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NAHOST/944: Warten auf Palästina? - Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Warten auf Palästina?
Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses

Ingrid Ross
September 2012



• Abwesenheit einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses schwindet der Rückhalt für die etablierten Regierungsstrukturen der palästinensischen Autonomiebehörde. Die palästinensische Führung ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit dem Gedanken der Aufkündigung der Oslo-Verträge.

• Die Parameter der Konfliktlösung verschieben sich: Die ungehinderte Fortsetzung von völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivitäten ist nur ein Anzeichen für ständige Veränderung der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regierenden in beiden palästinensischen Gebieten, Westbank und Gaza, an Legitimität, und angesichts der Finanzkrise der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wächst die Abhängigkeit von internationalen Gebern.

• Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der palästinensischen Institutionen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation, diese in Frage zu stellen und sich einer neuen Strategie zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung individueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes und sicheres Leben in Aussicht stellt.


Seit einigen Wochen gärt es in den Palästinensischen Gebieten. Nach dem Ende des Ramadan Ende August gingen tausende Palästinenser auf die Strasse, um gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu demonstrieren. Die Unzufriedenheit mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage richtete sich zunächst gegen die Wirtschaftspolitik von Premierminister Salam Fayyad und gegen das im Rahmen der Oslo-Verträge vereinbarte Paris Protokoll, das die palästinensische Wirtschaft an Israel bindet. Doch mittlerweile stellen immer größere Teile der Bevölkerung und zunehmend auch der politischen Bewegungen den durch die Oslo-Verträge geschaffenen politischen Status Quo in Frage. Die Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) war zunächst als Übergangskonstrukt auf die Dauer von fünf Jahren angelegt und sollte in die souveräne Staatlichkeit Palästinas münden. In Abwesenheit einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses schwindet nun der Rückhalt für die etablierten Regierungsstrukturen. Die palästinensische Führung ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit dem Gedanken der Aufkündigung der Oslo-Verträge.

Seit der Kampagne für eine Vollmitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen im September 2011 fehlte es an überzeugenden Initiativen der politischen Führung in Ramallah. Während der Antrag beim UN Sicherheitsrat, der mit einer vielbeachteten Rede von Präsident Abbas im letzten Herbst vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen einherging, seither auf Eis liegt, blieb der palästinensischen Führung nur, in diesem Jahr die staatliche Anerkennung durch die UN Vollversammlung als nicht-Mitgliedsstaat zu suchen. Die notwendige Unterstützung für den Antrag der Vollmitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat hat Präsident Abbas nicht sammeln können. Stillstand ist auch auf der Ebene offizieller Verhandlungen zwischen den Israelis und Palästinensern zu verzeichnen. Nach der diplomatischen Offensive bei den UN im September 2011 hatte das Nahost-Quartett bestehend aus den USA, Russland, der EU und den UN versucht, beide Konfliktparteien zu direkten Verhandlungen zu bewegen. Doch die fünf Gesprächsrunden, die als "exploratory talks" zwischen Unterhändlern in Jordanien im Januar 2012 geführt wurden, wurden ohne Ergebnisse abgebrochen. Die palästinensische Seite beharrte darauf, die Grenzen von 1967 zur Grundlage der Verhandlungen zu setzen und bekräftigte die Forderung des Siedlungsstopps, eine Verpflichtung der Roadmap von 2003, als Voraussetzung für weitere Gespräche. Ein weiteres Hindernis künftiger Verhandlungen zeichnete sich bereits ab: Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu erklärte im Hinblick auf eine innerpalästinensische Versöhnung zwischen den verfeindeten Parteien Hamas und Fatah, Präsident Abbas müsse sich zwischen Frieden mit Israel und Frieden mit der Hamas entscheiden. Die Fortsetzung von Verhandlungen zwischen Israel und einer palästinensischen Führung, die alle relevanten politischen Kräfte repräsentiert, scheint damit ausgeschlossen.

Währenddessen verschieben sich die Parameter der Konfliktlösung. Der Begriff Status Quo ist insofern irreführend, denn der Zustand ist höchst dynamisch: Die ungehinderte Fortsetzung von völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivitäten ist nur eines der - wenn auch das bei weitem sichtbarste - Anzeichen für ständige Veränderung der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regierenden in beiden palästinensischen Gebieten, Westbank und Gaza, an Legitimität und angesichts der Finanzkrise der PA wächst die Abhängigkeit von internationalen Gebern.


