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NAHOST/715: Die "Geographie" der Opposition - Utopie oder klassenbewusster Kommunitarismus? (inamo)


inamo Heft 63 - Berichte & Analysen - Herbst 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die 'Geographie' der Opposition
Utopia oder klassenbewusster Kommunitarismus?

Von Arshin Adib-Moghaddam


Welche analytischen Kategorien können uns helfen, die wiederholten Widerstandsaktionen gegen den Staat im Iran zu erklären? Einige Wissenschaftler und Analysten verweisen auf den demographischen Wandel in der iranischen Gesellschaft als die treibende Kraft der Reformbewegung. "Jugend" wird hier als ein Katalysator für politischen Wandel angesehen, da angenommen wird, dass zwei Drittel der iranischen Bevölkerung jünger als 35 Jahre sind.


Die ikonographische und symbolische Darstellung der iranischen Reformbewegung v. a. in seiner aktuellen Form in den Mainstream-Medien in Westeuropa und Nordamerika unterstützt die Sichtweise des demographischen Wandels in der iranischen Gesellschaft als die treibende Kraft der Reformbewegung. Die "Grüne Bewegung", die jüngste Reinkarnation eines kollektiven Willens nach Reformen in der Islamischen Republik, wird als besonders "jugendlich" und angesichts der vielen Titelseiten, die junge iranische Frauen bei den Demonstration nach der umstrittenen Wiederwahl des Präsidenten Mahmud Ahmadinejad in vorderste Reihe zeigen, auch als besonders "feminin" dargestellt. Wiederholte Hinweise auf die netzwerkartige Struktur der Bewegung und die geschickte Nutzung des Internets durch junge iranische Männer und Frauen, die ihre Botschaften über Twitter und Facebook verbreiten und über Blogs der Enge der Islamischen Republik entkommen können, begleiten diese Darstellung der "Jugendlichkeit" der Grünen Bewegung. Dass die Mitglieder der Basij-Miliz auch "jung" sind, stört diese Darstellung nur insofern, als dass diese als irrationale Rowdys und Hüter des Establishments dargestellt werden, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Wenn die Grüne Bewegung mit den verführerischen Lolitas gleichgesetzt wird, die ihren "Lippenstift-Jihad" führen, wie der Titel eines Bestsellers dies suggeriert, dann sind die Basiji eine kopflose pubertäre Schlägertruppe, eine Freiwilligentruppe ohne eigene Agenda. Aber all diese Darstellungen haben wenig mit der Realität vor Ort gemein. Die schlichte Tatsache, dass die Basij-Miliz Millionen von Mitgliedern hat, die jünger als 35 Jahre sind und dass die Miliz auch soziale Dienste unterhält, die von Schülern und Studenten an jeder Schule und Universität des Landes getragen werden, zeigt, dass das demographische Argument allein nichts erklärt.(1)

