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NAHOST/815: Jordaniens Regime hat dazugelernt - die Opposition nicht (inamo)


inamo spezial - Sonderheft - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Jordanien's Regime hat dazugelernt - die Opposition nicht.

Von Hisham Bustani


Es scheint, dass die Intellektuellen und die oppositionellen Eliten in Jordanien wie auch der gesamten arabischen Welt die Lehren aus den Revolutionen in Ägypten und Tunesien nicht verstanden haben. Dieses Unvermögen verdeutlicht, wie weit sich diese Eliten vom jenem "Volk" entfernt haben, das sie immer verklärt haben. Diese Eliten haben nie revolutionäre Theorien entwickelt und vertreten, oder intellektuelle Munition oder effektive Analysen geliefert, die eine Volksrevolution hätten anfachen oder führen können, wie es der Fall war bei der Französischen Revolution 1789 oder der Russischen Revolution 1917.


Den arabischen Eliten gelang es nicht, Organisationsstrukturen zu bilden, die den stillen Protest und den aufgestauten Zorn der Bevölkerung zum offenen Ausbruch hätten bringen können: In Tunesien und Ägypten war die Transformation vom Schweigen zum offenen Ausbruch von Protesten weitgehend subjektiven und "spontanen" Faktoren geschuldet.(1)

Diesen Eliten gelang es nicht, das Potenzial des Volkes, die Mechanismen der Bewegung, die Grenzen der Toleranz, den Kulminationspunkt und die Faktoren, die die Situation unumkehrbar machten und Märtyrer im Kampf gegen das brutale Vorgehen des Staates entstehen ließen, vorauszusehen oder auch nur zu analysieren.

Niemand hat die Ereignisse in Tunis vorausgesehen. Als Muhammed Bouazizi sich am 17. Dezember 2010 selbst anzündete und die Proteste in Sidi Bouzeid auslöste, erwarteten nicht einmal die optimistischsten Analysen, dass sich die Dinge so rasant und dramatisch entwickeln würden. Die Ereignisse überschlugen sich und führten in weniger als einem Monat zur Flucht des diktatorischen Präsidenten und dem Sturz des Regimes am 14. Januar 2011. Das gleiche lässt sich über die Ereignisse in Ägypten sagen, wo, ausgehend von Protesten seit dem 25. Januar, am 28. Januar eine ausgewachsene Revolution begann, die zum Sturz des ägyptischen Regimes am 11. Februar führte; wiederum in weniger als einem Monat.

Der wichtigste Beitrag, den einige Vertreter der Eliten in Tunesien und Ägypten leisteten, bestand darin, ihre Stimme zu erheben und auf die Notwendigkeit eines vollständigen Wandels und der Ablösung der herrschenden Regime hinzuweisen und deutlich zu machen, dass sie diese Regime (samt ihrer Führungsriege, Sympathisanten und Institutionen) als illegitim erachteten. Es gab in beiden Ländern eine verbotene Opposition im Land selbst und eine Opposition im Exil. Während die offiziell anerkannte Opposition von bürgerlichen "Reformen" sprach, bestand diese radikale Opposition auf "Regimewechsel und Vertreibung des Tyrannen." Dieses Insistieren mag es ermöglicht haben, dass die Menschen ihre Angst überwanden und an einem kritischen Punkt zu einer Masse wurden, die zu offenem Widerstand gegen den gesamten Apparat des Regimes, von der Spitze (Präsident/Staatsoberhaupt) bis zur Basis (Regierungspartei, einflussreiche Kamarilla, Regierungsinstitutionen) bereit war.


Die Lehren der Revolutionen in Tunesien und Ägypten lassen sich in den folgenden neun Punkten zusammenfassen:

1. Das arabische Volk ist nicht "tot", wie vorher immer gedacht, hatte es doch über bedrückende Jahrhunderte hinweg keine nennenswerten Volksaufstände erlebt. Durch die jüngsten massiven Volksaufstände ist somit ein schweres Erbe lang andauernder Unterwerfung überwunden worden.

