Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/874: Libyen - Hilfe beim demokratischen Übergang, Polen wirbt mit Solidarnosc-Vergangenheit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2011

Libyen: Hilfe beim demokratischen Übergang - Polen wirbt mit Solidarnosc-Vergangenheit

von Robert Stefanicki


Bengasi, 7. November (IPS) - Nach der Befreiung Libyens war Polens Außenminister Radek Sikorski als erster ausländischer Staatsgast vor Ort, um den Rebellen die Hilfe seines Landes beim demokratischen Übergang anzubieten. So sollen die Libyer von dem reichen Erfahrungsschatz der Polen profitieren, die in den 1980er Jahren mit ihrer Solidarnosc-Solidaritätsbewegung den Umbruch im Ostblock einleiteten.

"Wir wollen, dass Sie von unseren Erfolgen und Fehlern lernen", sagte Sikorski nach dem Treffen mit dem Chef des Nationalen Übergangsrates, Mustafa Abdel Jalil, Ende Oktober. Zudem bot er die Versorgung der Kriegsverletzten durch polnische Ärzte und Pflegekräfte an, die inzwischen in Misrata ihre Arbeit aufgenommen haben.

Polens Solidarnosc-Gewerkschaft, die 1980 aus einer Streikbewegung von Arbeitern hervorgegangen war und entscheidend zu der politischen Transformation in Polen und der politischen Wende von 1989 beigetragen hatte, ist vielen Libyern ein Begriff. "Wir erinnern uns an Ihre mutige Solidaritätsbewegung und wollen von Polen lernen, wie man die Diktatur überwindet", sagte Abdalla M. Fellah, Leiter des Libyschen Unternehmerrats.

Ähnlich hatte sich sein Landsmann Mohamed S. Salem Abunnaja, ein ehemaliger politischer Häftling, geäußert, als er zusammen mit Tunesiern und Ägyptern Anfang Oktober die Wahlen in Polen beobachtete. "Wir wollen das polnische Experiment studieren und ähnliche rechtliche Schritte in unserem Land einleiten", sagte Abunnaja damals auf einer Pressekonferenz in Warschau. Libyen sei, wie Polen 1989, an einem wichtigen historischen Punkt angekommen.


Lebhafte Diplomatie

Seit der Übernahme des EU-Vorsitzes Mitte des Jahres hat Polen sein Engagement gegenüber den Ländern Nordafrikas erheblich verstärkt. Viele polnische VIPs fliegen nach Tunis, Kairo und Tripolis, während Vertreter der arabischen Revolution nach Warschau kommen.

Auf einer Konferenz in Polen hatte ein politischer Gegner des abgesetzten ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak mit einer Solidarnosc-Binde am Arm den Leiter des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, mit den Worten umarmt. "Sie haben uns beigebracht, Flugblätter zu drucken."

Ein Besuch des ehemaligen Solidarnosc-Chefs Lech Walesa in Tunis im Mai war für die Menschen vor Ort mehr als eine gute Gelegenheit, um sich mit dem Friedensnobelpreisträger gemeinsam ablichten zu lassen. Die Menschen hatten viele Fragen an Walesa, der seinem Land den Weg in die Demokratie geebnet hatte.

Anstatt alle ehemaligen Sicherheitskräfte einzusperren, empfahl er den Tunesiern, diejenigen in die neue Ordnung aufzunehmen, an deren Händen kein Blut klebe. Auch wies er seine Zuhörer darauf hin, dass es durchaus sinnvoll sein könne, die Präsidentschafts- vor den Parlamentswahlen stattfinden zu lassen. So sei ein gewählter Staatspräsident eher in der Lage, einem Land Stabilität und Einheit zu bringen, als ein fragmentiertes Parlament.

