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NAHOST/549: Kurdenfrage - Den Krieg beenden! Um Aussöhnung kämpfen! (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 9/2009
Dialog-Kreis

Der Kommentar
Den Krieg beenden! Um Aussöhnung und Gerechtigkeit kämpfen!

Von Andreas Buro


Ein großer Erfolg ist errungen worden. Die Lösung der Kurdenfrage ist endgültig und unwiderrufbar auf die türkische Tagesordnung gesetzt worden. Sie ist damit allerdings noch nicht gelöst. Viele Kräfte haben daran mitgearbeitet: Bemühungen von kurdischer Seite mit ihren ständigen Angeboten für eine friedliche, demokratische und politische Lösung und ihren einseitigen Waffenstillständen. Aber auch der Schritt des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, die Lösung der Kurdenfrage zur Hauptaufgabe der Türkei zu erklären, war und ist von größter Bedeutung, wie auch die Bereitschaft des Ministerpräsidenten mit dem Vorsitzenden der kurdischen DTP zu sprechen. Alle diese Bemühungen sind hoch anzuerkennen, haben sie doch auf beiden Seiten unter schwierigsten Bedingungen stattgefunden.

Jetzt und wohl auch noch auf längere Zeit wird über das "Wie" gestritten. Das ist angesichts des langen historischen Kampfes mit seinen tiefen politischen, sozial-psychologischen und ideologisch-nationalistischen Auswirkungen auf die Gesellschaft, aber vor allem auch auf die führenden Gruppierungen nicht anders zu erwarten. Es besteht, auch wenn die Uhr nicht zurück gedreht werden kann, immer noch die Gefahr, dass "der Berg kreißt und nur eine Maus geboren wird". Geschieht dies, so wird eine "bleierne Zeit" folgen, die Elend und Gräuel wieder aufleben lassen wird. Keiner kann voraussehen, welche internationalen Bedingungen sich dann auf den so notwendigen Lösungsprozess auswirken werden. Deshalb ist jetzt aus meiner Sicht eine große und kühne Initiative der kurdischen Seite erforderlich, durch die die ganze Konstellation des Konflikts grundlegend verändert wird. Ankara ist dazu nicht in der Lage, nur die kurdische Seite kann dies vollbringen.

Der Krieg muß den türkischen Nationalisten und Militaristen, die unbedingt daran festhalten wollen, weggenommen werden;

aber auch den NATO-Staaten einschließlich Deutschlands, die sich bislang kaum für eine Lösung eingesetzt und sich hinter dem unsinnigen Terrorismus-Vorwurf gegenüber der kurdischen Seite verschanzt haben. Dies ist nur möglich, indem die kurdische Seite - und ich wende mich damit ausdrücklich an die PKK, die KCK-Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans und an den Vorsitzenden des Exekutivrates Murat Karayilan - aus weitsichtigen strategischen Überlegungen erklärt, sie sei bereit, endgültig auf die Fortführung des militärischen Kampfes zu verzichten und ihre Waffen unter internationaler Kontrolle zu übergeben. Auf jede militärische Drohung werde verzichtet, denn wer nach dem Motto droht, " und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt" (Goethe, Erlkönig) kehrt damit zurück zur militärischen Kriegslogik und in die bisherigen so tragischen Konstellationen.

Mit einem solchen kühnen Schritt würde die kurdische Seite konsequent ihrer bisher immer wieder vorgetragenen Überzeugung folgen, die auch der Vorsitzende Abdullah Öcalan teilt, dass die kurdische Frage nur politisch, demokratisch und friedlich gelöst werden könne. Sie zöge damit die grundsätzliche Schlußfolgerung aus ihren bisherigen Forderungen und wälzte damit gleichzeitig die gesamte aktuelle Konstellation um. Dann würden wieder Ziele und Mittel übereinstimmen.

