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NAHOST/813: Ägypten - Die Rolle der sozialen Bewegungen (inamo)


inamo spezial - Sonderheft - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Ägypten
Die Rolle der sozialen Bewegungen

Von Ivesa Lübben


Dass der "Tag des Zorns" kein spontaner Ausbruch war, bei dem man sich ein Beispiel an der tunesischen Revolte genommen hatte, sondern ein gut vorbereiteter Demonstrationstag, beschreibt Ivesa Lübben. Es blieb nicht bei Aufrufen in den virtuellen Vernetzungen, sondern es wurden reale Strukturen aufgebaut. Die Bewegung des 6. April bildete Fachkomitees für Öffentlichkeitsarbeit, die Gruppe Kullna Said (Wir sind alle Khaled Said) bereitete ihre Mitglieder vor usw. In ganz Ägypten entstanden lokale Gruppen, die sich in den Räumlichkeiten von Menschenrechtsorganisationen oder Parteien wie der Ghad-Partei trafen. Die Muslimbrüder riefen nicht offen zum Tag des Zorns auf, hielten aber ihre Mitglieder zur Teilnahme an. Dass dies nur der Anfang war und den Sturz des Diktators brachte, überraschte selbst die sozialen Bewegungen.


"Vier Ägypter haben sich aus Protest gegen die Demütigungen, gegen Hunger und Armut und gegen den Verfall, den unser Land seit 30 Jahre erlebt, in Brand gesteckt ... Vier Ägypter haben sich verbrannt, weil sie dachten, bei uns könnte dasselbe passieren wie in Tunesien. Sie dachten, auch wir könnten vielleicht eines Tages in einem Land leben, in dem Freiheit und Gerechtigkeit herrschen in dem die Würde des Menschen respektiert wird und der Mensch nicht wie ein Tier behandelt wird. Heute ist einer von ihnen gestorben. Ich hab gehört, wie Leute sagen: Er hat sich versündigt. Der wollte ja nur berühmt werden. Leute, schämt euch! Diejenigen, die sich umgebracht haben, hatten mehr Angst vor den Sicherheitskräften und der Korruption als vor dem Tod. Wenn wir noch einen Rest an Würde haben und wie Menschen in diesem Land leben wollen, dann müssen wir am 25. Januar auf die Straße gehen, um unsere Rechte zu fordern. Ich will gar nicht von politischen Rechten sprechen. Wir wollen unsere Rechte als Menschen. Unsere Regierung ist korrupt, der Präsident ist korrupt, alles ist verrottet, die Sicherheitskräfte sind korrupt. Es ist genug. Zu demonstrieren ist besser, als sich selber anzuzünden. Und sagt nicht, es gäbe keine Hoffnung. Die Hoffnung verschwindet nur, wenn die Leute sagen, es gäbe keine Hoffnung mehr. Aber wenn du nur zu Hause sitzt und von da aus die Nachrichten über facebook oder den Fernseher verfolgst, dann trägst du dazu bei, dass sie uns fertig machen. Jeder der denkt, dass Mädchen nicht demonstrieren sollten, weil man sie ja zusammenschlagen könnte, sollte lieber so viel Ehre und Männlichkeit aufbringen, mit mir zu kommen, um mich und die anderen Mädchen zu beschützen.

Aber wenn du zu Hause rumsitzt, dann verdienst du all das, was sie mit dir machen. Und nicht nur das: Dann trägst auch du Schuld gegenüber deinem Land, gegenüber allen, die in diesem Land leben.

Sag' offen, was du denkst. Hab' keine Angst vor der Regierung. Hab' vor niemandem als vor Gott Angst. Gott sagt, dass er nur die Situation eines Volkes nicht ändern wird, wenn dieses sich nicht selbst verändert (Sura al-Raad:11)."


Diesen voiceblog hatte die 26-jährige Azza Mahfuz am 18. Januar ins Netz gestellt. Er wurde zum Fanal der ägyptischen Revolution. Zum Tag des Zorns hatten über facebook, Twitter und You Tube-organisierte soziale Netzwerke wie die Jugend des 6. April und Wir sind alle Khaled Said aufgerufen. Khaled Said war ein junger Blogger aus Alexandrien gewesen, der am 7. Juni von Schergen der Polizei aus einem Internet-Cafe gezerrt und auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde.