Den Widerstand gegen den Staat im Iran einer bestimmten intellektuellen Avantgarde oder einer unterprivilegierten sozialen Klasse, die um Emanzipation kämpft, zuzuschreiben, ist ebenso problematisch. Das soziologische Profil der gegenwärtigen Führungsriege der Islamischen Republik ist ein ebenso eklektischer Mix - rekrutiert vorwiegend aus der vor der Revolution von 1979 wirtschaftlich benachteiligten Gesellschaftsschicht - wie die Herkunft der Reformer oder der "Grünen Bewegung". Wenn überhaupt, dann profitierten die Anhänger von Präsident Ahmadinejad von der allgegenwärtigen Unzufriedenheit mit der neo-liberalen Politik während der Wiederaufbauphase unter Präsident Ayatollah Ali-Akbar Hashemi-Rafsanjani (1989-1997), die unter der Präsidentschaft von Mohammad Khatami (1997-2005) fortgesetzt wurde. Dies war zu Beginn ihres Aufstiegs ab 2001 mit Sicherheit der Fall, als die bis dahin unbekannte "Koalition der Erbauer des Islamischen Iran" (etalaf-e abadgaran-e Iran-e eslami) die Mehrheit im Stadtrat von Teheran errang. Mehrere Interviews während einer ausgedehnten Forschungsreise in den Iran während der Präsidentschaftswahlen von 2005 machten deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der von mir befragten Iraner sich für Präsident Ahmadinejad und gegen den früheren Präsidenten Rafsanjani eben deswegen entschieden, weil ersterer als bescheiden, bodenständig und volksnäher galt. Sein populistisches Wahlprogramm, das durch aufgezeichnete Botschaften über Lautsprecher v. a. in den Arbeiterwohnvierteln Teherans verbreitet wurde, verstärkte dieses Bild. Ahmadinejad trat im Wahlkampf als Unterstützer der Umverteilung von Reichtum, der Stärkung der unteren Einkommensschichten und einer umfassenden Kampagne gegen Korruption und Vetternwirtschaft auf. Während der Kandidat der Reformbewegung, Mostafa Moin, auf den ein enttäuschend geringer Anteil der Wählerstimmen entfiel und der nach der ersten Auszählung nur auf Rang vier kam, zu Studenten an Universitäten und auf Kulturveranstaltungen sprach, reiste Ahmadinejad in die Provinzen und sozial benachteiligten Regionen der Hauptstadt. Der Fokus auf wirtschaftliche Gerechtigkeit und die verfolgte Wahlstrategie waren 2005 zweifelsohne ein Erfolgsrezept. Trotz des anhaltenden Missmanagements und der umfassenden Fehlleistungen der Regierung Ahmadinejads v. a. auf wirtschaftlichem Gebiet und trotz der Gelegenheit, die Massendemonstrationen nach den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr mit einem Generalstreik zu unterstützen, streiken zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Tat nicht die Arbeiter, sondern die merkantile Bourgeoisie, die einflussreichen Bazaaris. Sie streiken nicht, derzeit sporadisch, um die Grüne Bewegung zu unterstützen, sondern gegen die von der Regierung Ahmadinejad vorgesehene Besteuerung ihrer Profite. Man muss daher Mohammad Maljoo zustimmen, wenn er argumentiert, dass es falsch sei anzunehmen, dass die Arbeiter "trotz ihrer beispiellosen Unzufriedenheit mit dem Establishment zwangsläufig mit den Grünen ein Bündnis eingehen wollen." (siehe Seiten 14-17 in diesem Heft)


Die Tabak-Revolte 1891 und die Folgen

Wie lässt sich Opposition im Iran also erklären? Wer trägt die Oppositionsbewegung? Nach meiner Ansicht gibt es mehr historisch fundierte Gründe, die den "kollektiven Willen" zum Protest im Iran bedingen. Anders als die bisher diskutierten demographischen oder soziologischen Faktoren sind dies eher strukturelle Faktoren, die helfen, die ideellen Grundsätze der politischen Kultur des Landes, die zahlreichen Institutionen, Normen und Diskurse, die die Vorstellungswelt des politischen Subjekts im Iran durchdringen, zu verstehen.

Unter Iran-Experten gilt die Tabak-Revolte von 1891 als Geburtsstunde eines emanzipatorischen Diskurses im Iran, der die Notwendigkeit des Widerstandes gegen die Willkür des Staates wie auch gegen Einmischung in iranische Angelegenheiten von außen betont. 1891 kamen zum ersten Mal in der jüngsten iranischen Geschichte unterschiedliche Gesellschaftsschichten zusammen, um vom Staat umfassende politische Zugeständnisse einzufordern und schließlich auch zu erreichen. Der Monarch Nasser al-Din Shah aus der Dynastie der Qadscharen hatte Major Talbot, einem britischen Staatsbürger, ein exklusives Monopol für den Verkauf und Export von Tabak verliehen. Aufgrund eines landesweiten Boykotts von Tabakprodukten, ausgelöst von einer Fatwa (Rechtsgutachten) von Großayatollah Schirazi, musste der Schah die Konzession widerrufen.

