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NAHOST/754: "Die schlafende Mehrheit wacht auf" - Breites Bündnis demonstriert in Israel (Gush Shalom)


Gush Shalom - 16. Januar 2011

Wir sind nicht loyal - angesichts einer Regierung von Rassisten!

Von Adam Keller


"Die schlafende Mehrheit wacht auf" verkündeten große Schilder, als der Strom von Menschen aus dem Gan Meir-Park auf die Straßen drang. Später erklärte Knessetmitglied (KM) Nitzan Horowitz auf dem Podium der Menge, die den Museumsplatz überflutete: "Seht euch um: Wir sind nicht klein, und wir sind nicht schwach, und wir haben absolut keinen Grund, zu verzagen!"

In den letzten Jahren hat sich dieser Teil der israelischen Gesellschaft in der Tat häufig isoliert und an den Rand gedrängt gefühlt. Oft war die vorherrschende Stimmung bei seinen Demonstrationen die einer tapferen Herausforderung, die von Menschen geäußert wurde, die entschlossen waren, gegen eine übermächtige Flut anzuschwimmen. Der Stimmungsumschwung heute wurde ausgerechnet von der bisher unverfrorensten Verkörperung nationalistischer Aggression bewirkt: Dem Beschluß, eine "Untersuchung" der Friedens- und Menschenrechtsorganisationen zu lancieren, die von Avigdor Lieberman und seinen Knessetabgeordneten angestrengt und mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, und die dem "Treueschwurgesetz", dem "Zulassungskomiteegesetz" und verschiedenen anderen berüchtigten Gesetzesinitiativen folgte, die in der derzeitigen Knesset unkontrolliert wuchern.

Ihre offensichtliche Arroganz, ihr Gefühl, die israelischen Gesetzbücher mit jedem rassistischen oder antidemokratischen Stück beschmutzen zu können, das sie sich aussuchen, hat die Menschen aufgerüttelt, die in den letzten Jahren zuhause geblieben waren. Es gibt ein Gefühl der Dringlichkeit, das Bewußtsein, daß es der letzte Moment sein könnte, um eine Gegenkraft aufzubauen und den Versuch zu unternehmen, dem düsteren Strom eine andere Richtung zu geben. "Protestiert! Geht auf die Straße - solange es noch möglich ist!" lauteten die vom demokratischen Lager veröffentlichten Demonstationsaufrufe, die sich in der vergangenen Woche rapide im Netz verbreiteten, bevor sie als bezahlte Anzeigen in der Presse erschienen.

"Nein, nein, nein - Faschismus lassen wir nicht durchgehen!" erklang der alte, wohlbekannte Sprechchor die King George-Straße entlang - und wurde mit einem neuen und unheilkündenderen beantwortet: "Menschen wacht auf! - Der Faschismus ist schon da!" "Die Demokratie schreit um Hilfe" las sich ein großes Transparent, und das nächste lautete: "Der Mord an der Demokratie in Israel - ein Verbrechen, von dem man vorher wußte!" "Rassismus? Dafür heben wir nicht die Hand!" war auf den Poster des Mossawa Centers [1] zu lesen, einer der Organisationen, die Angriffsziel der Lieberman-Untersuchung ist. Eine weitere, seit langem bedrohte Gruppe, der New Israel Fund [2], kam mit Schildern wie: "Untersucht auch mich!" und "Wir werden nicht den Mund halten!". Eine junge Frau hielt ein Schild mit dem Spruch: "Eine Linke im Fadenkreuz" in die Höhe, daneben eine gemalte Zielscheibe. "Ich habe gestern eine Stunde zuhause daran gesessen, bis es genauso war, wie ich es haben wollte. Ich habe immer lieber mein eigenes Plakat, statt ein vorgedrucktes."