Damit würde der Weg frei für eine neue Politik der Aussöhnung und des Kampfes um die Herstellung von Gerechtigkeit gegenüber der kurdischen Bevölkerung im Rahmen der Türkei. Die ganze kurdische Bevölkerung - und mit ihr hoffentlich viele türkisch-stämmige Bürgerinnen und Bürger - könnten sich an tausend Stellen der Gesellschaft an diesen Bemühungen beteiligen.

Der auf Imrali gefangene Abdullah Öcalan, sagte jüngst zu seinen Verteidigern: " Alle, die Jugendlichen, die Frauen, jeder muß seine eigenen Entscheidungen treffen. Wer auf bestellte Lösungen wartet, kommt nicht zum Erfolg oder zu einer Lösung. Diese Art von Lösungslogik war früher in theokratischen Strukturen vorherrschend und später im Positivismus, im Nationalstaat ist sie immer noch vorherrschend. Sie sollen sich dort entscheiden, ich entscheide mich hier, die anderen woanders, auf diese Weise regeln wir die Angelegenheit gemeinsam." (Kurdistan-Report, Nr. 145, 2009, S.6)

Klingt dies nicht geradezu wie ein Aufruf, um die berechtigten und international geforderten Rechte der Kurden zivilgesellschaftlich zu kämpfen?!

Weitreichende Impulse zur Demokratisierung der Gesellschaft der Türkei würden möglich, die der ganzen Gesellschaft zugute kämen. Freilich sollte sich kaum jemand Illusionen über die Schwierigkeiten und Dauer eines solchen zivilgesellschaftlichen und demokratischen Prozesses von Aussöhnungspolitik machen. Nach wie vor gibt es starke Kräfte, die eine Politik der Aussöhnung verhindern möchten. Nicht nur die türkische Generalität, nicht nur die alten nationalistischen Kräfte, die in vielen Institutionen noch immer eine wichtige Rolle spielen, Terroristen in vielen Lagern, die ihre je spezielle bisherige Legitimationsbasis bedroht sehen - diese vielfältige Gesellschaft enthält eine Fülle sektiererischer Ansätze, die möglicherweise ihre je besonderen Ziele gewaltsam anstreben und das Ruder zurück reißen wollen.

Für das Durchhalten selbst bei schwerwiegenden Provokationen gibt es eine wesentliche, doch ungewohnte Konstellation. Die USA, die Führungsmacht der NATO, sind aus Gründen, die mit ihrer Irak-Politik zusammen hängen, an einer Lösung der Kurdenfrage interessiert. Das setzt dem türkischen Militär Grenzen und auch den anderen NATO-Mitgliedern, die bisher friedenspolitisch meist eine negative Rolle in der Türkei gespielt haben. Die deutsche Verfolgungspolitik mit ihrem unqualifizierten Terrorismusvorwurf gegenüber der kurdischen Seite darf da nicht verschwiegen werden.

Eine Politik der Aussöhnung ist grundsätzlich in die Zukunft gerichtet. Sie darf sich nicht in gegenseitiger Aufrechnung vergangener Verbrechen fest fahren.

Wie verbissen würden dann die Schuldvorwürfe, Verleumdungen und Leugnungen gegeneinander getürmt werden? Man erinnere sich an die Armenier-Genocid-Auseinandersetzung! Steigerung der Feindseligkeit und sektiererische Ausschreitungen wären die Folge. Das blockierte Vertrauensbildung und Kooperationsbereitschaft. Insofern können auch nicht Tribunale aus anderen Ländern und anderen historischen Zusammenhängen als Vorbilder übernommen werden.

Sehr gefährlich wäre auch, wenn nun Lösungsschritte zu kleinlich und zu zögerlich ausfallen, wenn faule Kompromisse an Stelle einer Politik der Aussöhnung und des Neuanfangs treten. Gefährlich ist aber auch, wenn die Forderungen von kurdischer Seite so weit gehen, daß in der Mehrheitsgesellschaft mit ihrer bald 100 Jahre alten nationalistisch-türkischen Sozialisation wieder Ängste vor Separatismus aufkommen, so dass sie nicht bereit ist, über sie den Dialog aufzunehmen. Angesichts dieser Vergangenheit wird Umdenken ohnehin schwer genug sein. Augenmaß ist gefragt!