2. Das Volk kann, selbst bei Fehlen eines vorherigen intellektuellen Anstoßes, ein gesamtes herrschendes Regime stürzen, wenn die Situation einen Kulminationspunkt erreicht.

3. Das Volk ist den Intellektuellen und sowohl der offiziellen wie "alternativen" (radikaleren) Opposition weit voraus und politisch viel fortschrittlicher als diese.

4. Das Volk ist kein politisches Reservoir für irgendjemanden, schon gar nicht für jene, die vorgehen, "das Volk zu repräsentieren."

5. Die Verstärkung der Klassenschranken zwischen der herrschenden Klasse und ihren Verbündeten in der Wirtschaft auf der einen und der Masse der Bevölkerung auf der anderen Seite - mit allen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und Rechtsverletzungen, die damit einhergehen - sind der Hauptantrieb für die Revolution.

6. Ein revolutionärer Diskurs ist mit einem reformerischen Diskurs nicht vereinbar. Diese einfache Tatsache wird von Intellektuellen und der oppositionellen Elite fast immer ignoriert. Wenn es Reformen gibt, wird es keine Revolution geben, weil Reformen darauf angelegt sind, soziale Spannungen und offene Unzufriedenheit zu beschwichtigen. Reformen sollen die Löcher stopfen, die durch Korruption, Ausbeutung und Unterwürfigkeit geschaffen werden. Jeder Versuch, eine soziale Lösung durch "Reformen" und "Regierungsbeteiligung" zu erreichen, bedeutet nur, die Lebensdauer korrupter Regime zu verlängern und den Status Quo beizubehalten. Der fehlende Einfluss von wichtigen Reformbewegungen (wie der Muslimbruderschaft) auf die Proteste auf Tunesiens Straßen mag bei der raschen Kulmination der Proteste eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies gilt auch für die ägyptische Revolution, die fernab der Muslimbruderschaft und ihres Einflusses begann und ihren Lauf nahm.

7. Bisher hat sich die arabische Welt als unfähig erwiesen, Theorien zu entwickeln, die Volksbewegungen voraussagen, katalysieren und analysieren können und arabische Intellektuelle haben bisher nur vermocht, Volksbewegungen zu verfolgen und sie im Nachhinein zu analysieren. Arabische Intellektuelle sind in geradezu skandalöser Weise von den Regimes abhängig; sie müssen die Seiten wechseln.

8. Erfolgreiche revolutionäre Massenbewegungen erwachsen nicht aus partikularen (religiösen, ethnischen, regionalen oder sektiererischen) Interessen, sondern entspringen einem Nährboden von verbindenden Forderungen, die alle Trennlinien überlagern.

9. Die Hauptaufgabe der Intellektuellen und der oppositionellen Eliten liegt darin, die Schwellen der Angst überwinden zu helfen, Korruption, Tyrannei und Unterwerfung offen anzuprangern und sich mit Positionen zu solidarisieren, die die Klassenschranken verstärken.


Die "alternative" Opposition
In Jordanien scheint jedoch niemand aus den Lehren der Revolutionen in Tunesien und Ägypten gelernt zu haben. Die offizielle Opposition (die legalisierten Oppositionsparteien und Berufsverbände) setzt immer noch auf schwache reformistische Optionen, die eine Fortsetzung ihres gescheiterten Kurses, der 1989 begonnen hatte (damals wurde das Kriegsrecht in Jordanien aufgehoben und die sogenannte "demokratische Ära" begann). Diese Opposition, die allen offiziellen Oppositionsbewegungen in der arabischen Welt gleicht, ist während des letzten Jahrzehnts scharf und umfassend kritisiert worden; darauf muss hier nicht näher eingegangen werden.