"Ein linker Patriot", lautet ein neuer Sticker, den Peace Now vor dieser Demonstration produziert hat. Israelische Nationalfahnen flatterten über den Demonstranten sowie blauweiße Fahnen, deren Davidstern durch ein großes "Peace" ersetzt war. Demonstranten mit einer anderen politischen Orientierung trugen palästinensische Fahnen, und einer von ihnen blieb vor dem Metudat Ze'ev-Hauptquartier der Likud-Partei stehen, und schwenkte herausfordernd die Fahne. (Später wurden Besitzer palästinensischer Fahnen von der Polizei festgenommen, die offensichtlich vergessen hatte, daß dies seit den Verträgen von Oslo in Israel keine Straftat mehr darstellt - oder erwartet die Polizei vieleicht bald neue Richtlinien?) Und es gab im Demonstrationszug die Gush Shalom-Symbole, die beide Fahnen, die israelische und die palästinesische, zusammen zeigen, und die roten Fahnen der Kommunisten und die grünen der Meretz-Partei, und von einigen der regelmäßig in Sheikh Jarrah Demonstrierenden wurden Trommeln geschlagen, und jemand blies Trompete. Auffällig abwesend waren Teilnehmer mit einen Zeichen, das sie als Anhänger der Arbeitspartei auswies - auch wenn es wahrscheinlich nicht wenige in der Menge gab, die bei den letzten Wahlen noch für diese gestimmt hatten.

"Ich bin Yonathan Pollak" lauteten große Schilder, wie auch kleinere, schwarze Buttons, die viele am T-Shirt trugen. Der Ruf nach der Freilassung von Pollak - wegen der Teilnahme an einem Fahrradprotest vor zwei Jahren im Gefängnis - wurde auch von vielen Menschen laut, die nie gekommen waren, um zusammen mit Pollak und seinen Mitstreitern gegen die Trennmauer auf den Feldern des Ortes Bil'in zu demonstrieren. Die Hithabrut-Tarabut-Bewegung [3] kam mit Postern unter dem Titel "Laßt die politischen Gefangenen frei", auf denen sich Yonathan Pollaks Name neben dem von Nuri al-Okbi fand, dem Aktivisten für die Rechte der Beduinen - der wegen des Vorwurfs, "ein Unternehmen ohne Lizenz betrieben zu haben" ins Gefängnis gebracht wurde -, sowie der von Israel Bondak aus Jerusalem, einem Veteranen der Israeli Black Panthers [4], dem einzigen von vielen "Piratensender"-Betreibern, der für seine Rundfunkaktivitäten ins Gefängnis gekommen ist.

"Juden und Araber - Weigert Euch, Feinde zu sein!" lauteten viele Schilder, und die Worte wurden laut und deutlich gerufen, als der Demonstrationszug sich durch den alten Abschnitt der Dizengoff-Straße wand. Die Mischung der Akzente bewies, daß es sich tatsächlich um Juden und Araber handelte, die diese gemeinsam anstimmten, wieder und wieder und wieder.

Wer weiter am Ende des Zuges marschierte, erlebte am Museumsplatz eine unerfreuliche Überraschung: Polizeimotorräder parkten dort als provisorische Straßenblockade und riegelten die Eingangsstufen vollkommen ab. "Keiner darf mehr hinein, der Platz ist voll. Gefahr!" verkündete ein grimmig dreinblickender Polizist.

Viele Demonstranten weigerten sich, das Verbot zu akzeptieren und suchten sich Umgehungswege, kletterten über Betonmauern und schoben sich in die Menge, die den Platz bereits füllte. "Wir waren schon einmal 15.000 Menschen auf dem Platz, wir bitten die Polizei, damit aufzuhören unsere Freunde auszusperren, die zu uns kommen wollen," ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher. Etwa 15 Minuten später wurde die Erklärung: "Wir sind jetzt über 20.000!" mit Applaus begrüßt.

Die Liste der Redner war deutlich in Hinblick darauf zusammengestellt worden, eine breite Spannweite an Rednern zu präsentieren: Juden und Araber, Männer und Frauen, Moderate und Radikale, Kommunisten und Liberale, Zionisten und Antizionisten und Nichtzionisten.

Lieberman, der rassistische Demagoge, Außenminister und Möchtegern-Putin war natürlich Zielscheibe eines endlosen Flusses von Verurteilungen, aber fast alle Redner waren darauf bedacht, ihr Feuer auch auf Ministerpräsident "Netanyahu, der rassistische Gesetze fördert, der Lieberman den Rücken stärkt, der Rabbis Gehälter zahlt, die zum Rassenhaß anstiftende Briefe veröffentlichen" zu richten. Und die lautesten Buh-Rufe, die die meiste Unterstützung ernteten, waren dem Verteidigungsminister vorbehalten: "Barak von der Arbeitspartei und alle deine Freunde, ihr sitzt in dieser rassistischsten aller israelischen Regierungen und seid Komplizen bei all ihren Schandtaten, bei den rassistischen Gesetzen, der zügellosen Besetzung und bei der Zerstörung jeglicher Chance auf Frieden, die noch geblieben ist. Lieberman hofft, durch seine Taten in dieser Regierung Stimmen zu gewinnen. Was versucht ihr zu gewinnen - ein paar mehr jämmerliche Monate in euren Ministersesseln?"