Es müssen eigenständige Wege erprobt und gegangen werden. Ihre wichtigsten Zielmarken sind die Bildung von Vertrauen und vor allem die gemeinsame Herstellung von Gerechtigkeit. Dies ist auf allen Ebenen der Gesellschaft, also von Dorf , Stadt, Region bis zum Gesamtstaat, breit zu erörtern. Was ist Gerechtigkeit? Angesichts des autoritären Überhangs und der demokratischen Defizite der Türkei werden dadurch auch viele Interessen und Fragen berührt werden, die nicht unmittelbar mit der kurdischen Frage zusammenhängen und das ist gut so! Wird doch dadurch die gesamte Gesellschaft in einen großen Dialog über ihre Zukunft gezogen. Dieser "große gesellschaftliche Dialog" muß nicht auf die offensichtlich mühsamen Entscheidungen der türkischen Regierungsinstitutionen warten. Er kann gleich beginnen. Ich sehe wichtige Ansätze in der gegenwärtigen Mobilisierung auf vielen Demonstrationen, die sich in dieser neuen Richtung entwickeln könnten.

Jenseits der Aspekte von Integrationspolitik von kurdisch stämmigen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland halte ich es für die kurdische Community in Deutschland für eine große Aufgabe, diesen hier vertretenen "Großen Dialog" auch nach Deutschland zu übertragen, und zwar im zweifachen Sinne:

Erstens, indem an die deutschen Institutionen bis hin zur Bundesregierung ein Katalog von Bitten und Vorschlägen heran getragen wird, wie diese denn den Prozess der Lösung der Kurdenfrage in der Türkei von außen friedenspolitisch unterstützen könnten. Der Katalog müßte öffentlich bekannt gemacht und erläutert werden. Viele Veranstaltungen könnten dazu dienen.

Zweitens geht es darum, nun da das Tabu der Kurdenfrage gefallen ist, auch die türkisch-stämmige Community in den "Großen Dialog" einzubeziehen. Auch das könnte viele Basisaktivitäten bewirken, weil viele Dialoge lokal, auch in kleinen Gruppierungen erforderlich sein werden, ehe die größeren türkisch-stämmigen Gruppierungen erreichbar sein werden.

Es scheint, als habe sich endlich das "Fenster der Möglichkeiten" geöffnet, diesen fürchterlichen und sinnlosen Konflikt des türkischen Nationalstaates gegen seine kurdischen Mitbürger friedlich beizulegen und die nationalistische Politik der Zwangsassimilierung zu überwinden. Gelänge dies, so wäre dies eine ungeheure Bereicherung für alle Menschen in der Türkei, ob der Herkunft nach Türken, Kurden, Armenier, religiöse Minderheiten. Eine Win-Win-Situation für die ganze Türkei, die ihre reichen Möglichkeiten nun endlich entfalten könnte und sich nicht im Bruderkrieg um veraltete Ideologien zerfleddern müßte. Dieses "Fenster der Möglichkeiten" darf nicht wieder zuschlagen und den Kurs auf die Lösung der Kurdenfrage erneut auf Jahre verstellen. In dieser Situation müssen alle auf eine friedliche, zivile und demokratische Lösungen bedachten Kräfte über alle sonstigen Differenzen hinweg zusammenstehen. Ich wünsche dies möge gelingen!


Adresse von Andreas Buro an die Konferenz
"KurdInnen in Deutschland: Geschichte, Gegenwart, Perspektiven"
am 9.9.2009 im Abgeordnetenhaus Berlin


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 9/2009
Dialog-Kreis
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2009