Der Tag des Zorns fiel auf den jedes Jahr in Ägypten begangenen Tag der Polizei. Die jungen Leute wollten ihre Wut auf den Polizeiapparat zum Ausdruck bringen, der alles Leben paralysierte, der willkürlich jeden verhaften konnte und in deren Gefängnissen Menschen zu Tode gefoltert werden. Die Initiatoren der Demonstration forderten die Absetzung des verhassten Innenministers, die Aufhebung des vor 30 Jahren verhängten Ausnahmezustandes, Verfassungsänderungen, die demokratische Wahlen ermöglicht hätten, die Freilassung der politischen Gefangenen und Mindestlöhne von 1200 LE. Letzteres war eine der Kernforderungen unabhängiger Gewerkschaftskomitees, die sich in den letzten Jahren in Opposition zu den staatstreuen gelben Gewerkschaften in vielen Fabriken gebildet hatten. (Siehe den Artikel von Ingrid El Masry i. d. Heft) Unterstützt wurde der Aufruf zum Tag des Zorns auch von den Jugendorganisationen der meisten Oppositionsparteien, der Muslimbruderjugend, der Kifaya-Bewegung, der Jamia al-taghir (Verein für einen Wandel), die sich vor einem Jahr um Mohammed El Baradei gebildet hatte und der Gewerkschaft der Steuerbeamten - der ersten oppositionellen Gewerkschaft Ägyptens.

Die Beteiligung am Tag des Zorns übertraf alle Erwartungen der Organisatoren. Zehntausende gingen nicht nur in Kairo, sondern auch in den meisten Provinzstädten auf die Straße. Forderten die Demonstranten zunächst nur Reformen, entwickelte die Demonstrationen nach den brutalen Polizeieinsätzen ihre eigene Dynamik. Am folgenden Freitag schlossen sich nach dem Freitagsgebet Millionen der Jugend an und forderten nichts weniger als den Sturz des Regimes. Die Proteste setzten sich fort, bis Präsident Mubarak schließlich am 11. Februar unter dem Druck seines Volkes und der Armee-Spitze, die sich inzwischen hinter die Forderungen des Volkes gestellt und die Macht übernommen hatte, seinen Rücktritt erklärte.

Es war zunächst ein Aufstand der Jugend. Einer Jugend, die sich die Möglichkeiten neuer Vernetzungen über das Internet zunutze machte. Aber keine Revolution steht außerhalb der Geschichte, sondern knüpft an den Erfahrungen vorhergehender sozialer Bewegungen an, während sie zugleich neue Formen des Widerstandes hervorbringt, neue Strukturen schafft und neue Persönlichkeiten reifen lässt. Die Revolution in Ägypten war eine Revolution der frustrierten Mittelstandsjugend, die in einem Land, das von Polizeiwillkür und Korruption gezeichnet war, keine Möglichkeiten individueller und kollektiver Selbstverwirklichung sah. Ihr zu unterstellen, sie sei unpolitisch wäre aber falsch. Forderungen nach demokratischem Wandel und politischen Freiheitsrechten und die Forderung nach Mindestlöhnen zeigt, dass sich die Jugend in den Kontext anderer Sozialbewegungen stellt und bereit ist, politische und soziale Verantwortung für die gesamte Gesellschaft mitzutragen.


Zur Vorgeschichte
In den letzten Monaten konnte niemand in Ägypten mehr übersehen, dass große Teilen der ägyptischen Gesellschaft im Elend leben. Wochenlang campierten sie protestierend vor dem Parlamentsgebäude: Arbeiter und Angestellte von Lokalverwaltungen, die Hungerlöhne von manchmal nicht mehr als 20 oder 30 Euro im Monat verdienten, Menschen die von Grundstücksspekulanten mittels Bulldozern über Nacht aus ihren Häusern geworfen worden waren und Behinderte, die Jobs forderten. Niemand konnte mehr wegschauen.

Fälle von Folter - auch sexueller Folter - auf den Polizeirevieren häuften sich und wurden über die Websites und von Menschenrechtsorganisationen publik gemacht. Ende November fanden Wahlen statt. Hatte das Regime zwar immer dafür gesorgt, dass die Regierungspartei NDP im Parlament mindestens über eine 2/3 Mehrheit verfügt, so gab es immer noch kleine Spielräume für die Opposition. 2005 hatten 88 Muslimbrüder und zwei Dutzend unabhängiger Kandidaten den Sprung ins Parlament geschafft. Die eklatanten Wahlfälschungen 2010, die zum völligen Ausschluss der Opposition aus dem Parlament führten, zeigten auch dem Letzten, dass das Regime trotz aller Reformversprechen in Wirklichkeit reformresistent war und das Land wie einen Selbstbedienungsladen behandelte.