Meretz-KM Nitzan Horowitz schloß mit einem zionistischen Credo: "Ich bin Zionist, weil ich an die Werte der israelischen Unabhängigkeitserklärung glaube. Mein Zionismus ist das Streben nach einem heilen Israel, einem Israel der bürgerlichen Gleichheit und der Menschenrechte, einem Israel, das all seinen Bürgern ungeachtet von Religion, Rasse oder Geschlecht die gleichen Rechte garantiert." In ähnlichem Tenor äußerte Yariv Oppenheimer von Peace Now seine Hoffnung, den Tag zu erleben, an dem er mit Stolz die Worte sagen könne: "Ich bin ein Israeli."

"Es gibt keine abgedroschenere Phrase als 'Die Besetzung korrumpiert' - und gleichzeitig gibt es keine Wahrheit, die immer noch genauso klar und deutlich wie an dem ersten Tag ist, an dem sie geäußert wurde," stellte Hadash-KM [5] Muhammad Barake fest. "Wer sich vorgemacht hat, daß die erstickende Unterdrückung des palästinensischen Volkes an der Grünen Linie [6] Halt machen würde, wurde sehr unmißverständlich eines Besseren belehrt. Jetzt kommt diese Unterdrückung hierher, und wir alle spüren greifbar die Bedrohung. Es ist keinesfalls sicher, daß eine solche Demonstration wie die heutige in einem Jahr noch möglich wäre. Aber wir, die wir hier auf diesem Platz stehen, Araber und Juden, Juden und Araber, vereint im Kampf gegen den galoppierenden Faschismus, wir können siegen! Ja, wir können siegen, so wie die Menschen in Tunis gerade gestern in einem heroischen Kampf gegen eine finstere Tyrannei gesiegt haben!"

Anwältin Bana Shoughry-Badarne vom Öffentlichen Komitee gegen Folter, die stellvertretend für die bedrohten Menschenrechtsorganisationen sprach, schalt jene mit milden Worten, die eine Gefahr nicht wahrnehmen, solange sich die Opfer hauptsächlich unter Palästinensern befinden. "Vor über einem Jahrzehnt, als ich anfing, aktiv zu werden, waren alle Anzeichen schon deutlich zu sehen: Politische Internierung, Tötung von Zivilisten, Landenteignung, alle Formen der Unterdrückung. Aber manche Menschen dachten sich, daß sie, da sie zur herrschenden ethnischen Gruppe gehörten, die Tyrannei der Mehrheit nicht antasten würde. Jetzt wird offensichtlich, daß ein Land, das sich nicht als Staat aller seiner Bürger definiert, keine wirkliche Demokratie haben kann. Wir sind nicht hierhergekommen, um gegen eine kurzlebige Untersuchung zu protestieren, die Finanzierungsquellen aufdecken soll, die für jeden, der sich die Mühe macht, auf den Internetseiten der betroffenen Organisationen nachzusehen, offen und sichtbar daliegen. Wir demonstrieren gegen Besetzung und Unterdrückung und Diskriminierung, für Solidarität und für grundlegende Menschen- und Bürgerrechte für alle." (Anhaltende Rufe "Menschenrechte - Für Alle! Für Alle! Für Alle!")

"Vor zwei Wochen haben die Frauen in Israel einen großen Sieg errungen, und die Opfer des Vergewaltigers und Sexualstraftäters Moshe Katzav erhielten ihre Genugtuung vor Gericht. Dennoch hat die patriarchalische Regierungsstruktur, die über uns herrscht, diesen Augenblick gewählt, um eine Offensive in einer anderen Richtung zu starten", sagte die feministische Aktivistin Dorit Abramovich. "Wir haben in diesem Land ein Weißes Männliches Jüdisches Regime, das auf die romantisierte Kamaraderie der Kämpfer von 1948 zurückgeht, ein Regime, das sich bereits lange, bevor Lieberman oder Bibi auf der Bühne erschienen sind, festgesetzt hat. Als Feministin lege ich Wert darauf, auf die untrennbare Verbindung zwischen Regierungsgewalt, Besetzung und sexueller Unterdrückung hinzuweisen. Sie sind alle Teil der gleichen Sache. Ich möchte etwas sagen, dem nicht alle hier zustimmen werden: Es kann keinen jüdischen und demokratischen Staat geben - beides widerspricht sich und ist miteinander unvereinbar. Die Palästinenser in Israel hatten nie demokratische Rechte. Wir sollten nicht darüber reden, die glorreichen Zeiten einer alten Demokratie wiederherzustellen, wir sollten eine neue Demokratie errichten, die bis jetzt nie existiert hat."

