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NAHOST/912: Tunesien - "Arabischer Frühling" noch nicht zu Ende, zweite Protestwelle erwartet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Mai 2012

Tunesien: 'Arabischer Frühling' noch nicht zu Ende - Zweite Protestwelle erwartet

von Isolda Agazzi



Genf, 11. Mai (IPS) - Seit dem Sturz des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 halten Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung in dem nordafrikanischen Land weiter an. Die Entwicklung zeigt der Oppositionsbewegung, die den 'Arabischen Frühling' ermöglicht hat, dass sie mit ihrer Arbeit erst am Anfang steht.

Die meisten Anhänger der Bewegung sind der Ansicht, dass die Revolution noch längst nicht zu Ende ist und eine zweite Protestwelle kurz bevorsteht. Als größte Bedrohung der Demokratien in Tunesien haben sich die islamistischen Salafisten präsentiert. Indem die radikale Strömung Gewalt gegen progressive Kräfte billigt und sogar schürt, füllt sie das politische und kulturelle Vakuum, das Ben Ali hinterlassen hat. Sein Regime unterdrückte die Meinungsfreiheit, vor allem in der jüngeren Bevölkerung.

Am 21. und 22. April wurde Jawhar Ben M'barek, der Sprecher der sozialdemokratischen Gruppe 'Doustourna', in den südtunesischen Städten Douz und Souk El Ahad brutal von Fanatikern attackiert. Die Angreifer schreckten nicht davor zurück, zu seiner Ermordung aufzurufen.

Für diese Übergriffe sind eine nicht näher bezeichnete Salafisten-Gruppe und andere Islamisten verantwortlich, die im Namen einer 'muslimischen Identität' agieren. Diese Form der Gewalt verbreitet sich immer weiter und ist Ausdruck dafür, dass Konservative mit aller Gewalt versuchen, gegen die post-revolutionäre Entwicklung des Landes anzusteuern.


Angriffe auf Medien und Aktivisten der Zivilgesellschaft

Adnan Hajji, ein Mitglied der nationalen Gewerkschaft UGTT und ehemaliger Koordinator der Aufstände in den Gafsa-Minen 2008, sieht die Lage an einem toten Punkt. "Die Regierung will nicht zuhören und weder mit den Vertretern der unterschiedlichen Regionen noch mit den 'Zornigen' verhandeln", sagte er. "Die Polizei ist aggressiv, und die Salafisten, die von der (kürzlich gewählten) Ennahda-Partei unterstützt werden, attackieren die Medien und Aktivisten der Zivilgesellschaft. Dies ist noch keine abgeschlossene Revolution. Es gab einen Aufstand, und wir werden bald einen zweiten erleben."

Tunesien war lange Zeit stolz auf ein fortschrittliches Familiengesetz. Tunesische Frauen gelten als freier als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Staaten der Region. Diese Freiheiten werden nun von den Salafisten bedroht, die eine Rückkehr zu einer "traditionellen" Gesellschaft fordern.

"Die Entwicklung der tunesischen Gesellschaft ist besorgniserregend, da einige Leute versuchen, die individuellen Freiheiten einzuschränken. Die größte Gefahr stellt die Gewalt dar", sagte die tunesische Filmregisseurin Salma Baccar, die in Genf den Vorsitz über das Internationale Orientalische Filmfestival führt.

Die Situation der Frauen sei nicht von den anderen Gesellschaftsbereichen zu trennen, betonte sie. "Wenn wir eine Balance zwischen denjenigen schaffen, die den Schleier tragen wollen, und denjenigen, die das nicht wollen, sowie zwischen denjenigen, die Alkohol trinken wollen und denen, die dies ablehnen, werden wir eine Gesellschaft haben, in der jeder seine Rechte ausüben kann."