Am koptischen Weihnachtfest folgte dann der blutige Anschlag auf die Kirche der Zwei Heiligen in Alexandrien. Auch wenn das Regime Ausländer und al-Qaeda für das Verbrechen verantwortlich machte, zeigten alle Finger in Ägypten auf das Innenministerium, dass Warnungen vor möglichen Anschlägen nicht ernst genommen hatte und nur unzulängliche Wachen vor den Kirchen postiert hatte.(1) Schon vor einem Jahr hatten ebenfalls am Weihnachtsfest Handlanger des lokalen NDP-Abgeordneten auf Kirchgänger geschossen und sechs von ihnen sowie einen Wachmann erschossen.

Aber anders als vor einem Jahr gingen nach den Anschlägen in Alexandrien im ganzen Land Kopten, die bislang geglaubt hatten, das Mubarak-Regime schütze sie vor muslimischen Extremismus, zu tausenden auf die Straße. Unterstützt wurden sie von ihren muslimischen Landsleuten einschließlich der Muslimbruderschaft. Die ägyptischen Muslime hatten begriffen, dass sie die Ängste und Sorgen der koptischen Mitbürger ernst nehmen müssen, da sonst die Gesellschaft entlang konfessioneller Grenzen auseinanderzubrechen drohte. Die Demonstranten trugen die alten grünen Fahnen der ägyptischen Revolution von 1919 mit ineinander verschränktem Kreuz und Halbmond. Koptische Geistliche, die noch immer das Regime für seine angebliche Unterstützung lobten wurden von den Gläubigen während des Gottesdienstes ausgebuht.

Anfang Januar setzte eine neue Streikwelle für besser Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und unabhängige Gewerkschaften ein, die Fabriken im ganzen Land erfasste. Einige Streiks stellten aber auch politische Forderungen auf. So forderten die Angestellten im Erziehungsministerium den Rücktritt des Erziehungsministers Ahmed Zaki Badr. Am 25. Januar protestierten Arbeiter der staatlichen Ölgesellschaft gegen die Erdgasexporte nach Israel. In Mahalla al-Kubra demonstrieren Arbeiter der größten Textilfabrik gegen die Privatisierungspläne der Regierung und Angestellte im Gesundheitssektor fordern das Recht auf Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Es brodelte im ganzen Land. Die Revolution in Tunesien war das letzte Fanal. Tunesien hatte gezeigt, dass die Diktatoren des Nahen Ostens besiegbar sind.


Die Internetgeneration
Die Bewegung des 6. April hat sich als Reaktion auf die großen Streiks in Mahalla al-Kubra gebildet. Seit dem Irakkrieg gab es trotz Ausnahmezustandes, unter dem Versammlungen von mehr als fünf Personen verboten sind, immer wieder Demonstrationen. 2004 gründete ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen Kifaya (es ist genug!) gegen eine erneute Amtsperiode Mubaraks und gegen die mögliche Übernahme der Präsidentschaft durch seinen Sohn Gamal. Kifaya war ein lockere Bündnis aus Intellektuellen und Repräsentanten aller politischen Strömungen einschließlich einiger Muslimbrüder. Aber während Kifaya mehrere hundert Demonstranten auf die Straße brachte, streikten im Dezember 2006 in Mahalla zehntausende Arbeiter für bessere Lebensbedingungen und gegen korrupte Staatsgewerkschaften. Seitdem gilt Mahalla als Zentrum der ägyptischen Arbeiterbewegung. Auf einer Demonstration am 6. April 2008 gingen in Mahalla Zehntausende auf die Straßen und zerstörten Mubarak-Bilder ähnlich wie wütende Iraker 2003 die Saddam-Statue vom Sockel gerissen hatten. Die Bilder aus Mahalla wurden über Blogs in ganz Ägypten verbreitet. Noch nie hatte eine soziale Kraft das Mubarak Regime derart offensiv herausgefordert.

Im März 2008 hatten zwei junge Mitglieder der Ghad-Partei, Ahmed Maher und Isra Abdel Fatah die Idee, über Facebook, junge Leute aufzurufen zeitgleich zu dem Mahalla Streik im ganzen Land in schwarzer Kleidung zu demonstrieren. Der Aufruf fand erstaunlicherweise großen Anklang. Wie ein Schneeball verbreitete sich die Nachricht. Auch traditionelle Gruppierung wie die Ghad-Partei, Kifaya, sozialistische Gruppen und die Muslimbrüder schlossen sich dem Aufruf an.