Israelische Siedlungspolitik

Das Wachstum der israelischen Siedlungen in der Westbank und der sie verbindenden Infrastruktursysteme trägt dazu bei, dass das Gebiet, auf dem der künftige palästinensische Staat entstehen soll, in einzelne Inseln mit hoher Bevölkerungsdichte zerteilt wird, die von den landwirtschaftlichen und industriellen Nutzflächen abgeschnitten werden. Die Zahl der Siedler in der Westbank (ohne Ost-Jerusalem) hat mit der Unterstützung der israelischen Regierungen seit dem Beginn des Oslo-Prozesses von 90.000 auf 311.000 im Jahr 2010 stetig zugenommen. Neben der physischen Expansion der Siedlungen ist der Anteil der Ultra-Orthodoxen an der Gesamtzahl der Siedler überproportional gewachsen. Während 1991 5% dieser Siedler zu den Ultra-Orthodoxen gehörten, ist ihr Anteil in der Westbank mittlerweile auf 32% angestiegen. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass die Geburtenrate in dieser Bevölkerungsgruppe um ein Vielfaches höher liegt, als in anderen Teilen der israelischen Gesellschaft. Der weitere Anstieg der Anzahl der Siedler durch "natürliches Wachstum" ist daher ein absehbarer Trend.

Große Unterstützung erhalten die Siedlungen von der israelischen Regierung. Im Jahr 2011 hat die Regierungskoalition 217 Millionen Euro des Staatshaushalts für sie aufgewandt. Als das israelische Oberste Gericht im Juni diesen Jahres die Evakuierung einiger auch nach israelischem Recht illegal gebauten Häuser der Siedlung Ulpana anordnete, kündigte Netanjahu an, für jedes Haus, das abgerissen würde, zehn neue Häuser in einer anderen Siedlung zu errichten. Unverblümt gab er zu, dass ihn hauptsächlich die zu erwartende internationale Kritik an der Legalisierung des Außenpostens hindere. Daran wird deutlich, wo bislang noch die Roten Linien der Regierung in der Siedlungspolitik verlaufen: Der Ausbau bestehender völkerrechtswidriger Siedlungen wird gefördert, von der Schaffung von Präzedenzfällen, in denen nach israelischem Recht illegal etablierte Außenposten legalisiert werden, wird noch abgesehen. Zwar wird die Räumung von einigen Siedlungen unweigerlich Bestandteil einer künftigen israelisch-palästinensischen Einigung werden müssen, wenn ein zusammenhängendes und lebensfähiges palästinensisches Staatsgebiet geschaffen werden soll, doch wirkt derzeit die israelische Siedlungspolitik in die entgegengesetzte Richtung.


Zunahme von Siedlergewalt

Auch das Verhalten von Teilen der Siedlerbewegung gegenüber den Palästinensern hat sich verändert: So verzeichnet das UN Office for Humanitarian Affairs in den palästinensischen Gebieten von 2009 bis 2011 einen Anstieg von Gewalttaten, die von Siedlern ausgehen und sich gegen Palästinenser richten, um 144%. Die Tatsache, dass 90% dieser Übergriffe von Seiten der israelischen Polizei nicht verfolgt werden, fördert ein Klima der Straflosigkeit und Gewalt. So verübten Jugendliche aus der Siedlung Bat Ayin, die südlich von Jerusalem gelegen ist, beispielsweise am 16. August, dem Vorabend des muslimischen Id-Al-Fitr Festes, einen Brandanschlag auf sechs Personen in einem Taxi in der Westbank. Dabei wurden zwei Personen schwer verletzt.

Neben der wenig zielgerichteten Gewalt sind auch gewaltsame Übergriffe auf Palästinenser und Sachbeschädigungen an palästinensischem Eigentum zu verzeichnen, die von Vertretern der radikalen Siedler in der Vergangenheit in den Medien als Teil einer "Preisschild-Strategie" bezeichnet wurden: Beschlüsse der israelischen Behörden, die die Interessen der Siedlerbewegung verletzen, werden mit Taten wie Schändungen von Moscheen oder Friedhöfen beantwortet, um deutlich zu machen, dass diese Entscheidungen "ihren Preis" haben. Zuletzt wurde ein christliches Kloster in Latrun nach der Räumung des Außenpostens Migron Ziel eines Preisschild-Anschlags. Die USA hat in dem regelmäßig erscheinenden "Country Report on Terrorism 2011" erstmals Gewalt radikaler jüdischer Siedler als "terroristische Vorfälle" klassifiziert. Mittlerweile werden sich auch israelische Entscheidungsträger der Tragweite des Problems bewusst. Verteidigungsminister Ehud Barak erklärte nach dem Anschlag in Latrun, man müsse den "jüdischen Terror mit eiserner Faust bekämpfen".