Die Tabak-Revolte war ein bedeutendes Ereignis in der jüngsten iranischen Geschichte, gerade weil Mitglieder der Ulema (muslimische Geistliche), Anhänger der islamischen Wiedererweckung und Nationalisten einen öffentlichen Raum für politische Handlungsfelder schufen, der klar von der formalen Macht der Monarchie abgegrenzt war. Während der Tabak-Revolte verband sich die Fatwa Schirazis mit den anti-imperialistischen Flugblättern von Jamal-al-din Afghani und den Reden und geheimen Memoranden nationalistischer Offiziere, die zum Widerstand gegen jegliche wirtschaftliche Konzessionen aufriefen, die fremden Einfluss im Iran mit sich bringen würden. Gleichsam wurden Moscheen mehr und mehr zu Orten des politischen Aktivismus und Widerstands und boten Demonstranten Zuflucht. Moscheen fungierten nicht nur als Orte des Gebets und sozialer Aktivitäten. Vielmehr wurden sie zunehmend zu Orten der Verbreitung massenideologischer Ideen. Zum ersten Mal in der jüngsten iranischen Geschichte verfügten verschiedene Gesellschaftsschichten über eine nationale "Mikrogeographic" zur Organisation ihres Protestes wie auch über die strukturelle (religiöse und nichtreligiöse) Legitimation dafür.

Die politische Kultur, die die Verfassungsbewegung von 1906 hervorbrachte, profitierte von der wiederhergestellten Dialektik zwischen Staat und Gesellschaft, die die Tabak-Revolte etabliert hatte. Zum zweiten Mal Inder jüngsten iranischen Geschichte verfügte das politische Subjekt über außerordentlich facettenreiche institutionelle und diskursive Möglichkeiten, eine radikale oppositionelle Agenda publik zu machen und zum zweiten Mal musste der Staat bei einigen Forderungen der Bevölkerung Zugeständnisse machen. In Folge der Revolte vom 5. August 1906 musste Muzaffar al-Din Schah, der fünfte Herrscher aus der Dynastie der Qadscharen, landesweiten Wahlen zustimmen. Gemäß der neuen Verfassung musste der Schah seinen Amtseid vor der neu etablierten Nationalversammlung ablegen, er hatte sowohl die von der Nationalversammlung vorgeschlagenen Minister und Amtsträger und die von ihren gewählten Mitgliedern verabschiedeten Gesetze zu akzeptieren. Gleichzeitig sah die neue Verfassung den Schah als Regierungschef und Oberkommandierenden vor, außerdem sollte er umfangreiche legislative und exekutive Befugnisse behalten. Die majles-e melli (Nationalversammlung) war geboren und mit ihr der Diskurs von Demokratie und Republikanismus. Der Monarch blieb jedoch nicht nur eine bedeutende Institution des politischen Systems im Übergang.


"Von nun an verließ Gott den Palast und wanderte zurück in die Gebetsräume der Moschee"

1907 wurde der Iran in eine russische und britische "Einflusssphäre" geteilt und das Land versank bis zum Staatsstreich von Reza Schah am 21. Februar 1921 in einem regelrechten Bürgerkrieg. Damit wurde die Pahlavi-Dynastie (per Parlamentsbeschluss 1925, Anm. d. Übers.) errichtet und die Autorität der absoluten Monarchie wiederhergestellt, diesmal nicht mit Bezug auf Gott, sondern mit Bezug auf eine neue, modernistische Mythologie auf Grundlage der Parole der "Iranität", die gleichsam zum Kern politischer Auseinandersetzungen wurde.