Die Bewegung des 6. April versteht sich als eine unabhängige Jugendbewegung, die keine Partei unterstützt - auch wenn manche Jugendliche anderen Parteien angehören mögen. Gerade dies macht sie für viele junge Leute attraktiv, die die sektiererischen Streitereien älterer oppositioneller Intellektueller und die Machtkämpfe im oppositionellen Lager leid sind. Stattdessen ruft sie zur "Kooperation aller politischer Kräfte für einen Wechsel und Reformen" auf. Die jungen Leute wollen alle Gruppen, Parteien, Individuen zu einem gemeinsamen Projekt zusammenbringen: "Wir wollen das Volk gegen die Unterdrückung durch eine korrupten Gang und für die Ausrottung von Korruption und Despotismus aufrütteln", heißt es in der Gründungserklärung. "Unsere Generation hat das Recht es zu versuchen ­... Entweder uns gelingt es ... oder wir geben unsere Erfahrungen an neue Generationen weiter".

Die Vernetzung hat Vorteile. Sie erlaubt eine flexible Organisation, vermeidet unnötige Hierarchisierung und ermöglicht die direkte Kommunikation der Mitglieder. Dies ist besonders wichtig in einem Staat, in dem öffentliche Versammlungen fast unmöglich sind. Nach ein paar Monaten hat das Netzwerk 70.000 Mitglieder. Neben dem "6. April" entstehen andere Facebook-Gruppen. Nachdem im Sommer 2010 Khaled Said auf offener Straße in Alexandrien ermordet wurde, waren die jungen Aktivisten entsetzt. Khaled Said war wie sie. Es hätte jeden treffen können. Neue Facebook-Gruppen bildeten sich, von denen kullna Khaled Said (Wir sind alle Khaled Said) mit über 300.000 Mitgliedern die größte ist. Sie gilt neben der Bewegung der 6. April-Jugend als Mitinitiator der Demonstrationen am 25. Januar.


Die Jugend des 6. April: Virtuelles Netzwerk oder Soziale Bewegung?
Trotz der virtuellen Vernetzungen bildete die Bewegung des 6. April auch reale Strukturen: Fachkomitees für Öffentlichkeitsarbeit, Komitees für Kontakte mit anderen politischen Gruppen oder für Rechtsfragen. In ganz Ägypten entstanden lokale Gruppen, die sich in den Räumen von Menschenrechtsorganisationen oder Parteien wie der Ghad (Morgen)-Partei treffen. Die Ghad war erst 2004 von dem damals erst 40-jährigen Aiman Nur gegründet worden, der es wagte bei der Präsidentschaftswahl 2005 Mubarak herauszufordern und dem es immerhin gelang 7,3 % der Stimmen auf sich zu vereinen - bei den ägyptischen notorischen Wahlmanipulation schon ein Achtungserfolg, der dazu führte, dass Aiman Nur in einem fingierten Prozess wegen Urkundenfälschung zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, von denen er mehr als 3 Jahre absitzen musste. Aiman Nur war für viele junge Leute eine reale Alternative zu Gamal Mubarak, den die Neue Business-Mafia des Regimes als Nachfolger Mubaraks aufbaute.

Auch der Tag des Zorns wurde gut vorbereitet. Die 6. April-Jugend kontaktierte andere Oppositionsgruppen, die ihre Unterstützung zusagten - darunter auch die Muslimbrüder, auch wenn diese öffentlich nicht aufriefen, ihre Mitglieder aber zur Teilnahme anhielt. Der Grund: Sie wollten vermeiden, dass das Regime der Bewegung das Stigma des Islamismus anhängt. Die Mitglieder der Muslimbrüder wurden angehalten, religiöse Parolen zu vermeiden und sich hinter die Parolen der Bewegung zu stellen.

Die jugendlichen Aktivisten bereiteten sich gut auf mögliche Konfrontationen mit der Polizei vor, sie organisierten Erste-Hilfe-Kurse und verteilten die Telefonnummern von Rechtsanwälten. Am 25. Januar zogen sie in kleinen Gruppen von 50 Mitgliedern los, die an verschiedenen vorher geheim gehaltenen Plätzen die Menschen agitieren und zu kleineren Demonstrationszügen sammeln sollten, die dann alle zum zentralen Tahrir-Platz marschierten. Sie rechneten mit 10.000 Teilnehmern. Dass es viel mehr wurden und sich die Demonstrationen zu einer Revolution entwickelte, die schließlich zur Abdankung oder Absetzung Mubaraks führte, überraschte sie selber. Die Bewegung hatte den Zeitgeist der Jugend, die um keinen Preis mehr so weiterleben will wie bisher, getroffen. Tunesien hatte Mut gemacht. Und die Überwindung von irgendwelchen Sonderforderungen im Interesse der gemeinsamen Sache machte sie reifer als viele andere Initiativen, wie Kifaya, deren Aktivitäten wiederholt aufgrund internen Streitereien und Eitelkeiten paralysiert war.

