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NAHOST/891: Libyen - Schwieriger Wiederaufbau in Sirte, traumatisierte Stadt nicht in Feierstimmung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Februar 2012

Libyen: Schwieriger Wiederaufbau in Sirte - Traumatisierte Stadt nicht in Feierstimmung

von Rebecca Murray


Sirte, Libyen, 17. Februar (IPS) - Zum ersten Jahrestag der libyschen Revolution haben es sich Mitglieder einer Einsatzbrigade in den Ledersesseln des Mahari-Hotels in der libyschen Küstenstadt Sirte bequem gemacht und überwachen von der Lobby aus den Wiederaufbau des historischen Gebäudes. Wo einst die Reichen verkehrt hatten, schlugen die Rebellen während der heftigen Kämpfe im Oktober ihr Lager auf. Das Hotel wurde zudem als Hinrichtungsstätte missbraucht. Hier wurden 65 mutmaßliche Gaddafi-Anhänger umgebracht.

"Das Hotel war voller Leichen und Blut, und wir boten uns an, es sauber zu machen", berichtet Monam Abdallah Bashir, Eigentümer einer örtlichen Baufirma, der sich den Rebellen angeschlossen hatte, um den Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi herbeizuführen. Hunderte Zivilisten, Gaddafi-Getreue und -Gegner wurden während der Kämpfe in Sirte getötet oder verletzt.

Seit Gaddafis gewaltsamen Todes am 20. Oktober sorgen Bashirs Leute und ein Dutzend anderer Brigaden, die mit Libyens Nationalem Übergangsrat (NTC) kooperieren, in der zerstörten und traumatisierten Stadt für Sicherheit. "Einst musste ich Schmiergelder zahlen, um für Gaddafi eine Straße bauen zu dürfen", erinnert sich der Unternehmer. "Ich habe auf Seiten der Rebellen gekämpft, weil ich zu 100 Prozent überzeugt war, dass unser Land nicht von einem korrupten Mann geführt werden sollte."


Unsicherheit und Wohnungsnot

"Hier herrscht Unsicherheit, deshalb können wir die Waffen nicht niederlegen", meint sein Mitstreiter Feraj Hassan. "Sobald die Regierung Geld investiert, werden die Dinge hier besser laufen." Die Unsicherheit sei das größte Problem, sagt er. Gleich danach kommt die verheerende Wohnungsnot, denn in einigen Teilen Sirtes stehen nur noch Ruinen.

Während der überwiegende Teil Libyens den ersten Jahrestag der Revolution am 17. Februar freudig begeht, ist in den ehemaligen Pro-Gaddafi-Städten wie Sirte von Feierlaune nichts zu spüren. Unter Gaddafi wurde das einst kleine Dorf mit den Jahren zu einer wohlhabenden und politisch wichtigen Stadt. Diesen seinen Heimatort wollte der Diktator zum Verwaltungssitz eines Landes machen, das als 'USA Afrikas' in die Geschichte eingehen sollte.

Fast vier Monate nach dem Ende der Kämpfe liegen drei Sirte-Stadteile wie der Distrikt 2 nach wie vor in Trümmern. Im Boden lauern Minen; und erst kürzlich wurde auf der Hauptstraße der Stadt eine GRAD-Rakete geborgen. Auch demographisch hat Sirte an Substanz verloren. Von der ursprünglichen Bevölkerung sind nur noch 60 Prozent übrig geblieben.

"Wir stoßen noch immer auf bemerkenswert viele Sprengsätze", meint Max Dyck vom Libyen-Programm des UN-Minenräumdienstes UNMAS. "Sie zu finden ist leicht. Schwierig wird's nur, wenn wir uns mit der Bevölkerung absprechen müssen. Es reicht nicht aus, am Minenfundort ein Hinweisschild anzubringen, dass hier geräumt wird. Um die Menschen zu erreichen, müssen wir das Eis brechen und Vertrauen schaffen. Und das ist ein langwieriger Prozess."

"In Sirte sind die Menschen sehr wütend und sagen, was sie denken", meint Michael Morrison, der für die unabhängige Organisation ACTED mit Sitz in Paris Hilfsprogramme für Sirte und Misrata koordiniert. "Die Menschen hier fühlen sich außen vor, weil sich der NTC mit Hilfsmaßnahmen in der zerstörtesten Stadt des Landes reichlich Zeit lässt."

ACTED hatte Sirte auf dem Höhepunkt der Kämpfe nicht verlassen. "Unter den Binnenflüchtlingen, denen wir helfen wollten, gab es einige Gaddafi-Getreue, die von uns nichts wissen wollten", erinnert sich Morrison. "Versöhnung braucht Zeit."

15 junge Männer in leuchtend orangenen Jacken befreien die Uferstraße der Küstenstadt von Geröll und leeren Munitionshülsen. Für diese Räumarbeiten in ihrer Stadt erhalten sie von ACTED einen Tagessatz von 30 US-Dollar. Hassan Alswaey, ein 37-jähriger Computeringenieur, ist stolz auf die kommunalen Einsatzkräfte. "Wir sind ein Nachkriegsland und viele Menschen wurden getötet oder sind geflohen", berichtet er. "Zahlreiche Häuser stehen leer, und ich bin traurig, dass meine Nachbarn verschwunden sind."

Der Leiter der Lokalverwaltung von Sirte, Mohammed Kablan, hat alle Hände voll zu tun, um die Menschen mit Nahrungsmitteln und Wohnraum zu versorgen. Geld von außerhalb habe man nicht erhalten, sagt er und sieht die Gefahr, dass die Menschen langsam ungeduldig werden.


Nachhaltiger Wiederaufbau

Bill Lawrence, Wissenschaftler am Konfliktforschungsinstitut 'International Crisis Group', empfiehlt einen nachhaltigen Wiederaufbau. "Für Sirte, Bin Walid und andere Geisterstädte spricht sicherlich einiges für einen schnellen Wiederaufbau. Wir sind jedoch gegen ein hastiges Vorgehen. Erst muss eine größere Offenheit und Transparenz erreicht werden."

Im Fall Sirte stellt sich seiner Meinung nach die Frage, wo die Aufbauarbeiten beginnen sollen. Diese Entscheidung sollten die Sirter treffen und ihre Stadt als Symbol des neuen Libyens wiederaufbauen, so Lawrence. Was den Krisen- und Konfliktforscher beunruhigt, sind die ausbleibenden Finanzströme und Gehälter für die Behördenmitarbeiter.

Nach Ansicht von Mohammed Kablan müssen Schritte unternommen werden, um die lokalen Militärbrigaden in formelle Institutionen wie die Armee und die Polizei zu integrieren.

Der NTC hat sich kürzlich auf ein neues Gesetz zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung im Juni verständigt. Die allgemeinen Wahlen sollen Anfang 2013 stattfinden.


Informationslücken schließen

Georg Charpentier, der stellvertretende Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für die UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL), ist der Meinung, dass es einen Aufklärungsbedarf im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz und den Wahlen gibt. Hier sei der NTC gefragt, die Wissenslücken zu schließen.

"Es ist riskant, in einem Klima der Unsicherheit in einen Wahlprozess einzutreten", warnt Charpentier. "Deshalb gibt es Stimmen, die einen solchen politischen Prozess bis zur Transformation der Brigaden verschieben wollen. Anderseits füllen die Brigaden in der knappen Zeit vor den Wahlen ein Sicherheitsvakuum." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2012