Dieses neue Moment in der iranischen Gesellschaft bedeutete eine Ausweitung der politischen Landschaft. Diese Ausweitung kann an zwei voneinander abhängigen Faktoren abgelesen werden: erstens der Entwicklung und Neubildung eines gänzlich neuen Vokabulars des politischen Diskurses: Begriffe für das neue Phänomen der "Massen" wie tudeh und khalgh, geprägt von der iranischen Linken; Begriffe zur Beschreibung der Konzepte Demokratie und Konstitutionalismus sowie der Anforderungen des Nationalstaates wie jomhuri (Republik), mashrute (verfassungsmäßig), melliyat (Nationalität), demokrasi (Demokratie) und vatan (Heimatland); Begriffe, die die gerade erst etablierte politische Öffentlichkeit und den sich darin vollziehenden Parteienwettstreit spezifizierten, wie chab (links), rast (rechts), melli-gera (nationalistisch) oder sosialist (sozialistisch); und Begriffe, die einen Bedeutungswandeln erfuhren, um einen radikalen islamischen Diskurs zu formen, der sich von der quietistischen Tradition der orthodoxen schiitischen Geistlichen abwenden sollte. Es ist dieser letzte Bereich, auf den der Ayatollah seine (bisher hat es noch keine Frau in diesem Amt gegeben) Autorität gründet. Von diesem Zeitpunkt an wurden die führenden oppositionellen mujtahids (Rechtsgelehrte), die sich den Forderungen des Volkes anschlossen, als Ayat Allah, Zeichen Gottes, bezeichnet, was einer diskursiven Infragestellung der religiösen Autorität des Schah gleichkam, der traditionell als ill-Allah, Schatten Gottes, und manchmal auch als Ayatollah bezeichnet wurde. Auf diese Weise schuf die Dialektik der Verfassungsbewegung einen wichtigen Grundpfeiler der islamisierten Revolution von 1979. Da die Konstitutionalisten im Namen der Gleichheit betonten, dass keine aristokratischen oder religiösen Titel mehr gebraucht werden sollten, wandelte sich der Ayatollah in einen ausschließlich geistlichen Idealtypus. Es ist zutreffend, wie Fakhreddin Azimi jüngst argumentierte, dass die "verfassungsrechtliche Entmystifizierung der Monarchie bedeutete, dass die Schahs nicht länger für sich in Anspruch nehmen konnten, die Schatten Gottes auf Erden zu sein und damit Anrecht auf ihre ererbte Macht zu haben."(2) Aber es ist gleichermaßen zutreffend zu argumentieren, dass Gott nun einen anderen Schatten warf: Von nun an verließ Gott den Palast und wanderte zurück in die Gebetsräume der Moschee. Hier vergöttlichte er/sie zunehmend, was von einer wachsenden Mehrheit von Iranern und generell von schiitischen Muslimen als ultimative Form politischer Autorität angesehen wurde.