Der polnische Senatsvorsitzende Bogdan Borusewicz, einer der einflussreichsten Solidarnosc-Vertreter, besuchte Kairo im Juli. "Auf dem Tahrir-Platz zu stehen, war wie ein Déjà-vu für mich", meinte er im Gespräch mit IPS. "Die gleichen Diskussionen, die gleiche Spannung wie in Polen vor 30 Jahren. "

Damals sei die Bewegung nicht nur von Moskau, sondern auch im Westen kritisiert worden, so Borusewicz. "'Was wollen diese Polen, die haben doch keine Ahnung von Demokratie', hat man damals gesagt. Heute hören wir die gleichen Argumente wie 'Dieser Arabische Frühling gefährdet die internationale Stabilität!' Doch sie sind falsch. Jede Massenbewegung für Freiheit - ob in Lateinamerika in den 1970er Jahren, Osteuropa in den 1980ern oder jetzt in Nahost - wird von dem gleichen starken Wunsch nach Freiheit getragen."

Doch kann man die 30 Jahre alten Erfahrungen eines osteuropäischen Landes auf die Realität eines arabisch-afrikanischen Staates übertragen? Die Frage lässt sich nach Ansicht von Beobachtern mit dem Hinweis beantworten, dass in den 1990er Jahren Polen eine Rentenreform nach chilenischem Vorbild durchgeführt hat.


Gemeinsamkeiten

"In vielerlei Hinsicht haben Tunesier mehr mit Polen gemein als mit den Franzosen, nimmt man etwa die konservative Haltung gegenüber Homosexualität, Abtreibung und Euthanasie", sagte Adam Balcer, Programmdirektor der Denkfabrik DemosEUROPA. "Unterschiede, wie sie zwischen polnischen Regionen bestehen, existieren auch zwischen Tunesiens gut entwickelten Küsten- und unterentwickelten Zentralregionen."

Aleksander Smolar von der Batory-Stiftung, die sich für den Aufbau einer offenen Gesellschaft und die Verbesserung der Demokratie in Polen einsetzt, ist davon überzeugt, dass auch die Reform der polnischen Lokalregierungen von 1998 den zentralisierten arabischen Staaten zum Vorbild gereichen könnte.

"Es stimmt. Tunesier sind traditionell eher dem Süden Europas zugeneigt. Sie wissen sehr wenig von Polen", sagte Smolar, der Lech Walesa nach Tunesien begleitet hatte. "Doch auf der anderen Seite sind unsere Beziehungen frei von störenden Komplexen, war Polen nie eine Kolonialmacht."

Von der staubigen postrevolutionären Realität der Stadt Bengasi aus gesehen, wirkt die polnische Annäherung wie das Werben um einen geschäftigen und unentschlossenen Junggesellen. "Es gibt zwar ein allgemeines Interesse, doch ist es für sie (die Libyer) schwer, eine Entscheidung zu treffen, weil sie nicht wissen, wer zuständig ist", meinte dazu ein polnischer Diplomat.


Zweifel an Beweggründen

Das plötzliche Interesse Polens an den arabischen Staaten hat in einigen Kreisen die Frage nach den Beweggründen der polnischen Außenpolitik aufgeworfen. "Aus unserer Sicht geht es weniger um einen substanziellen Dialog als um die Interessen Polens", meinten Vertreter der Zagranica-Gruppe, einem Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, in Anspielung auf das polnische Interesse an einer Rückkehr der Energie- und Baufirmen nach Libyen. "Wir erwarten von unserer Regierung jedoch, dass sie einen offenen und transparenten Prozess zur Evaluierung der Entwicklungsbedürfnisse der neuen Demokratien einleitet."

"Damit unsere Präsenz in Nordafrika einen Wandel in der Außenpolitik nach sich zieht, müssen wir mehr Entwicklungshilfe leisten und mehr Stipendien vergeben", meinte Balcer. Derzeit studieren etwa 300 junge Menschen aus nahöstlichen Ländern an polnischen Universitäten. In der Ukraine sind es hingegen 25 Mal so viele. (Ende/IPS/kb/011)


Link:
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105746

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2011