Hinsichtlich der unmittelbaren politischen Wirkung war die Knessetabgeordnete Meir Shitrit von der Kadima-Partei die bedeutendste und unerwartetste Rednerin - die bis zu diesem Zeitpunkt, gelinde gesagt, eine ausgesprochen ambivalente Haltung gegenüber den Lieberman-Vorstößen eingenommen hatte. "Jabotinsky [7] dreht sich im Grab herum beim Anblick der Likud-Mitglieder, die dieses Stück antidemokratischen Irrsinn unterstützen. Jabotinsky hat sich immer gegen die Tyrannei der Mehrheit gestellt, immer erklärt, daß der Einzelne, der sich wagemutig gegen die Masse stellt, ein König ist. Was ist in diese Likud-Leute gefahren, daß sie zulassen, daß Lieberman sie in die extreme rechte Ecke zieht? Die Knesset hat keinerlei Recht, eine solche Untersuchung durchzuführen. Ihr linksgerichteten Organisationen müßt nicht erscheinen, müßt keine Fragen beantworten, ihr könnt diese Untersuchung mit der äußersten Verachtung strafen, die sie verdient. Sie haben keinerlei Berechtigung, gegen euch zu ermitteln! (Applaus). Sicher, auch einige Kadima-Mitglieder haben dafür gestimmt. Es ist leichter, Leute aus der Likud-Partei zu lösen, als die Likudheit von diesen Menschen abzustreifen. Ich möchte hier erklären, daß Kadima absolute Parteidisziplin beschlossen hat. Das nächste Mal, wenn das Thema vor die Knesset kommt, werden wir alle einstimmig dagegen votieren!" (Applaus)

"Vor vielen Jahren war ich bei den Linken in Frankreich aktiv," kommentierte ein weißhaariger Mann, der auf der Seite stand. "Unter uns in Paris sagten wir immer: Wenn du siehst, daß die Opportunisten plötzlich auf deine Seite wechseln, scheint sich der Wind wohl zu drehen."


Videoreportage über die Demo von Social TV (auf hebräisch):
http://www.youtube.com/watch?v=PSn8Irks3R0



Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

[1] Mossawa Center: Interessenvertretung der arabischen Israelis, Sitz in Haifa
[2] New Israel Fund: setzt sich ein für soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle Israelis, gegründet und Hauptsitz in den USA
[3] Hithabrut-Tarabut-Bewegung: Arabisch-jüdische Bewegung für sozialen und politischen Wandel
[4] Black Panthers (Hebräisch 'aPanterim HaShhorim'): Protestbewegung und Interessenvertretung jüdischer Immigraten aus dem Nahen Osten, der sogenannten Mizrahi-Juden (in der zweiten Generation)
[5] Hadash: Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung - jüdisch-arabische Listenverbindung sozialistischer Parteien
[6] Grüne Linie: Demarkationslinie, die im Waffenstillstandsabkommen Israels mit seinen Nachbarstaaten 1949 festgelegt wurde. Sie bezeichnet zudem die Linie zwischen Israel und den während des Sechstagekrieges eroberten Gebieten, einschließlich Gaza und Westbank.
[7] Jabotinsky: führender Zionist u.a. Gründer der Jüdischen Legion im 1. Weltkrieg, wichtigstes Mitglied der rechtsgerichteten zionistischen Revisionisten, auf die die Likud-Partei letztlich zurückgeht

Link zum englischen Originaltext:
http://zope.gush-shalom.org/home/events/1295208845?ver=Sun%2C+16+Jan+2011+22%3A14%3A07+%2B0530&utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+Gush-shalom-english+%28Gush-Shalom%29


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Quelle:
Gush Shalom, Israel, 16.01.2011
Telefon: +972-3-5221732
E-Mail: info@gush-shalom.org
Internet: www.zope.gush-shalom.org
mit freundlicher Genehmigung von Gush Shalom
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2011