Neue Bildungseinrichtungen

Zweitens wurde dieser politische Diskurs nun professionell von einer Reihe neuer institutioneller Idealtypen verbreitet: Bildungseinrichtungen wie das Dar al-Fonun, das unter dem Patronat von Amir Kabir 1851 eröffnet und 1935 zur Universität von Teheran wurde. Das Dar al-Fonun, dessen Lehrkörper unter den Qadscharen überwiegend mit europäischen Akademikern besetzt war, förderte die Übersetzung der einflussreichsten europäischen Werke auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften und Literatur, einschließlich derer Darwins, Voltaires, Dumas', Fénelons, Descartes' und Vernes - ein ganz neuer Fundus von Werken, die den iranischen Diskurs der Intellektuellen mit der europäischen Moderne in Verbindung brachte, wurde zu dieser Zeit geschaffen. Jedoch weit davon entfernt, die einheimische Bevölkerung aus der Politikmüdigkeit zu bringen, rief die europäische Präsenz im Zusammenspiel mit dem neu formulierten iranischen Narrativ eine eigene einheimische Form von Widerstand hervor. Verschiedene politische Organisationen, eine ganze Reihe von anjumans (Versammlungen) auf der Grundlage "sub-nationaler" (Armenier, Azeris, Lurs, Kurden usw.) oder religiöser Zugehörigkeiten (muslimisch, zoroastrisch, jüdisch, christlich, bahaiistisch) institutionalisierten ihre politischen Programme und verbreiteten diese mittels einer aufkeimenden Lokalpresse und Publikationen wie Asr-e now (Neue Zeit), Esteghlal (Unabhängigkeit), Eghbal (Fortschritt) oder Sur-e Israfil (Raphaels Trompete), letztere überwiegend verfasst von dem berühmten Lexikographen Ali-Akbar Dehkhoda. Ein zweiter und umstrittenerer Faktor muss hier zusätzlich erwähnt werden, und zwar die Rolle institutionalisierter "islamischer" Diskurse im radikalen politischen Klima dieser Zeit. Wie Hamid Enayat betont: "Die religiös-politischen Traktate jener Zeit deuten auf eine Haltung hin, die trotz einer Rückkehr zum Kompromiss der safawidischen Zeit gleichzeitig darauf bedacht ist zu verhindern, dass die Monarchie in Despotismus und Korruption abgleitet."(3) Zur Begründung dieser Einschätzung, verweist Enayat auf die Schriften von Mullah Muhammad Kazim Khorasani und Mohammad Hussein Naini und auf die Entstehung einer "prä-konstitutionellen Mentalität" in den wichtigsten Lehrmeinungen der usuli-Schule des schiitischen Islam, die die Notwendigkeit von ijtihad ("Bemühung", Verfahren zur Rechtsfindung durch eine unabhängige Interpretation der beiden Rechtsquellen Koran und Sunna) und kritischem Denken betont, die seit dem Wirken von Mohammad Baqir Wahid Behbehani (1704-1791) in der schiitischen Rechtslehre zunehmend an Einfluss gewonnen hatte.(4) Der Diskurs der usuli-Schule stattete kritische Mitglieder der Ulema mit den entscheidenden Mitteln dafür aus, die verfassungsrechtlichen Forderungen nach demokratischer Gesetzgebung und öffentlicher Rechenschaftspflicht des Staates vor und nach der Verfassungsrevolution aufzufangen und voranzutreiben.


Opposition gegen die Herrschaft des Schah

An den Entwicklungen seit mindestens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sieh also eine beständige Zunahme und Vernetzung der institutionellen und individuellen Glieder des politischen Diskurses im Iran beobachten. Das politische Subjekt, zunehmend radikal in seinen Forderungen, wurde mit einer gänzlich neuen "Geographie" für sein Agieren gegen den Staat ausgestattet. Angeregt vom leidenschaftlichen Nationalismus und Konstitutionalismus dieser Zeit erhoben sieh viele Stimmen, von Männern und Frauen, und verurteilten Irans Unterwürfigkeit gegenüber Kolonialmächten und die Außerkraftsetzung der Verfassung von 1906 durch die Pahlavis. Ab Ende der 1940er wurde Mohammed Reza Schah zum Ziel dieses Protestes, der 1941 den Pfauenthron bestieg, nachdem sein Vater Reza Khan von den Briten unter dem Vorwand ins Exil getrieben worden war, er hätte mit Nazi-Deutschland paktieren wollen.

Die wichtigste treibende Kraft der Opposition gegen die Herrschaft des Schah in der Zeit von 1949 bis 1953 war nicht nur Mohammad Mossadegh, der in der Schweiz ausgebildete "Aristokrat", der als großer und fast prototypischer Nationalist starb. Das politische Subjekt hatte Zugang zu sozialistischen, marxistisch-leninistischen, sozialdemokratischen, "islamischen" und nationalistischen Diskursen: Gruppen, die Gewalt als politische Strategie befürworteten, wie die Fedayan-e Islam (Anhänger des Islam), die für eine Reihe von terroristischen Anschlägen in Teheran und darüber hinaus verantwortlich waren; die kommunistische Tudeh-Partei, die 1941 gegründet und in den späten 1940ern aufgrund des zwingenden Drucks und finanzieller Anreize des Stalinismus zunehmend pro-sowjetischer wurde; Geistliche wie Ayatollah Seyyed Abol-Qassem Kashani, der nationalistische Ziele unterstützte; und an der Spitze Mohammad Mossadegh und seine Partei der Nationalen Front (Jebhe-Melli). Mossadegh gelang es, die herrschende Stimmung für radikale Aktionen in eine Volksbewegung zu kanalisieren, die 1951 die Nationalisierung der Anglo-Iranian Oil Company herbeiführen würde, bevor er zwei Jahre später durch einen MI6/CIA-gesteuerten Staatsstreich aus dem Amt getrieben wurde, der die Diktatur des Schah wiederherstellte.