Trotzdem hatte die 6. April-Bewegung weder das Monopol auf die Jugendbewegung, noch war sie die einzige Sozialbewegung. Auf Initiative der Muslimbrüder-Jugend hatten Studenten in den letzten Jahren regelmäßig parallel zu den Wahlen der staatstragenden Studentenunion Wahlen zu einer alternativen Studentenunion - auch wenn diese eher symbolisch waren - organisiert. Um den ehemaligen Vorsitzenden der Atomenergiekommission, den Nobelpreisträger Mohammed El Baradei organisierte sich die Jamiat al-taghyir (Verein für Wandel), die im letzten Jahr über eine Million Unterschriften für eine Wahlrechtsreform und Aufhebung des Aufnahmezustandes gesammelt hat. Dadurch sollte der Weg für eine mögliche Kandidatur El Baradeis gegen Mubarak oder seinen Sohn geebnet werden.

Auch hier waren es wieder vor allem junge Leute, die die Unterschriftensammlung an der Basis organisierten. In den Jugendkomitees der Jamiat al-taghyir waren viele Mitglieder der Bewegung des 6. April aktiv, aber auch Jugendliche aus legalisierten und nicht-legalisierten Oppositions-Parteien wie der neo-nasseristischen Karama, der Ghad, der liberalen Jabha al-dimuqratiya, linker Netzwerke und der Muslimbrüder.


Keime einer Alternativgesellschaft
Viele der neuen Netzwerke, die sich herauszubilden begannen, waren politische crossover-Bündnisse und zogen gleichzeitig neue, bis dato unpolitische Leute an. Das gilt nicht nur für die Jugendbewegungen, Kifaya oder die Jamiyat al-taghyir, sondern auch für die meisten sozialen Ein-Punkt-Bewegungen, die in den letzten Jahren in Ägypten entstanden wie die Muhendessin did al-harassa (Ingenieure gegen den Staatskommissar) und Atiba' bala huqquq (die Ärzte ohne Rechte), die für freie Wahlen in den Berufsgenossenschaften eintraten. Das gilt auch für die unabhängigen Gewerkschaftskomitees, die sich ihrerseits zu dem Lajnat al-tansiqiya lil harakat al-umaliya (Komitee zur Koordinierung der Arbeiterbewegung) zusammen geschlossen haben und für die Menschenrechtsbewegung, wenn auch hier die Linke immer noch dominiert.

Niemand in Ägypten streitet die revolutionäre Avantgarde-Rolle der Jugend ab. Von ihr ging die Initiative aus. Sie stand in erster Reihe in der Abwehr der Polizeigewalt, sie hat spontan und mit Fingerspitzengefühl in jeder Situation die richtigen Forderungen neu formuliert und die Bewegung von einer Reformbewegung im richtigen Moment in eine revolutionäre Bewegung verwandelt, die den Machtwechsel generiert hat.

Gerade dadurch, dass sie vertikal und nicht horizontal organisiert war, war es möglich diese Linie konsequent weiterzuführen, weil es eben keine Führungstruppe gab, die bei möglichen Verhandlungen manövriert hätte, auf die das Regime Druck hätte ausüben können, und die partielle Interessen der eigenen Institutionen mit dem Gesamtinteresse abgewogen hätte.

Wie sehr die Bewegung ihren eigenen Führern voraus war, wird deutlich an dem Fall Wael Ghunaim, dem Google-Vertreter für den Nahen Osten und dem Administrator von Wir sind alle Khaled Said. Ghunaim, ein in den Emiraten lebender Ägypter war kurz nach seiner Einreise von Sicherheitskräften verhaftet worden und verschwand für mehrere Tage. Nach seiner Freilassung gab er ein sehr emotionales Fernsehinterview, bei dem er schließlich weinend zusammenbrach, nachdem ihm klar wurde, wie viel Jugendliche bei dem Aufstand inzwischen ums Leben gekommen waren: "Das haben wir nicht gewollt. Wir wollten eine friedliche Revolution", sagt er und bricht das Interview ab. Spontan bildet sich eine facebook Gruppe, mit 100.000 Anhängern, die Wael Ghunaim zum Sprecher der Jugend auf dem Tahrir-Platz machen will. Als Ghunaim ein paar Tage später - nach der ersten Rede von Mubarak, in dem dieser Reformen verspricht - auf dem Platz die Demonstranten auffordert, nach Hause zu gehen, da der Präsident doch die Forderungen der Demonstranten erfüllt habe, wird er ausgebuht: ihna mish ha namshi huwa yamshi ... yasqut al-nizam (Nicht wir gehen, er - Mubarak - soll gehen. Das Regime soll fallen!).

