkerung seit 17 Jahren. Zum anderen weißt keiner im voraus, falls sie den Parteitag abhielten, was dabei heraus käme. Fatah könnte noch zerstrittener ,als sie derzeit ist. Kurz: Hamas und Fatah haben ein Interesse daran, den Wahltermin aufzuschieben.

Frage: Keiner redet mehr darüber, dass die Amtszeit von Präsident Mahmoud Abbas im Januar 2008 abgelaufen ist. Was steckt dahinter?

Antwort: Hamas thematisiert es nicht mehr. In diesem Punkt gibt es ein Stillhalteabkommen. Außerdem streiten nicht nur die Juristen ernsthaft darüber, ob seine Amtszeit wirklich abgelaufen sei. Ernsthaft steht zur Diskussion, dass der Parlamentsbeschluss gültig ist, dass die Wahlen des Parlaments und des Präsidenten gleichzeitig abgehalten werden sollten.

Frage: Zum Schluss die Kernfrage: wird in den nächsten Wochen eine Regierung der nationalen Einheit gebildet?

Antwort: Eine Regierung muss her, denn es gibt dringliche Aufgaben, vor allem der Wiederaufbau von Gaza. Etwa 100.000 Menschen haben bei dieser Witterung kein Dach über den Kopf. Zum anderen wird besonders jetzt nach den Wahlen in Israel sehr deutlich, dass wir nicht ewig verhandeln können. Auch Fatah kann damit nicht leben. Übrigens, ich sehe keinen gravierenden Unterschied zwischen einer Regierung unter Olmert/Levni oder unter Netanjahu. Die bisherige Regierung hat wie alle anderen israelischen Regierungen die Siedlungen ausgebaut.
Hamas kommt auch nicht weiter mit ihrer Strategie: Mit dem Abfeuern einer Kassam-Rakete hier und da kann man nichts bewirken. Auf arabischer Ebene beobachten wir eine gewisse Annäherung zwischen beiden Lagern und die internationale Gemeinschaft nimmt eine konstruktivere Rolle gegenüber Hamas ein.
Kurz: Ja, ich rechne damit, dass in den nächsten zwei Monaten eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird.


Quelle: der Autor
Originalartikel veröffentlicht am 4.3.2009

Über den Autor

Hakam Abdel-Hadi wurde 1939 in Jenin, im Norden Palästinas, geboren. Zum Studium kam er 1958 nach Deutschland. Der Publizist Hakam Abdel-Hadi steht für über vierzig Jahre deutsche Nahostberichterstattung.

Hakam Abdel-Hadi ist ein assoziierter Autor von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Dieser Artikel kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor als auch die Quelle genannt werden.

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2009