Erschütterungen der Revolution und die aktuelle politische Landschaft

Die ideologischen Versatzstücke und politischen Erschütterungen der politischen Landschaft des Iran der damaligen Zeit trugen zur islamisierten Revolution von 1978-79 bei. Eine umfassende Analyse geht natürlich über den Rahmen dieses kurzen Artikels hinaus. Zur Illustration unserer "geographischen Skizze" der politischen Opposition im Iran sei hier lediglich angemerkt, dass die Revolution einen wichtigen Faktor im Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft hervorbrachte: die revolutionäre Libido, die vom Staat aufgefangen und an die Bevölkerung weitergeleitet wurde, schuf eben jene sozialen und politischen Bedingungen, die heute das Wiederaufleben radikaler oppositioneller Politik ermöglichen. Einerseits gewährte die Revolution aus politischer Sicht den Iranern das absolute Recht, sich zu erheben und Autorität in Frage zu stellen, eben weil die von Khomeini vertretene Unterdrückte-Unterdrücker-Dialektik die Bedingungen für eine anhaltende Hinterfragung des Staates anregt und schafft. Andererseits weiteten sozialpolitische Maßnahmen wie die umfassende Alphabetisierungskampagne unmittelbar nach der Revolution und der massive Ausbau der Hochschulbildung das, was ich die Geographie der politischen Opposition im Iran genannt habe, weiter aus. Ein wichtiger Grund dafür, dass Frauenrechtlerinnen an der Spitze des politischen Protestes stehen, ist ihre zentrale Rolle in der hoch gebildeten Mittelschicht des Iran. Es ist dieses "pluralistische Moment" - diffus, vereinzelt, eklektisch und doch voll politisch wirkmächtig -, das sowohl das Ergebnis wie auch die Arena für Irans aufkeimende Zivilgesellschaft und der von ihr erzeugten radikal demokratischen Politik ist. Als Folge davon gibt es im Iran keinen allumfassenden Machtkonsens.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ausdifferenzierung der politischen Landschaft in verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen die Fähigkeit jedes Machtzentrums im Land verringert, eine Politik des Einvernehmens zu betreiben. Einerseits deuten die andauernden Spannungen zwischen dem iranischen Parlament, das von "alten" Konservativen dominiert wird, und dem Büro von Präsident Ahmadinejad darauf hin, dass der Kurs der gegenwärtigen Regierung und ihrer Anhänger nicht nur von den Reformern, sondern auch von Konservativen wie Ali Larijani und dem ehemaligen Kommandanten der Revolutionsgarden Mohsen Rezai weitgehend abgelehnt wird. Nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Proteste aus Anlass der umstrittenen Wiederwahl von Ahmadinejad im letzten Sommer und seiner offenen Unterstützung für den Präsidenten ist auch der Oberste Führer, nominell die höchste politische Autorität im Iran, unter Druck geraten. So hat zum Beispiel Ayatollah Sane'i, der von Ayatollah Montazeri die Rolle als wichtigster Unterstützer des politischen Wandels übernommen hat, zwar bisher von allzu offener Kritik an Ayatollah Khamenei abgesehen, seine Unterstützung für die Reformer ist jedoch umso deutlicher. Dieser Umstand ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil Sane'i als wichtige "Quelle der Nachahmung" (marja-e taghlid, höchster geistlicher Rang im schiitischen Islam) im geistlichen Zentrum Qom angesehen wird.