Baccar, deren Film 'Fatma 19' 36 Jahre lang der Zensur unterlag, weil er die fortschrittliche Rolle der Frau auf eine lange kulturelle Evolution und nicht auf den Staatsmann Habib Burguiba zurückführte, hatte sich nie politisch engagiert. Im Februar 2011, als rund 280.000 Migranten aus Subsahara-Afrika aus dem Bürgerkriegsland Libyen nach Tunesien flohen, beschloss die Regisseurin, ein "Kulturzelt" aufzustellen, in dem Musik und Filme vorgeführt wurden. Dafür wurde sie von fundamentalistischen Salafisten überfallen.

Das war der Augenblick, in dem Baccar nach eigenen Angaben erkannte, dass Kultur Hand in Hand mit der Politik gehen muss. Sie schloss sich dem 'Demokratischen Pol' an und wurde im Oktober des Jahres in die verfassunggebende Versammlung gewählt. Die fortschrittliche Stellung der tunesischen Frauen sei nicht mehr rückgängig zu machen, meint sie. Allerdings ist die Filmemacherin beunruhigt über die Lage im Land, vor allem seit dem Wahlsieg von Ennahda.


Toleranz gefordert

"Man kann die Geschichte aber nicht anhalten", sagte sie. Der wahre Fortschritt liege in der Entwicklung der Mentalität der Menschen, nicht in neuen Gesetzen. Wenn eine erwachsene Frau einen Schleier oder sogar einen Gesichtsschleier tragen wolle, könne sie dies ungehindert tun. "Für weltlich ausgerichtete Menschen wie mich ist es eine gute Übung in Demokratie, dies zu akzeptieren. Kindern etwas vorzuschreiben, ist dagegen eine ganz andere Geschichte. Und wenn mich jemand im Namen seiner Ideen physisch angreift, ist das nicht mehr zu akzeptieren."

Wie Baccar erklärt, würde sie eine weitere Revolution begrüßen, doch sollte diese diesmal kultureller Natur sein. "Das Schlimmste am Regime von Ben Ali war, dass er den Menschen Kultur und Bildung vorenthielt", erinnert sie. Da dieses Grundrecht so lange missachtet worden sei, begännen junge Tunesier heute damit, sich nur über Gewalt zu artikulieren. Die meisten Gewalttäter kämen aus unterentwickelten Regionen und Armenvierteln in den Städten.

Daher sieht Baccar die "kulturellen Verlierer" als das größte Problem im heutigen Tunesien, mehr noch als die rund 800.000 Arbeitslosen. Selbst junge Menschen, die Colleges und Universitäten besucht hätten, seien nicht umfassend gebildet, kritisiert sie. Stattdessen habe man ihnen jede Form der freien Meinungsäußerung versagt und dadurch einige von ihnen zu Fanatikern gemacht.

Nach Ansicht der Künstlerin ist dies das größte Verbrechen, das Ben Ali an der Gesellschaft begangen hat. Den Schaden auszugleichen, werde sehr lange dauern, befürchtet sie. Dass die Gesellschaft die Grundschulen genau im Auge behält, betrachtet sie als wichtig. Denn bereits den kleinen Kindern würden reaktionäre Ideen vermittelt. "In manchen Vorschulen werden die Mütter schon dazu angehalten, ihre Töchter zu verschleiern", sagte sie. "Genau dort beginnt unser Kampf: Wir müssen in Kindheit und Jugend investieren."


Regierung wird Orientierungslosigkeit vorgeworfen

Hajji sieht noch keine Veränderungen seit dem 14. Januar 2011, dem Tag, an dem Ben Ali aus dem Land fliehen musste. Die Dinge wendeten sich sogar zum Schlechteren, beanstandet er. "Das ist normal nach einem Aufstand, wenn die Menschen zum ersten Mal ihre Meinung äußern dürfen. Irgendetwas muss aber getan werden, damit sich die soziale Lage beruhigt."

Der Gewerkschaftsaktivist warf der Regierung Orientierungslosigkeit vor. Die verfassunggebende Versammlung, die ihre Arbeit bis März 2013 abschließen soll, müsse rasch handeln. "Ennahda hat kein klares soziales und wirtschaftliches Programm. Ich selbst verhandele mit der Regierung und kann sehen, wie viel Angst sie hat, Entscheidungen zu treffen." (Ende/IPS/ck/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2012