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NAHOST/916: Geisterdorf Lifta, Palästinenser fordern Erhalt von kulturellem Erbe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Mai 2012

Nahost: Geisterdorf Lifta - Palästinenser fordern Erhalt von kulturellem Erbe

von Pierre Klochendler



Lifta, Jerusalem, 18. Mai (IPS) - "Dort bin ich geboren worden. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gebet rief, 'Allahu Akbar'", sagt der 72-jährige Yacoub Odeh und deutet auf ein verfallenes Haus auf einem Hügel. "Das ganze Dorf konnte ihn hören."

Damals war er acht Jahre alt gewesen. 64 Jahre später ist das Dorf Lifta nur noch ein Schatten seiner selbst. Während des Krieges, der mit der Gründung des Staates Israel einherging, flohen Hunderttausende Palästinenser aus ihren Häusern oder wurden von den neu gegründeten israelischen Streitkräften vertrieben.

Seitdem ist Lifta immer weiter verfallen. Die Ortschaft liegt zwischen dem Westen Israels und dem von ihm besetzten Ostjerusalem. Für viele Palästinenser ist sie ein Symbol für das verlorene Land und Armut. Odeh sind zumindest die Erinnerungen an eine friedliche Kindheit geblieben. "Auf unsere Tür schien morgens immer die Sonne", sagt er. Odehs Elternhaus ist eine Ruine, in deren Spalten wilder Fenchel wuchert.


Vertreibung aus dem Paradies

Vor dem israelischen Unabhängigkeitskrieg war Lifta eine Siedlung mit 500‍ ‍Häusern. Etwa 3.000 Menschen lebten hier miteinander in Wohlstand und Harmonie. "Wasserquellen, Gärten, Felder, die Moschee, die Olivenpresse - das war meine Welt", erinnert sich Odeh. Und die Menschen hätten in dieser Idylle oft getanzt und gesungen.

Den schicksalhaften Tag im Februar 1948, an dem sich alles veränderte, wird Odeh nie vergessen. "Wir wurden belagert, und ich hörte die Schüsse der zionistischen Banden." Als jüdische Milizionäre bei einem Überfall auf das Nachbardorf Deir Yassin mehr als 100 Palästinenser getötet hätten, sei in Lifta Panik ausgebrochen. "Mein Vater trug meine Schwester und meinen Bruder", beschreibt Odeh die Flucht der Familie. "Wir durchquerten das Tal, stiegen einen Berg hoch. Mitnehmen konnten wir nur unsere Erinnerungen."

Nach wenigen Wochen gab es keinen einzigen Einwohner mehr in dem 2.000 Jahre alten Dorf. "Von einem Augenblick zum anderen wurden wir Flüchtlinge", sagt Odeh. Binnen eines Jahres wurden die Palästinenser, deren Land nun zum neuen Staat Israel gehörte, zu einer Minderheit, der man jedes Recht auf Land absprach.

Löcher wurden in Decken und Fußböden gebohrt, um die Häuser in dem Dorf unwirtlich zu machen. Die Odehs kehrten nicht mehr dorthin zurück. Sie und andere ehemalige Einwohner haben aber den Traum nie aufgegeben, wieder nach Hause zurückzukommen. "Ich werde weder vergessen noch vergeben, bevor ich mein Recht zurückerlange, frei in Lifta, in Palästina zu leben", meint er, während er mit der Hand über den rosafarbenen Kalkstein streicht.

Alljährlich am Naqba-Tag am 15. Mai, wenn die Palästinenser der Flucht und Vertreibung gedenken, pochen sie auf ihr "unbestreitbares Rückkehrrecht". Bei Demonstrationen halten Flüchtlinge symbolische Schlüssel zu ihren lang verlorenen Häusern hoch.

Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gibt es zurzeit mehr als vier Millionen registrierter Flüchtlinge, die über die Region verteilt leben. Die meisten Israelis sehen sich durch die historische Forderung in ihrer Existenz bedroht. Sie sehen darin die Gefahr, von innen zerstört zu werden. Der Zustrom von Millionen Palästinensern würde ihnen unwiderruflich den Status als Bevölkerungsmehrheit nehmen.

Odeh findet dagegen, dass es im Land genug Platz für Muslime, Juden und Christen gäbe. "Wir müssen zusammenleben - so wie früher unsere Großväter." Manche hoffen, dass die sentimentale Vorstellung von einem Land für alle den Staat Israel dazu bringen könnte, eine politische Zwei-Staaten-Lösung auszuhandeln - mit einem unabhängigen Palästina, das den größten Teil der Flüchtlinge aufnehmen würde.

Kurz nach der Vertreibung sei sein Vater an einem "gebrochenen Herzen" gestorben, sagt Odeh. Die Familie ließ sich in Ost-Jerusalem nieder. Odeh arbeitete später als Filmbibliothekar in Kuwait, studierte Jura in Beirut und schloss sich als Kämpfer der Volksfront zur Befreiung Palästinas an. Als er 27 Jahre alt war, eroberte Israel Ost-Jerusalem.

Odeh wurde von einem israelischen Gericht wegen "terroristischer Aktivitäten" zu drei Mal lebenslänglich verurteilt und kam 1985 im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei. Als Menschenrechtsaktivist kümmert er sich nun darum, die Erinnerung an sein Dorf aufrecht zu erhalten.


Anziehungspunkt für Hippies und Soldaten auf Urlaub

Lifta ist eines der letzten Geisterdörfer aus der Zeit des Krieges von 1948.‍ ‍Es wurde zum Rückzugsort für Hippies und Soldaten auf Urlaub. Insgesamt wurden etwa 500 palästinensische Dörfer von Israel zerstört. Von ihnen sind zumeist nur die Terrassen, verwitterte Steine und Gräber und alte Feigenbäume geblieben.

1959‍ ‍wurde das begehrte Terrain zum Naturschutzgebiet erklärt. Nach dem Vorbild des Dorfes Ein Hod, wo seit der Wiederinstandsetzung israelische Künstler leben, wollten die Behörden später auch Lifta zu einer luxuriösen Wohnsiedlung umbauen. Die ehemaligen Bewohner zogen jedoch mit Unterstützung israelischer Menschenrechtsorganisationen vor ein Distriktgericht, das im Februar die Pläne Israels vorerst ad acta legte.

"Wir wollen Lifta so erhalten, wie es ist - als Geschichtsmuseum, das allen offensteht", sagt Odeh. "Das kulturelle Erbe zerstören, nur um Villen zu bauen? Lifta muss erhalten bleiben." (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.unrwa.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107773

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2012