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NAHOST/875: Zwei Aktivistinnen im Interview zur Situation in Ägypten (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 117, 3/11

Die ganze Gesellschaft steht auf Zehenspitzen Zwei Aktivistinnen im Interview zur Situation in Ägypten

Von Claudia Dal-Bianco und Helga Neumayer


Die Programmleiterin Dina Raouf Khalil und Vorstandsfrau Nagwa Farag von der Association of Upper Egypt for Education and Development (AUEED)(1) waren Ende Mai in Wien zu Besuch. Das Ziel dieser Organisation ist es, lokale Gesellschaften durch Bildungsprogramme für Kinder, Frauen und Jugendliche zu stärken. Die beiden Aktivistinnen setzen sich für Frauenrechte ein und sind an der momentanen Diskussion zur Erstellung einer neuen ägyptischen Verfassung aktiv beteiligt. Claudia Dal-Bianco und Helga Neumayer von der Frauensolidarität sprachen mit den beiden über die Vision von einem geschlechtergerechten Ägypten.


FRAUENSOLIDARITÄT: Wie steht es um eine neue Verfassung in Ägypten? Welche Rolle nehmen Frauen in der verfassunggebenden Versammlung ein?

NAGWA FARAG: Es gibt eine vorläufige Verfassung. Teile der alten Verfassung wurden übernommen, und nur ein paar Ergänzungen wurden eingearbeitet. Es wird keine neue Verfassung vor 2012 geben, denn vorher sind noch Parlamentswahlen, dann Präsidentschaftswahlen und dann erst die Wahlen des Parlaments für den Verfassungsrat. Es gibt schon ein paar Punkte im Vorfeld der Verfassungserstellung, bei denen Frauen Einspruch erheben. Zum Beispiel soll der Präsident von Ägypten ägyptische Eltern haben und mit einer Ägypterin verheiratet sein. Sie denken also gar nicht daran, dass der Präsident eine Frau sein könnte. Es gibt bis jetzt zwei Frauen, die für die Präsidentschaft kandidieren. In unserer vorherigen Verfassung von 1961 war es klar, dass gleiches Recht für Bildung und Meinungsäußerungen möglich ist. Für Frauen aus meiner Generation war das ein großer Schritt vorwärts und von der Gesellschaft eher anerkannt als früher, zu Zeiten meiner Mutter. Aber jetzt sieht es so aus, als hätten wir einen Rückschritt. Wir wissen noch nicht, wie es enden wird. Jeder Tag bringt nun etwas Neues.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wer sind die Frauen, die an der Schaffung der Versammlung beteiligt sind?

NAGWA FARAG: Da ist Justice Tahany Al Guebaly, sie arbeitet im Verfassungsgerichtshof und setzt sich für die Rechte von Frauen ein. Viele Frauen, Frauensolidaritätsgruppen und Frauenbewegungen unterstützen sie. Für den Verfassungsrat wurde keine Frau nominiert.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie kann das sein?

NAGWA FARAG: Die elf oder zwölf Leute aus dem Verfassungsrat wurden von der Armee nominiert, darunter, wie gesagt, keine Frau. Wir haben das beanstandet, weil die Änderungen, die vorgesehen sind, eine Bedrohung für die Errungenschaften darstellen, die die Frauen über Jahre hinweg erlangt haben. Fundamentalistische Gruppen zweifeln nun an der Legitimität von Gesetzen, die während Mubaraks Regime entstanden sind. Das ist eine Gefahr für uns Frauen. Zum Beispiel wurde vor 20 Jahren das Scheidungsgesetz verabschiedet. Eine Frau kann die Scheidung unterzeichnen und ist frei. Nun wollen ein paar Gruppen dieses Gesetz ändern, mit dem Argument, dass es zur Zeit Mubaraks verabschiedet wurde und sein Regime korrupt war.

Ein anderes Gesetz, das bedroht ist, stellt das Sorgerecht für Kinder dar. Gemäß diesem Gesetz hat die Mutter das Sorge recht für das Kind bis zu seinem 15. Lebensjahr. Wenn die Mutter für das Kind sorgt, heißt das, dass sie auch die Wohnung behält, in der sie lebt. In Ägypten herrscht aber Wohnungsmangel, und die geschiedenen Väter wollen ebenfalls in ihren Wohnungen bleiben. Also versucht man nun, das Alter der Kinder für das Sorgerecht auf sieben oder acht Jahre zu senken.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie würden Sie eine ideale Gesellschaft beschreiben, welche Position hätten Frauen darin?