Es sei die Jugend, die so viele Opfer, Märtyrer und Verletzte, zu beklagen hatte. Die Jugend hätte der ganzen Welt das Bild einer zivilen Protestbewegung gezeigt, sagt auch der ehemalige Fraktionschef der Muslimbrüder, Saad Katatni auf einer Pressekonferenz der Muslimbrüder am 7. Februar. Deswegen müsse der Jugend eine wichtige Rolle bei allen Gesprächen über die Formen des Übergangs eingeräumt werden.

Aber die Jugendbewegung konnte sich auf zivilgesellschaftliche Strukturen stützen, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, während die soziale Basis des Regimes immer weiter abbröckelte(2), so dass sich das Regime schließlich fast nur noch auf die aufgeblähten inneren Sicherheitsapparate und kriminelle Gangs, die sog. Baltagiya stützen konnte.


Keime einer Alternativgesellschaft: Die Justiz
Als das Regime mit seiner parlamentarischen Mehrheit durch eine Verfassungsänderung die richterliche Kontrolle über die Wahlen abschaffte, die kurz zuvor vom Verfassungsgericht eingefordert worden war, ging die gesamte Richterschaft auf die Straße - nicht als Berufsstand, sondern erhobenen Hauptes als die Dritte Staatsgewalt, deren Aufgabe es sei, das Recht der Bürger zu schützen. Dies hatte einen Politisierungsschub in der ägyptischen Gesellschaft zur Folge. Erstmals erkannten viele unpolitische Menschen: "Wir sind Bürger und wir haben Rechte. Wenn die Richter das sagen, dann ist es so. Wir haben auch eine Stimme und wollen mitreden."

Bei den Wahlen 2005 zog erstmals eine für ägyptische Verhältnisse relativ starke Opposition ins Parlament.(3) Die Muslimbrüder allein hatten 88 Abgeordnete. Dazu kamen zwei Dutzend unabhängige Parlamentarier. Die Muslimbruderfraktion brachte die Anliegen der neuen Bewegungen auf die Bühne des Parlaments. Sie legte in Abstimmung mit dem Richterclub einen Gesetzesentwurf über die Unabhängigkeit der Justiz vor und formulierte mit anderen Oppositionskräften ein neues, demokratisches Wahlgesetz.

Auch die Justiz stellte weiterhin ihre Unabhängigkeit unter Beweis. Das Oberste Verwaltungsgericht fällte im letzten Jahr revolutionäre Urteile. Es ordnete das Innenministerium an, seine Ordnungskräfte aus den Universitäten zurückzuziehen, die sich bis dahin in alles eingemischt hatten: von der Notengebung bis zur Kandidatenaufstellung bei den Studentenratswahlen. Es erklärte Verkäufe von Staatsland an Günstlinge des Regimes zu Tiefstpreisen für unwirksam. Es hob das Wahlgesetz für die Berufsverbände auf, mit dessen Hilfe die Regierung seit fast zwei Jahrzehnten lang interne Wahlen in der Ärzte-, Apotheker oder Ingenieursvereinigung verhindert hatte. Es setzte im November 2010 in vielen Wahlbezirken die Wahlen wegen Unregelmäßigkeiten durch das Innenministerium aus - ohne dass die Exekutive sich daran gehalten hätte. Und es verpflichtete die Regierung zur Festsetzung menschenwürdiger Mindestlöhne. Die Parlamentarier der Muslimbrüder organisierten parlamentarische Anfragen, in denen sie die Regierung auffordert, den Urteilen auch nachzukommen. Als interne Berichte des staatlichen Rechnungshofes enthüllten, dass das Regime Schattenhaushalte geheim hält, die ein größeres Volumen haben als der eigentliche Staatshaushalt und aus denen sich regimenahe Funktionäre wie in einem Selbstbedienungsladen bedienen, brachte die Muslimbrüder-Fraktion den Skandal in Form einer parlamentarischen Großen Anfrage an die Öffentlichkeit.