Die "alternative" Opposition, die sich selbst als jene Kraft darstellt, die das politische Vakuum füllen kann, ist kaum besser: Sie hat einen "ostjordanischen" isolationistischen Charakter(2), positioniert sich auf der Basis einer postkolonialistischen Identität, über die kein interner Konsens besteht(3) und vertritt drittens die Identitätspropaganda der politischen Instanzen(4) (z. B. "Jordanien zuerst" und "Wir sind alle Jordanier", beides vom Regime gesponserte PR-Kampagnen zur Schaffung einer "jordanischen nationalen Identität).

Es ist bemerkenswert, das die "alternative Opposition" enge Verbindungen zur "alten Garde" pflegt, einer der beiden konkurrierenden "Flügel" des jordanischen Regimes, der nach dem Amtsantritt des jungen Königs Abdullah II marginalisiert wurde, als der König einen neuen "Flügel" in der Führungsriege, bestehend aus jungen Unternehmern (vor Ort als "Neoliberale" tituliert), etablierte. Die "alte Garde" ist nicht weniger "neoliberal", denn es waren ihre Vertreter, die mit der Umsetzung von IWF-Reformen, Privatisierungen und dem Rückzug des Staates aus seiner gesellschaftlichen Rolle, begannen.

Unter dem Einfluss der Proteste in Tunesien, die sich auf ihrem Höhepunkt befanden, wurde am Freitag, 14. Januar 2011 von der "alternativen Opposition" zu einem ersten "Tag des Zorns" aufgerufen, der bescheidene 500 Menschen zusammenbrachte. Die offizielle Opposition boykottierte die Veranstaltung, aber mit dem Fortschreiten der tunesischen Revolution, gingen sie am folgenden Freitag, 21. Januar 2011 in großer Zahl auf die Straße; die Zahl der Demonstranten stieg auf 10.000. Am dritten Freitag, dem 28. Januar, ging die Zahl der Demonstranten wieder zurück. Am vierten Freitag, dem 4. Februar, teilte sich der Protestzug in zwei Teile: Eine Demonstration fand am üblichen Ort in der Innenstadt statt, die andere mehrere Kilometer entfernt vor dem Büro des Ministerpräsidenten. Diese Trennung wird sich aufgrund "isolationistischer" Elemente innerhalb der Opposition und der Konzentration dieser Elemente in den überwiegend reformistischen Forderungen der "alternativen Opposition," die später von der offiziellen Opposition übernommen wurden, wahrscheinlich noch verstärken: Absetzung des Premierministers Sameer al-Rifa'i (der später wie erwartet entlassen wurde) und die Bildung einer Regierung der "nationalen Einheit".

Die "alternative Opposition" rekrutiert sich v. a. aus der Jordanischen Sozialen Linken, der Jordanischen Nationalen Initiative, der National-Progressiven Bewegung, dem Nationalkomitee der Armeeveteranen, dem jordanischen Schriftstellerverband und weiteren kleinen Gruppen wie der Demokratischen Jugendunion, der Philosophischen Gesellschaft, des Sozialistischen Thought Forums, der Versammlung tscherkessischer Jugend und dem Aktionsbündniss gegen Zionismus und Rassismus. Alle diese Gruppen (mit Ausnahme der der National-Progressiven Bewegung und des Nationalkomitees der Armeeveteranen) bilden die sogenannten "Bewegung des jordanischen Volkes." Und alle diese Gruppen (ohne Ausnahme) haben sich zur "Jordanischen Kampagne für Wandel - Jayeen" zusammengeschlossen und arbeiten politisch und organisatorisch eng zusammen.