NAGWA FARAG: Redefreiheit und ein guter Gesundheitszustand gehören für mich zum Wesen einer idealen Gesellschaft, egal für welches Geschlecht. Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und respektiert zu werden. Das Furchtbarste ist, wenn du krank bist und dir nicht die Medikamente leisten kannst. Ich habe es schon oft erlebt, dass eine Frau einen Kredit aufgenommen hat, um ihren Kindern Medikamente zu kaufen. Wenn Meinungsfreiheit ausgeübt werden kann und du keine Angst davor haben musst, krank zu werden, und du deinen Kindern ein besseres Leben ermöglichen kannst, so ist das für mich die Basis für eine ideale Gesellschaft. Frauen sind in dieser idealen Gesellschaft gleichberechtigte Partnerinnen, haben die gleichen Verantwortungen und die gleichen Rechte wie alle.

DINA RAOUF KHALIL: Alle - egal ob Mann oder Frau - sollen die Basisdienstleistungen erhalten, aber auch die Basisrechte, sich auszudrücken, gehört zu werden, teilnehmen zu können, sich zur Wehr zu setzen, aber auch Dinge zu hinterfragen. Ich finde, Frauen und Männer sollen die gleichen Rechte und gleichen Chancen haben.

FRAUENSOLIDARITÄT: Seid ihr voller Hoffnung?

NAGWA FARAG: Ja, wir sind Kämpferinnen! Jeder Tag ist für uns der 11. Februar und bringt Überraschungen, nette und schlechte, frustrierende und hoffnungsvolle. Wir wissen, dass wir durch diese Zeit durchmüssen. Aber manchmal ist das Risiko zu groß. Du weißt nicht, ob es eine richtige Bedrohung ist oder ob es etwas ist, das wieder weggeht. Aber nichtsdestotrotz musst du aufstehen und einen Punkt machen und darfst nicht warten, dass es jemand für dich macht. Also die ganze Gesellschaft steht auf Zehenspitzen. Alle zivilgesellschaftlichen Bewegungen sind auf den Zehenspitzen. Es gibt zwei bis drei Treffen täglich, entweder von der Zivilgesellschaft oder von Geberorganisationen, Medien, liberalen Parteien oder auch nur in der Nachbarschaft aus Sicherheitsgründen.

Die Konferenz am 4. Juni(2) wird eine Möglichkeit für Frauengruppen, einen Konsens zu finden. Durch Retrobewegungen, Fundamentalistinnen und Konservative ist die Revolution bedroht. Gegen all diese Änderungen müssen wir aufstehen. Wir haben es am Frauentag versucht. Wir haben brutale Zeiten erlebt. Junge Frauen haben demonstriert und wurden am Tahrir-Platz vom Militär brutal behandelt. Wir tragen zur Revolution bei. Wir stehen denselben Dingen gegenüber, wir haben dieselben Agenden, wir glauben an dasselbe. Steckt uns nicht zurück nach Hause! Wir müssen uns verteidigen.

Am 4. Juni wird es einen Verfassungsentwurf von Frauen geben. Ein Vorteil dieser Konferenz ist es, dass alle daran teilnehmen können, nicht nur Vertreterinnen von NGOs. So werden wir zu einem Manifest kommen, das von allen aktiven Frauen aus Ägypten geprägt sein wird. Das ist unser Recht. Wir wollen das verteidigen, genauso wie die Revolutionsgruppen Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Würde verteidigen. Das ist unsere Definition von Freiheit und Gleichberechtigung.


Exkurs:
Die All Women Conference ist gut verlaufen, und die Frauen einigten sich auf ein Manifest, das veröffentlicht wurde. Dieses betont, dass Frauen die Revolution ebenso unterstützt haben und dass die drei Hauptprinzipien "Wertschätzung, Freiheit, soziale Gerechtigkeit" Forderungen von allen Frauen sind. Frauengruppen vernetzen sich, um sicherzugehen, dass gleiche Rechte klar und explizit sind und dass Diskriminierungen für zukünftige Gesetzgebungen vermieden werden.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wir danken für das Gespräch.



Anmerkungen:

(1) Association of Upper Egypt for Education and Development (AUEED) beschäftigt sich seit 1940 mit Bildungsprojekten in Ägypten. Dina Raouf Khalil und Nagwa Farag waren als Projektpartnerinnen der Dreikönigsaktion der katholischen Jungschar Österreichs (DKA) Ende Mai zu Besuch in Wien.

(2) Am 4. Juni 2011 fand in Kairo die All Women Conference statt.


Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Dal-Bianco


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 117, 3/2011, S. 16-17
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011