Einstellung der palästinensischen Bevölkerung gegenüber dem Oslo-Prozess

Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses, der die Verpflichtung der Konfliktparteien auf die Etablierung von zwei Staaten beinhaltete, glaubt die Mehrheit der Palästinenser nicht daran, dass eine Zwei-Staaten-Lösung angesichts des fortgesetzten Siedlungsbaus noch möglich ist, so die Ergebnisse einer Meinungsumfrage des Palestinian Center for Policy and Research im Juni 2012. Die Abkommen, die im Rahmen des Oslo-Prozesses geschlossen wurden, dienten dem Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen für einen begrenzten Übergangszeitraum auf dem Weg zur Entstehung eines palästinensischen Staates. Je weiter eine Einigung auf die Errichtung von zwei Staaten in die Ferne rückt, desto lauter stellen die Palästinenser diese Strukturen, allen voran die Palästinensische Autonomiebehörde, in Frage. Der israelischen Seite sei es gelungen, eine Situation zu schaffen, in der die Palästinenser in einem Gefängnis sitzen, in dem sie selbst das Gefängnispersonal stellen und ihre eigene Gefangenschaft - mit finanzieller Unterstützung der internationalen Gemeinschaft - auch noch selber zahlen. Vor diesem Hintergrund wird allen israelisch-palästinensischen Verhandlungen, die lediglich "Talks on Talks" darstellen, mit Misstrauen begegnet. Diese Gespräche werden in der palästinensischen Öffentlichkeit als Verzögerungstaktik wahrgenommen, die Israel in die Hände spielt: Der Prozess ermögliche den Israelis, den Schein zu wahren, ernsthaftes Interesse an einer Zwei-Staaten-Lösung zu haben. Während der kurzen Phase im Juli 2012, in der die bisherige Oppositionspartei Kadima der israelischen Regierungskoalition beitrat, war ein Treffen zwischen dem Vize-Premierminister Shaul Mofaz und Präsident Abbas in Ramallah geplant. Dem Aufruf einer überparteilichen Koalition junger Aktivisten zu Protesten gegen das Treffen folgten einige hundert Palästinenser in Ramallah. Die Demonstration veranschaulichte nicht nur das geringe Vertrauen der Öffentlichkeit, dass diese Gespräche ein greifbares Ergebnis liefern könnten. Die harsche Reaktion der Sicherheitskräfte, die gewaltsam gegen die Demonstranten vorgingen, unterstrich vielmehr die wachsende Kluft zwischen dem Handeln der palästinensischen Entscheidungsträger und der Bevölkerung. Gespräche dieser Form sind der palästinensischen Öffentlichkeit kaum mehr vermittelbar.

Das schwindende Vertrauen darin, dass durch Dialog ein Wandel herbeigeführt werden kann und die Erkenntnis, dass auch gewaltsamer Widerstand die Situation der Palästinenser nicht verbessern kann, führen dazu, dass Handlungen des gewaltlosen Widerstands durch Palästinenser Zulauf erhalten. Die Ablehnung von zivilgesellschaftlichen Dialogmaßnahmen mit Israelis durch die Anti-Normalisierungsbewegung, die Kampagne zum Boykott von israelischen Produkten und regelmäßig stattfindende Demonstrationen gegen die israelischen Sperranlage (unter Aktivisten als "Israeli Apartheid Wall" bezeichnet) sind Elemente dieser als einzige Alternative empfundenen Handlungsstrategie. Besonders unter den jungen Palästinensern, die sich von keiner der etablierten politischen Bewegungen repräsentiert fühlen, genießen diese Aktionen große Popularität.


Legitimitätsverlust der Regierenden in den palästinensischen Gebieten

Die Spaltung der palästinensischen Gebiete auf territorialer und auf politischer Ebene vertieft sich unterdessen. Die Versöhnung zwischen der im Gazastreifen herrschenden Hamas und der die Westbank regierenden Fatah steht zwar nach wie vor auf der Agenda, doch sind auch hier beide Konfliktparteien der Überzeugung, dass sie durch vorschnelle Handlungen viel zu verlieren und wenig zu gewinnen hätten. Vor allem die Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursis zum Präsidenten in Ägypten hat bei der Hamas die Hoffnung geweckt, mehr Gewicht in die Waagschale der Verhandlungen werfen zu können. Die internationale politische Anerkennung, die die ägyptische Muslimbruderschaft seither genießt, bleibt dem Ableger der Muslimbruderschaft im Gazastreifen bisher jedoch verwehrt. Noch immer straft der Westen die Hamas offiziell mit Isolation und stuft die Bewegung als Terrororganisation ein. Die Lebensbedingungen der Bevölkerung im Gazastreifen, der unter der israelischen Blockade leidet, haben sich bislang noch nicht spürbar und nachhaltig verbessert. Pläne für eine Legalisierung der über die Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägypten abgewickelten Schmuggelgeschäfte in Form einer Freihandelszone existieren zwar, eine Implementierung ist aber noch nicht in Sicht.