Durch diese Interaktion von zivilgesellschaftlichen Akteuren untereinander und intakt gebliebenen staatlichen Institutionen wie der Justiz oder dem Rechnungshof konnte sich ein bürgerlicher Historischer Block (Gramsci) herausbilden, der auch in der nach-revolutionären Zeit ein wichtiger Faktor der Stabilität sein wird, während die neuen Organisationen, die die Revolution hervorgebracht hat, Garant dafür sind, dass die revolutionären Ziele nicht aus den Augen verloren werden. Inwieweit die Armee dazugehört, die unter dem Mubarak-Regime zugunsten der Organe des Innenministeriums immer mehr marginalisiert wurde, wird sie in den nächsten Monaten unter Beweis stellen.


Auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft
Am 13. Februar löste der Militärrat die beiden Kammern des Parlaments auf und setzte die bisherige Verfassung außer Kraft. Die Revolution hat gleichzeitig damit begonnen, sich selber eigene Strukturen zu schaffen.

Noch während die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz den Rücktritt Mubaraks forderten, begann die Staatsanwaltschaft schon Ermittlungen gegen ehemalige Minister und regimenahe Geschäftsleute wegen Korruptionsverdachts einzuleiten. Mehrere Minister wurden unter Hausarrest gestellt, ihre Konten eingefroren. Der Richterbund bildete ein Komitee, das sich erste Gedanken über eine neue Verfassung macht. Und ein Bündnis der Menschenrechtsorganisationen hat ebenfalls betont, dass sie bei der Ausgestaltung der Grundlagen eines demokratischen, zivilgesellschaftlichen Rechtsstaates mitwirken will.

Die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz haben über Facebook die Gründung einer demokratischen Partei des 25. Januars als politisches Sprachrohr der Jugend angekündigt. Niemand soll die Jugendbewegung für eigene politische Ziele instrumentalisieren, heißt es in der Gründungserklärung. Sie wollen selber die Zukunft Ägyptens mitgestalten: "Wir haben unserem Volk und der ganzen Welt gezeigt, was Ägypten ist. Wir sind weder Opposition noch Regierung. Wir sind Ägypter. Unser Interesse ist identisch mit den Interessen unseres Landes, des ganzen Volkes und nicht einzelner Personen." Wenn irgend jemand versuchen würde, die Forderungen der Revolution zu unterlaufen, so werden sie wieder Millionen auf die Straße bringen.

Bekannte ägyptische Persönlichkeiten, wie der Nobelpreisträger für Chemie, Ahmed Zweil, der Generalsekretär der Arabischen Liga Amr Musa, der Großindustrielle Nguib Saweiri haben einen Rat der Weisen gebildet, der der Jugend beratend zu Seite steht. Und Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum - darunter auch Mohammed El Baradei und Vertreter der Muslimbrüder - haben unter Beteiligung der Jugendbewegung eine Front zur Unterstützung der Revolution gegründet, die verhindern will, dass die Ziele der Revolution in der Kleinarbeit der nächsten Monate aus dem Blickwinkel geraten.

Aber auch an der Basis gibt sich die Revolution neue Strukturen. In den staatlichen Betrieben haben sich Arbeiterkomitees gebildet, die nicht nur die Verbesserung der Lebensbedingungen eintreten, sondern auch die Absetzung von korrupten Managern des alten Regimes fordern. Die Journalisten der staatlichen Zeitungen und der Fernsehsender haben inzwischen die alten Chefredakteure abgesetzt. Unsere Zeitung muss wieder zu einer nationalen Zeitung des Volkes werden, nicht eine Regierungszeitung, erklärten z.B. Journalisten der staatlichen al-Ahram. In vielen Provinzen fordern die Menschen die Absetzung korrupter Gouverneure, die noch vom Mubarak-Regime eingesetzt wurden.

Der Shaikh al-Azhar, Ahmed Tayib, hat gefordert, dass auch in der Azhar in Zukunft demokratisch gewählt werden soll. Bislang wurde der Azhar-Shaikh vom Präsidenten ernannt. Selbst 3000 Polizisten demonstrierten zwei Tage nach der Abdankung Mubaraks vor dem Innenministerium. Sie wollten das Image der Polizei in den Augen der Leute aufbessern und forderten, den verhassten ehemaligen Innenminister Habib al-Adly und alle Offiziere, die den Tod von Demonstranten zu verantworten haben, vor Gericht zu stellen und Militärverfahren gegen Zivilisten abzuschaffen. "Wir sind keine Verräter" und "Polizei und Volk Hand in Hand," riefen sie den Passanten zu.


Ivesa Lübben, Politologin.