Jordanien zuerst - und die Palästinenser?
Ein kurzer Blick auf einige Äußerungen dieser Gruppen wird klarer werden lassen, welche Positionen sie eigentliche vertreten: Nahed Hatter, der gegenwärtige Vorsitzende der National-Progressiven Bewegung, ehemaliger Vorsitzender der Jordanischen Sozialen linken und eine der Hauptpersonen der "alternativen Opposition," verfasste einen Artikel, in dem er einräumte, dass er mehrere "Brainstorming-Treffen" mit dem Direktor der Geheimdienstabteilung gehabt hatte.(5) In der libanesischen Zeitung al-Akhbar veröffentlichte er zudem einen Artikel, in dem er diesen Direktor verteidigte, nachdem dieser seinen Posten geräumt hatte, und bezeichnete ihn in beiden Artikeln als "eines der Symbole der jordanischen Nationalbewegung."(6) Omar Shaheen, eine führende Persönlichkeit der Jordanischen Sozialen Linken, schrieb, dass diese Treffen mit der Zustimmung der Bewegung erfolgt seien.(7) Darüber hinaus waren Hattar und die Jordanischen Sozialen Linken unter den ersten, die eine isolationistische postkoloniale Identität als legitim und Basis einer nationalen Befreiungsbewegung propagierten.(8)

Diese Vision wird von der Jordanischen Nationalen Initiative geteilt, die in der von ihr publizierten Literatur(9) zur Herausbildung einer "vollständigen und umfassenden jordanischen Identität" und der Formierung einer dezidiert jordanischen Nationalbewegung, losgelöst von einer palästinensischen Nationalbewegung, aufruft. Damit sollen eine "jordanische Gesellschaft" und eine "palästinensische Gesellschaft" als voneinander isolierte Einheiten behandelt werden, die gemeinsame Interessen haben. Die erste Version war auf der Webseite der jordanischen Nationalen Initiative mit den Symbolen der "Jordanien zuerst" und "Wir sind alle Jordanier" Kampagnen dekoriert.

Der jordanische Schriftstellerverband ist einer der größten Empfänger von Regierungsgeldern durch das Kulturministerium und die Stadtverwaltung von Amman und die meisten seiner Führungspersönlichkeiten sind entweder im staatlichen Kultur- und Medienbetrieb beschäftigt oder erhalten von dort eine Vielzahl von Leistungen.

Die Spitzen der National-Progressiven Bewegung nahmen an den jüngsten Parlamentswahlen teil, die von weiten Kreisen boykottiert und als Fortschreibung der Fragmentierung der jordanischen Gesellschaft in Klans, Familien und Regionen angesehen wurden. Die Wahlen und das Wahlgesetz galten auch als schwerer Schlag gegen die Möglichkeit echter Reformen.(10)

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass viele dieser Gruppen nur verschiedene Adressen für dieselben Personen sind. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Jordanische Nationale Initiative, der jordanische Schriftstellerverband, das Sozialistische Thought Forum, die Philosophische Gesellschaft und die Versammlung tscherkessischer Jugend verschiedene Gesichter derselben Gruppe von Personen sind, die im Grunde in der Jordanischen Nationalen Initiative organisiert sind, eng gefolgt von der Demokratischen Jugendunion und der Jordanischen Sozialen Linken.

Es gab keine ernsthaften Bemühungen, palästinensische Flüchtlinge in die Initiative zum "Tag des Zorns" einzubeziehen. Das Flüchtlingslager al-Baq'a, das am ersten "Tag des Zorns) in bescheidenem Umfang an den Demonstrationen teilnahm, wurde in dem Protestaufruf der Jordanischen Nationalen Initiative als einzige nicht erwähnt. Einige Organisationen in der Jayeen-Koalition sehen in den Palästinensern ein Auffangbecken für Neoliberalism und machen sie zu Klassengegnern von Ost-Jordaniern.


