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NAHOST/666: Debatte über Demokratie - Israel will Neubürger auf Zionismus einschwören (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 26. Juli 2010

Nahost: Debatte über Demokratie - Israel will Neubürger auf Zionismus einschwören

Von Jerrold Kessel and Pierre Klochendler


Jerusalem, 26. Juli (IPS) - Israelis bezeichnen ihr Land gern als "einzige Demokratie im Nahen Osten". Spätestens seit der Besetzung von Westjordanland und Gazastreifen und der gewaltsamen Unterdrückung der Palästinenser stößt diese Auffassung jedoch international auf zunehmende Skepsis. Auch im Land selbst sehen Liberale und Linke mittlerweile die Demokratie bedroht. Vor allem drei Gesetzesvorhaben schüren ihre Furcht.

Die konservative Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will in Kürze ein überarbeitetes Einwanderungsgesetz vorlegen. Neue Bürger müssen demnach nicht mehr nur dem Staat Israel Loyalität schwören, sondern sich auch zu einem "jüdischen und demokratischen" Staat bekennen.

"Die Zusätze sollen wohl die israelische Gesellschaft sprengen", kommentierte die liberale Tageszeitung 'Haaretz' in einem Leitartikel. "Genau wie eine Reihe anderer verabschiedeter Maßnahmen riecht das nach einem Versuch, die Bürgerrechte israelischer Araber zu untergraben und damit eine gewaltsame Konfrontation zwischen dem Staat und seinen arabischen Bürgern zu provozieren."

Ein Sprecher der Organisation 'Adalah', die sich dem Schutz der arabischen Minderheitsrechte in Israel widmet, meldete ebenfalls Protest an: "Eine derartige Erklärung hat weit reichende Konsequenzen, weil sie alle Nicht-Juden zwingt, sich mit dem Zionismus als politischer Ideologie zu identifizieren."


Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen behindern

Bereits Ende Juni hatten 25 Knesset-Abgeordnete eine Vorlage eingebracht, die darauf abzielt, jegliche Organisationen zu verbieten, die "im Rahmen von Ermittlungen wegen des Verdachts von Kriegsverbrechen gegen ranghohe Mitglieder der israelischen Regierung oder Offiziere der Streitkräfte Informationen ans Ausland liefern oder an der Strafverfolgung beteiligt sind".

Ishai Menuchin, Vorsitzender des Öffentlichen Komitees gegen Folter in Israel, spricht in diesem Zusammenhang von einem "Angriff auf die Demokratie". "Sollte das Gesetz durchkommen, würde es die Unterdrückung von Informationen über die Anordnung derartiger Verbrechen legalisieren", sagte er. "Die Vorlage hat schwerwiegende Folgen im Hinblick auf den Rechtsstaat und die Verantwortlichkeit Israels für Verbrechen gemäß internationalem Recht."

"Demokratie bedeutet wesentlich mehr als nur eine Herrschaft der Mehrheit", betont Menuchin. "Wenn Israel wirklich demokratisch sein will, braucht es zivilgesellschaftliche Organisationen, die die Regierung und die Gesetzgebung in den Medien ebenso wie vor Gericht und bei öffentlichen Aktionen hinterfragen."


Kampf den Boykottaufrufen

Eine dritte Gesetzesvorlage könnte noch schwerwiegendere Auswirkungen auf die Demokratie in Israel haben, da sie die Bürger daran hindern will, mit politischen Mitteln gegen undemokratische Vorgänge vorzugehen. Sie passierte am 21. Juli die erste Lesung im Parlament.

Das Gesetz würde es unter Strafe stellen, zum Boykott eines israelischen Bürgers oder einer Körperschaft aufzurufen, sei es in Israel oder in den besetzten Gebieten. Darauf soll eine Geldstrafe von umgerechnet 8.000 US-Dollar stehen.

Der ehemalige Haaretz-Chefredakteur David Landau ruft genau zu solch einem Boykott auf. "Ich fordere alle Parlamente in der demokratischen Welt und alle interparlamentarischen Foren auf, das israelische Parlament zu boykottieren, das einmal der Stolz des jüdischen Volkes war. Und zwar so lange, bis es das Gesetz ablehnt und zu seinem demokratischen Erbe zurückfindet."

"Ich möchte mir folgende Fußnote in der jüdischen Geschichte verdienen: 'Er versuchte, sich gegen die Welle des Faschismus zu stemmen, die das zionistische Projekt überflutete.'", schrieb Landau. "Dafür bin bereit zu zahlen." Die große Mehrheit der Israelis betrachtet das Anti-Boykott-Gesetz jedoch als gerechtfertigt. Viele im Land beobachten mit Sorge die wiederholten Boykottaufrufe gegen Produkte aus den jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und gegen dortige Universitäten, vor allem wenn diese enge Verbindungen zu den Siedlern unterhalten.

Landau versteht die Gesetzesvorlage allerdings nicht als reine Reaktion auf Israels internationale Probleme. Er begründet seine Forderung nach einem Boykott der Knesset mit einer "verzweifelten Lage" im Inneren.

"Unsere Demokratie ist tatsächlich in Gefahr", sagt er. "Ein Boykottaufruf gegen die Knesset könnte aus dieser selbstgefälligen und schädlichen Propaganda von Israel als der 'einzigen Demokratie im Nahen Osten' die Luft herauslassen."

Erst in der vergangenen Woche ließ sich ein Netanjahu nahe stehender Knesset-Abgeordneter zu einem Ausbruch hinreißen, der das Recht aller Nicht-Juden auf politische Partizipation in Israel in Frage stellt. "Keine Sorge, wir kümmern uns später um ihre Anwesenheit in der Knesset", schleuderte Ofir Akunis dem arabischen Delegierten Ahmad Tibi während einer Debatte entgegen.

Tibi sitzt weiter in der Knesset. Wie Landau anmerkt, haben dagegen "vier Millionen Palästinenser unter israelischer Besatzung keinerlei politische Rechte". Wie die im Verschwinden begriffene Friedensbewegung in Israel schon vor Jahrzehnten vorhersagte, untergräbt die Besatzung die Demokratie in Israel selbst." (Ende/IPS/sv/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2010