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NAHOST/758: Leben und leben lassen - Israelis und Palästinenser im 'Dorf des Friedens' (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Januar 2011

Nahost: Leben und leben lassen - Israelis und Palästinenser im 'Dorf des Friedens'

Von Pierre Klochendler


Neve Shalom-Waht Es-Salaam, Zentralisrael, 24. Januar (IPS) - "Es war einmal eine Pflanze, die schlief, ihr Leben von tiefster Dunkelheit umgeben", hub der Lehrer an. "Schmetterlinge, Blumen und Blätter hatten sich zur Ruhe gebettet. Perlen aus Tau, Tränen im Meer der Hoffnungslosigkeit, gaben der Pflanze zu trinken, bis sie zu einem starken Baum in einer Oase des Friedens in einem konfliktreichen Land heranwuchs, in dem in einem Dorf zwei Völker in Einklang leben: Juden und Palästinenser."

Der Lehrer erzählt kein Märchen, sondern die wahre Geschichte eines Dorfes. So ist die 'Oase des Friedens' - Neve Shalom in Hebräisch und Waht Es-Salaam in Arabisch - der einzige Ort in Israel, in dem Juden und Palästinenser seit 35 Jahren bewusst und gleichberechtigt zusammenleben und ihre Kinder gemeinsam großziehen.

Der Bürgermeister der Gemeinde, Eyas Shbeta, erklärt die Grundsätze dieses ungewöhnlichen Experiments. "Wir alle behalten unsere eigene Identität, unser kulturelles Erbe, unseren Raum, unseren Platz. Niemand versucht, den anderen umzukrempeln, denn wir haben erkannt, dass uns der Austausch mit Andersdenkenden stark macht."

Nava Sonnenschein arbeitet an der Dorfschule als Friedensvermittlerin. Mehr als 50.000 Israelis und Palästinenser haben die besondere Bildungseinrichtung durchlaufen. "Uns ging es darum, einen sozialen, kulturellen und politischen Rahmen für Gleichheit zu schaffen", sagt sie. Entscheidungen werden demokratisch getroffen.

Auf fünf Israelis kommt ein Palästinenser. Es ist nicht leicht, in einem Land zu leben, in dem sich Menschen bekriegen. So wie ihre palästinensischen Brüder in den besetzten Gebieten leiden auch palästinensische Israelis noch allzu häufig unter Ausgrenzung, Diskriminierung und dem Verdacht, die 'fünfte Kolonne' zu sein.


Gemeinsame Prinzipien

In der Oase des Frieden wird jede Form des Terrors verabscheut und das Ende der Besatzung als Lösung des Nahostkonflikts betrachtet. Doch wie es nach einem Ende der israelischen Besatzungszeit aussehen soll, darüber scheiden sich auch in der Oase des Friedens die Geister. "Manche glauben an eine Zweistaatenlösung, andere an einen binationalen Staat", erläutert Sonnenschein.

"Wir sind hier kein Kuscheldorf", erläutert Shbeta. "Vielmehr haben wir uns alle dazu entschieden, etwas für die gemeinsame Sache aufzugeben, damit wir Seite an Seite leben können." Ideologische Fragen bleiben ungeklärt - absichtlich. "Schließlich müssen wir nicht in allem und jedem übereinstimmen", meint der Bürgermeister.

"Wir haben immer mit der Frage zu kämpfen, wie wir Ideologie ins tägliche Leben übersetzen. Ich wünschte, der gute Wille würde ausreichen", meint Sonnenschein. "Wer das Zusammenleben erlernen will, muss erst das gemeinsame Lernen erlernen. Die Grundschule, die erste binationale Schule des Landes, ist ein Mikrokosmos im Mikrokosmos."

Nur 30 der 250 Schüler leben in der Ortschaft selbst, die Mehrheit stammt aus den umliegenden jüdischen und arabischen Städten. Die Eltern müssen sich dem Credo der Ortschaft nicht anpassen, sondern es nur akzeptieren.


Friedenslehre

Der Lehrplan sieht neben der Vermittlung universeller Bildungsinhalte auch Unterricht in ethischen Werten wie gegenseitiges Verständnis, Toleranz und Frieden vor. "Unsere Kinder erfahren, dass es für uns normal ist, dass wir zusammenleben", berichtet die Lehrerin Rim Nashef. "Sie wachsen gleichberechtigt zusammen auf, ohne zu wissen, dass die Welt anders aussieht."

Wenn die Mädchen und Jungen in die sechste Klasse gehen, beginnt der Geschichtsunterricht. Sich durch eine komplexe Geschichte zu bewegen und dabei gleich zwei konfliktiven Sichtweisen gerecht zu werden, ist nicht immer einfach und stellt auch die Schüler vor Herausforderungen. Das zeigte der Krieg im Gazastreifen Ende 2008 bis Anfang 2009. "Wir hatten Kinder, deren Eltern in der Armee waren, und Kinder, deren Familien im Gazatreifen lebten", berichtet Nashef. "Wir haben uns damals still zusammengesetzt und die Kinder über ihre Ängste reden lassen."

Nur bei der Vermittlung der Sprachen räumt Sonnenschein Probleme ein. Die meisten Palästinenser könnten hebräisch und arabisch. Die meisten Israelis hingegen kein arabisch. "In dieser Frage haben wir versagt." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2011