Mehr fällt der Opposition nicht ein?
Wie oben erwähnt liegt das Hauptproblem dieser Opposition in der Hauptforderung, die sie vertreten und die später von der offiziellen Opposition übernommen wurde: die Entlassung der Regierung von Sameer al-Rifa'i und die Bildung einer Regierung der "nationalen Einheit. "

Es ist allgemein bekannt, dass Minister in Jordanien nur eine ausführende Funktion haben. Sie verfügen über kein politisches Mandat, politische Richtlinien oder Strategien zu formulieren. Die Forderung nach einem Regierungswechsel wird keine strategischen Auswirkungen haben und ist eher als subtiler Versuch jener, die den Wechsel fordern, zu sehen, die Plätze derjenigen einzunehmen, die sie aus dem Amt entheben wollen. Niemand diskutiert die Legitimität der politischen Autorität in Jordanien. In der Tat geschieht eher das Gegenteil: Die offizielle wie die alternative Opposition sehen im Kopf des politischen Systems eine Art mäßigenden Weisen und dies trotz der Tatsache, dass er gemäß Verfassung drei Instanzen vorsteht. Beide Oppositionen fordern "einen politischen Wandel, aber keinen Regimewechsel."(11) Die Muslimbruderschaft ließ verlauten: "Die Islamisten in Jordanien fordern Reformen, keinen umfassenden Wandel. Wir erkennen die Legitimität des Regimes an,"(12) während die Jordanische Kampagne für Wandel (Jayeen), die alle alternativen Oppositionsgruppen umfasst, erklärte, dass "der König die einzige Konstante in der jordanischen Politik" ist, und seine konstitutionelle Immunität unterstrich.

Dann passierte, was zu erwarten gewesen war: die Regierung von al-Rifa'i wurde entlassen und ein Vertreter der alten Garde, Ma'rouf al-Bakheet, ein ehemaliger General und Botschafter in Israel, wurde zum Premierminister ernannt. Ebenfalls wie zu erwarten gab es ein kurzes Aufatmen in beiden Kreisen der Opposition. Das Nationalkomitee der Armeeveteranen und die Führung der National-Progressiven Bewegung begrüßten den neuen Premierminister. Der Sprecher der Jordanischen Kampagne für Wandel (Jayeen) nannten dessen Ernennung "einen Schritt in die richtige Richtung,"(13) während Mahdi al-Sa'afin, ein junges Führungsmitglied sowohl von Jayeen wie auch der Jordanischen Sozialen Linken, erklärte, dass "die Jordanische Kampagne für Wandel dem neuen Premierminister eine Chance gibt, das Reformprogramm umzusetzen."(14) Auf Seiten der offiziellen Opposition "verschwanden die Rufe nach Ablösung der Regierung,"(15) wie auch der Sitzstreik der Islamisten und anderer legalisierter Parteien, da sie der Regierung von al-Bakheet eine "Probezeit" zugestehen wollen.(16)

Glauben die Teilnehmer an Jordaniens "Tag des Zorns", dass die Absetzung eines Ministers oder Premierministers oder eine Regierungsumbildung ausreichen werden, um wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Wandel im Land durchzusetzen? Erinnern sie sich an die gewaltige Kampagne gegen den ehemaligen Planungsminister Basem Awadallah, der als der einzige und vornehmliche Verantwortliche für den wirtschaftlichen Zusammenbruch und Korruption in Jordanien ausgemacht wurde? Awadallah wurde entlassen, aber nichts änderte sich; die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich zusehends, Preise steigen inflationär. Später wurde Sameer al-Rifa'i, der junge Geschäftsmann und Newcomer in der Regierung, für Jahrzehnte der Korruption verantwortlich gemacht. Sein Rückzug wurde, wie der von Awadallah, als magische Lösung für alles aufgebauscht. Es darf nicht vergessen werden, dass derartige Akte der Dämonisierung Ausdruck isolationistischer Tendenzen der alternativen Opposition darstellen. Trotz der überwältigenden Präsenz einflussreicher "Neoliberaler" haben diejenigen, die dämonisiert werden, fast immer einen palästinensischen Hintergrund und keine Verbindungen zu einem der großen Klans oder ostjordanischen Familien. In einem beispiellosen jüngsten Vorfall wurde Königin Rania (die palästinischer Herkunft ist) von Klanvertretern als ein Symbol der Korruption angegriffen und mit Leila Tarabulsi, der Frau des gestürzten tunesischen Diktators Ben Ali, verglichen.(17)