Andererseits ist die sogenannte Grüne Bewegung das jüngste Produkt der politischen und sozioökonomischen Forderungen einflussreicher Gesellschaftsschichten im Iran, die von einer ganzen Reihe von Frauenrechtlerinnen, Intellektuellen, Akademikern, Künstlern, Arbeitern und Fachleuten vertreten werden. Damit ist diese Bewegung eine Reinkarnation der Bewegung des "Zweiten Khordad", benannt nach dem Datum der Wahl des ehemaligen Präsidenten Khatami 1997. Sie muss auch als die jüngste Größe in der sich beständig erweiternden politischen Landschaft des Iran angesehen werden. Die Richtung dieser Ausweitung ist hier beschrieben worden; sie bewegt sich, wie ich versuchte zu zeigen, von unten nach oben, d.h. ausgehend von den Institutionen und individuellem Engagement des politischen Subjekts im Iran wirkt sie auf Bereiche, die vom Staat beansprucht werden. Hierbei handelt es sich um nichts anderes als den sich ausweitenden Handlungsraum der aktuellen Oppositionsbewegung im Iran.


Arshin Adib-Moghaddam is University Lecturer in Comparative and International Politics at the Department of Politics and International Studies, School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London. Aus dem Englischen von Anja Zückmantel.


Anmerkungen

1) Einige Einstellungen der Mitgliederder Organisation kommen prägnant in dem Film "Basiji" des iranischen, in Paris lebenden Filmemachers Mehran Tamadon zur Sprache. vgl. http://www.bassidjimovie.com

2) Fakhreddin Azimi, The quest for democracy in Iran: A century of struggle against authoritarian rule (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2008), 3.

3) Hamid Enayat, Modern Islamic political thought: the response of the Shi'i and the Sunni Muslims to the Twentieth Century (London: Macmillan, 1982), 174

4) Ebd., S. 167.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 63, Herbst 2010

Gastkommentar
- Der Gerechte hält Einrede, von Esther Dischereit

Iran
Nach dem Protest ist vor dem Protest, von Bahman Nirumand
In Erwartung des Mahdi ... Machtspiele und Selbstzerstörungstendenzen im fundamentalistischen Lager, von Asghar Schirazi
Die 'Grüne Bewegung' wartet auf die unsichtbare Hand, von Mohammad Maljoo
Die "Geographie" der Opposition - Utopia oder klassenbewusster Kommunitarismus? von Arshin Adib-Moghaddam
Wahlverwandtschaften zwischen der Frauenrechtsbewegung und der 'Grünen Bewegung', von Elham Gheytanchi
Ethnischer Nationalismus und Grüne Bewegung, von Asghar Schirazi
Das große Scheitern: Nationalökonomie der Islamischen Republik, von Fereydoon Khavand
Sanktionsregime gegen den Iran: Entstehung und Auswirkungen, von Ali Fathollah-Nejad

Afghanistan
- Beobachtungen in Afghanistan, von Matin Baraki
- Warum WikiLeaks den Krieg nicht stoppen wird, von Noam Chomsky

Libanon
Hizbullahs Disneyland?
Die Tourismuspolitik der Hizbullah, von Manuel Samir Sakmani und Manja Riebe

Palästina/Israel
Überfall auf die Free Gaza Flottille, Völkerrechtliches Gutachten, von Norman Paech
Palästina neu erfinden: Das Friedenskino von Jenin, von Irit Neidhardt

Afrika
- "Land Grabbing" in Afrika, von John Vidal

Wirtschaftskommentar
- Hawala und anderer Bargeldtransfer, von Mathew Rosenberg

Zeitensprung
- Juli bis September 2006 in Gaza, von Norbert Mattes

Ex Mediis
Tahar Ben Jelloun: Zurückkehren, von Barbara Dietrich
Paul-Éric Blanrue: Sarkozy, Israel et les Juifs /
Régis Debray: Á un ami israélien, avec une réponse d'Élie Barnavi, von Malcolm Sylvers
Lamya Kaddor: Muslimisch - weiblich - deutsch
Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam, von Birgit Rommelspacher

www.inamo.de//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 63, Jahrgang 16, Herbst 2010, Seite 18 - 21
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2010