Anmerkungen

(1) Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly. Sie geht dabei Hinweisen ans britischen Geheimdienstkreisen nach, wonach der Innenminister selber in den Anschlag verwickelt gewesen sein soll, um unter Hinweis auf mögliche islamistische Gefahren, die Repressionsmaßnahmen gegen die Opposition zu rechtfertigen.

(2) Mit der Radikalisierung der Arbeiterbewegung verloren die staatlichen Gewerkschaften ihren Einfluss in der Arbeiterschaft. Die Kirche, die sich vorbehaltlos hinter Mubarak stellte, begann an den Intentionen zu zweifeln. Bei den Parlamentswahlen ließ der koptische Papst Shenouda, sonst immer ein glühender Mubarak-Anhänger, verkünden, er würde diesmal die liberale, oppositionelle Wafd-Partei wählen. Auch mit den Sufi-Orden, bis dato immer ein willkommenes islamische Gegengewicht zur Muslimbruderschaft, legte sich das Regime an, nachdem es sich in interne Wahlen eingemischt hatte und mit dem Hinweis auf die Öffentliche Ordnung dhikr-Sitzungen nach dem Freitagsgebet mittels Polizeieinsätzen verbot. Auch war das Regime selber zwischen der traditionellen Staatsbourgeosie und den neureichen Günstlingen Gamal Mubaraks gespalten.

(3) Auch vorher gab es oppositionelle Abgeordnete, aber nicht in so hoher Zahl. Bei den Wahlen 2007 z.B. gewannen die Muslimbrüder 17 Mandate.


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Inhaltsverzeichnis - inamo spezial, Sonderheft Frühjahr 2011

GAME OVER
- "Ändert das System, es funktioniert nicht mehr ..." von Helga Baumgarten

Tunesien:
1999 Bourgibas Erbe - der unmögliche Machtwechsel, von Kamel Jendoubi
Auch Europa hält sich seine Despoten: Das tunesische Modell, von Sihem Bensedrin und Omar Mestiri
Die tunesische Revolution, von Werner Ruf
Umbruch in Tunesien - Die Menschen hier sind Helden, von Alfred Hackensberger
Laizismus und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Martina Sabra
Rachid al-Ghannouchi, von Lutz Rogler
Die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens)

Ägypten
Ägyptische Wirtschaftsreform, Vers. 4.3. - Freuen Sie sich schon jetzt auf Updates! Von Ulrich G. Wurzel
Marionetten oder Marionettenspieler? Großunternehmer und Manager, von Stephan Roll
Ägypten, von unten gesehen, von Issam Fawzi
Al-Jama'a al-islamiyya - zwischen Isolation und Integration, von Lutz Rogler
Justiz und Politik - Die Illusion elitärer Demokratie, von Sherif Younis
Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie, von Joel Beinin
Mediale Strategie-Spiele - Ein ägyptisches Tagebuch, von Viola Shafik
Die Rolle der sozialen Bewegungen, von Ivesa Lübben
Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution, von Ingrid El Masry
Die Muslimbrüder, von Ivesa Lübben
Die ägyptische Revolution: Neue Wege für die Muslimbrüder, von Lutz Rogler
Ägyptens Militärbourgeoisie, von Matthias Kunde
Web 2.0 und der autoritäre Staat - Soziale Netzwerk Revolutionen, von Christian Wolff
Eine Villa im Dschungel, von Uri Avnery

Marokko
- Stabile Monarchie?, von Isabelle Werenfels
- Marokko 20. Februar 2011, von Jörg Tiedjen

Algerien
Einzigartig: Die algerische Krise, von Lahouari Addi
Abulqasim ash-Shabbi: An den Tyrannen (1927)
Netzwerke an der Macht: Staatsbankrott und Raubwirtschaft, von Omar Benderra
2006: Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung, von Algeria-Watch
Kein Volksaufstand in Algerien, von Abida Semouri

Jordanien
Proteste in Jordanien: Brotunruhen, arabische Solidarität, tribaler Islamismus, von André Bank
Jordanien's Regime hat dazugelernt, die Opposition nicht. Von Hisham Bustani

Syrien
- 1:0 fürs Regime. In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus, von Muriel Asseburg

Jemen
- Die Dynamiken der Proteste im Jemen und ihre Besonderheiten, von Jens Heibach

Libyen
- Was kommt nach Mu'ammar al-Qaddhafi? Von Alessandro Bruno und Arezki Daoud


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Quelle:
INAMO spezial, Jahrgang 17, Sonderheft Frühjahr 2011, Seite 51 - 55
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011