König Husseins Politik der "Absorption der Opposition"
Sollte sie die Gelegenheit zur Regierungsbildung erhalten, glaubt die Opposition, dass sie trotz der Tatsache, dass Jordanien stark von ausländischer Hilfe abhängig ist und ebenso leicht wie Gaza von der Welt abgeschnitten werden kann, das Land aus der Abhängigkeit zu Souveränität und Unabhängigkeit wird führen können?

Innerhalb der existierenden Rahmenbedingungen wird jeder, der einer Regierung auf Grundlage einer lokalen "nationalen" Agenda beitritt, nur zwei Optionen haben: Rücktritt oder "sich der Realität stellen." Die Realität des postkolonialen Staates und die sich daraus ergebende Identität besteht in Unterwerfung, Korruption und Funktionalität. Die Bildung oder der Beitritt zu einer Regierung ist der erste Schritt zur Aufnahme in die politische Elite, deren Regeln und Mechanismen von der politischen Autorität etabliert wurden und denen man nicht entrinnen kann.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die politische Autorität während der Herrschaft des früheren König Hussein die einzigartige Eigenschaft ha tte, die Opposition zu absorbieren. Es wurden sogar jene absorbiert, die gegen ihn zu putschen versucht hatten; sie wurden zu Ministern, Botschaftern und selbst Geheimdienstdirektoren. Die Absorption der Opposition stellte eine wichtige Säule des Systems dar, die während der Herrschaft des neuen Königs verloren ging, als sich die Prioritäten hin zu jungen Geschäftsleuten hin verlagerten, die nur dem Profit und keine regionalen oder Stammeszugehörigkeiten verpflichtet sind. Dementsprechend hat die politische Autorität in Jordanien eine Klassenidentität geschaffen, während die Opposition die Klassenschranken dadurch abzuschwächen versucht, dass sie in die Strukturen des Regimes drängt und die alte Garde und Personen, die die herrschende Elite erneut mit den traditionellen Elementen der Gesellschaft zu verbinden suchen, zurückdrängt. Dies wird die sich entwickelnde Klassenstruktur verdecken und Klassenspannungen hervorrufen, die den endlosen Kreislauf von Korruption und Unterwerfung fortschreiben. Die Forderung nach einer Regierung der "nationalen Einheit" verweist auch auf den Wunsch der von den Machtstrukturen Ausgeschlossenen, ihre Positionen innerhalb der Machtstrukturen zurückzugewinnen und sich ihren Anteil vom Kuchen zu sichern. Die Forderung zeugt sicherlich nicht von einem allgemeinen Wunsch nach "umfassendem Wandel," der sich vollziehen könnte, wenn sie außerhalb der Machtstrukturen verblieben.

Die Lehren aus den Revolutionen in Tunesien und Ägypten stießen dennoch auf offene Ohren, nämlich auf jene der politischen Autorität! Es wurden Subventionen für Bedarfsgüter wieder eingeführt, die vorher abgeschafft worden waren,(18) es wurde eine Erhöhung des Monatslohns für Angestellte im öffentlichen Dienst angekündigt,(19) Vertreter der Opposition wurden zu Auftritten im staatlichen Fernsehen eingeladen.(20) Auch die Demonstrationen zum "Tag des Zorns" wurde nicht verboten, noch wurden offizielle Genehmigungen dafür verlangt.(21) Während der Demonstrationen war die Polizei nicht präsent; einige Polizisten verteilten sogar Saft und Wasser an die Demonstranten.(22)

Das Regime in Jordanien hat aus den Revolutionen in Tunesien und Ägypten die richtigen Lehren gezogen; die Opposition jedoch nicht!


Hisham Bustani, politischer Aktivist, Schriftsteller, Mitglied des Excecutive Committee of the National Campaign for Bread and Democracy, ehemaliger Sekretär des Socialist Thought Forum in Jordanien. Aus dem Englischen von Anja Zückmantel.


Anmerkungen

(1) Subjektiv meint hier, dass der "Reifungsprozess" intern (in der Bevölkerung selbst) und nicht extern (ausgelöst von der intellektuellen Elite) stattfand.

(2) zwei Segmente der jord. Gesellschaft: Die Hälfte der Bevölkerung (drei Millionen) ist palästinensischer Herkunft. Die politische Autorität hat eine klare Trennlinie zwischen "Ostjordaniern" (= jordanische Herkunft) und "Palästinensern" (= palästinensische Herkunft) gezogen. Entsprechend gibt es auch in der 1. Fußballliga zwei Mannschaften.

(3) Die territorial Aufteilung des "Bilad al-Sham" (heute Syrien, Libanon, Palästina und Jordanien) wurde von den französischen und britischen Kolonialmächten vorgenommen. Vor dieser Teilung bildete das Gebiet eine sozioökonomische Einheit. Die aus dieser Teilung hervorgegangenen "Staaten" und "nationalen Identitäten" verfügten weder über ein Befreiungspotential noch über echte Unabhängigkeit. Vgl.: Hisham Bustani, The Deleted Memory: 'Inventing' Palestine and 'Discovering' Lebanon. Joseph Massad, Colonial Effects: The Making of National Identity in Jordan, New York: Columbia University Press, 2001.

(4) Curtis Ryan, 'We Are All Jordan' ... But Who is We?, Middle East Report Online, und Marc Lynch, No Jordan Option, Middle East Report Online.

(5) Nahed Hattar, Farwell to al-Thahabi: Eine strategischer Kopf, der den Geheimdienst anführt und lenkt (Arabisch), www.allofjo.net 29.12.2008, inzwischen von der website entfernt.

(6) Nahed Hattar, Ein jordanische Phänomen. Der Direktor des Geheimdienstes ist ein Bürger und politischer Aktivist (Arabisch), al-Akhbar (Libanon), 3.2.2009.

(7) Omar Shaheen, Was brachte Nahed Hattar und den Geheimdienstdirektor zusammen? (Arabisch), www.joleft.net, 31.12.2008. Inzwischen von der website entfernt.

(8) Hisham Bustani, Die isolationistischen Illusionen der Jordanischen Sozialen Linken (Arabisch), Kan'an e-Bulliten, issue 1583, 2.7.2008, http://www.kanaanonline.org/articles/01583.pdf.

(9) Jordanische National Initiative: Theoretische Basis. Studien und Artikel (Arabisch), Amman, 2009.

(10) Jillian Schwedler and Josh Sowalsky, Jordan's Boycott and Tomato Woes, Foreign Policy, November 7, 2010.

(11) Oaraib al-Rintawi, Wandel und die drei Schichten des Regimes (Arabisch), Zeitung ad-Dustour (Jordan), 2.2.2011.

(12) Hadeel Ghabboun, Islamisten fordern Regierungswechsel (Arabisch), Zeitung al-Ghad (Jordan), 1.2.2011.

(13) Muhammad al-Najjar, Die Ernennung von al-Bakheet zwischen Akzeptanz und Ablehnung (Arabisch), al-Jazeera Net, 1.2.2011.

(14) Hadeel Gabboun, Demonstrationen fordern umfassende Reformen (Arabisch), Zeitung al-Ghad (Jordan), 5.2.2011.

(15) Ebd.

(16) Majed Toubeh, Das Treffen des Königs mit den Führern der islamischen Bewegung markiert eine Periode politischer Offenheit, die den Optimismus der Opposition schürt (Arabisch), Zeitung al-Ghad (Jordan), 7.2.2011.

(17) http://www.guardian.co.uk/world/2011/feb/15/bedouin-accuse-jordan-queen-corruption.

(18) Jumana Gneimat, Nachspielzeit (Arabisch), Zeitung alX-Ghad (Jordan), 23.1.2011.

(19) Mahmud Tarawneh, Lohnsteigerung um 20 Dinar ab Monatsende (Arabisch), Zeitung al-Ghad, 23.1.2011.

(20) Ahmad abu-Khalil, Zum Auftritt des Ministers und des Sheiks (Arabisch), Zeitung al-Arab al-Yawm (Jordan), 22.1.2011.

(21) Jumana Gneimat, ebd.

(22) Zeitung Al-Ghad (Jordan) 17.1.2011 and 29.1.2011, Zeitung al-Arab al-Yawm (Jordan) 22.1.2011.


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Inhaltsverzeichnis - inamo spezial, Sonderheft Frühjahr 2011

GAME OVER
- "Ändert das System, es funktioniert nicht mehr ..." von Helga Baumgarten

Tunesien:
1999 Bourgibas Erbe - der unmögliche Machtwechsel, von Kamel Jendoubi
Auch Europa hält sich seine Despoten: Das tunesische Modell, von Sihem Bensedrin und Omar Mestiri
Die tunesische Revolution, von Werner Ruf
Umbruch in Tunesien - Die Menschen hier sind Helden, von Alfred Hackensberger
Laizismus und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Martina Sabra
Rachid al-Ghannouchi, von Lutz Rogler
Die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens)

Ägypten
Ägyptische Wirtschaftsreform, Vers. 4.3. - Freuen Sie sich schon jetzt auf Updates! Von Ulrich G. Wurzel
Marionetten oder Marionettenspieler? Großunternehmer und Manager, von Stephan Roll
Ägypten, von unten gesehen, von Issam Fawzi
Al-Jama'a al-islamiyya - zwischen Isolation und Integration, von Lutz Rogler
Justiz und Politik - Die Illusion elitärer Demokratie, von Sherif Younis
Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie, von Joel Beinin
Mediale Strategie-Spiele - Ein ägyptisches Tagebuch, von Viola Shafik
Die Rolle der sozialen Bewegungen, von Ivesa Lübben
Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution, von Ingrid El Masry
Die Muslimbrüder, von Ivesa Lübben
Die ägyptische Revolution: Neue Wege für die Muslimbrüder, von Lutz Rogler
Ägyptens Militärbourgeoisie, von Matthias Kunde
Web 2.0 und der autoritäre Staat - Soziale Netzwerk Revolutionen, von Christian Wolff
Eine Villa im Dschungel, von Uri Avnery

Marokko
- Stabile Monarchie?, von Isabelle Werenfels
- Marokko 20. Februar 2011, von Jörg Tiedjen

Algerien
Einzigartig: Die algerische Krise, von Lahouari Addi
Abulqasim ash-Shabbi: An den Tyrannen (1927)
Netzwerke an der Macht: Staatsbankrott und Raubwirtschaft, von Omar Benderra
2006: Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung, von Algeria-Watch
Kein Volksaufstand in Algerien, von Abida Semouri

Jordanien
Proteste in Jordanien: Brotunruhen, arabische Solidarität, tribaler Islamismus, von André Bank
Jordanien's Regime hat dazugelernt, die Opposition nicht. Von Hisham Bustani

Syrien
- 1:0 fürs Regime. In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus, von Muriel Asseburg

Jemen
- Die Dynamiken der Proteste im Jemen und ihre Besonderheiten, von Jens Heibach

Libyen
- Was kommt nach Mu'ammar al-Qaddhafi? Von Alessandro Bruno und Arezki Daoud


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Quelle:
INAMO spezial, Jahrgang 17, Sonderheft Frühjahr 2011, Seite 87 - 90
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2011