Damit geht ein Legitimitätsverlust der politischen Führung einher: Die Hamas war mit dem Wahlversprechen angetreten, eine andere Politik zu gestalten als die Fatah. Die Parlamentswahlen 2006 hatte sie vor allem gewonnen, weil der politische Rivale intern zerstritten, von Korruptionsvorwürfen geplagt und ohne einen überzeugenden Politikentwurf angetreten war. Nun muss auch die Hamas eingestehen, dass sie weder an der israelischen Blockade und Besatzung noch in dem von Israel für ihre Politik gesteckten Handlungsrahmen viel hat ändern können. Da sich die beiden herrschenden Parteien bislang nicht auf Neuwahlen einigen konnten - diese werden der nationalen Versöhnung vorbehalten - blieb den Machthabern als einzige Möglichkeit der Erneuerung ihres Herrschaftsapparats eine Regierungsumbildung ohne einer Erneuerung ihres Mandats durch Wahlen. In der Westbank ersetzte Präsident Mahmoud Abbas im Mai 2012 zum zweiten Mal seit der Regierungsbildung 2007 große Teile seines Kabinetts. Im Gazastreifen unternahm Premierminister Isamail Haniyeh Anfang September 2012 denselben Schritt und stellte ein neues Kabinett vor. Mehrere Minister hatten zuvor mit der Begründung ihren Rücktritt erklärt, dass sie die an sie gestellten Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen konnten.

Währenddessen versucht Präsident Abbas mit der Ankündigung von Wahlen auf lokaler Ebene für den 20. Oktober 2012 auf den Legitimitätsverlust zu reagieren. Doch Hamas hat sich gegen die Durchführung der Lokalwahlen im Gazastreifen ausgesprochen und angekündigt, diese auch in der Westbank zu boykottieren. Somit beschränkt sich der politische Wettbewerb, der für eine pluralistische Demokratie unabdingbar ist, auf die Fatah und andere kleinere Parteien. Eine 8% Hürde bei den Lokalwahlen macht den Erfolg von alternativen Zusammenschlüssen jedoch unwahrscheinlich. Ob unter diesen Voraussetzungen mit einer breiten Wahlbeteiligung zu rechnen ist, die eine demokratische Verankerung in der Bevölkerung ermöglicht, ist fraglich. Die Lokalwahlen werden somit zu wenig mehr als einem Test für Politikverdrossenheit werden. Der Erosion der demokratischen Legitimität werden sie kaum entgegen wirken können.

Eine inner-palästinensische Einigung setzt voraus, dass beide Parteien demokratische Grundprinzipien respektieren: Auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter Spielregeln erhält die Mehrheit den Auftrag zu regieren und die Pflicht, die Rechte der Minderheit zu akzeptieren. Das gegenseitige Misstrauen beider Parteien und die fehlende Bereitschaft auf Macht und die mit ihr verbundene Privilegien zu verzichten, ist wohl das größte Hindernis für die Versöhnung. Die internationale Gemeinschaft könnte Anreize für die Versöhnung setzen, indem sie die Fortführung bisheriger Kooperation auch mit einer Regierung der nationalen Einheit in Aussicht stellt. Dies würde jedoch einen Wandel der Politik der Isolation und Ächtung gegenüber der politischen Führung der Hamas voraussetzen.


Aufbau von Staatlichkeit

Unter dem Titel des 2009 vorgestellten Regierungsprogramms "Palestine - Ending the Occupation, Establishing the State" von Premierminister Salam Fayyad investierte die palästinensische Autonomiebehörde mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft in den Aufbau staatlicher Institutionen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank attestierten den Erfolg dieser Anstrengungen im Frühjahr 2011 - rechtzeitig vor dem UN Mitgliedschaftsantrag - mit den Worten, die Palästinenser seien "Ready for Statehood". Als Indikatoren zogen sie u.a. Daten der wirtschaftlichen Entwicklung, Errungenschaften in den Bereichen Sicherheit und Justizwesen, des Dienstleistungssektors, des öffentlichen Haushalts und Fortschritte von Good Governance heran. Trotz der positiven Bewertung war jedoch klar, dass die hohe Abhängigkeit von internationalen Gebern die Achillesferse des Erfolgs darstellt. Denn selbst über Einnahmen aus palästinensischen Quellen hat die Regierung keine souveräne Verfügungsgewalt, ist doch ihre Wirtschaft in allen Außenhandelsbelangen und der Festsetzung des Mehrwertsteuersatzes von Israel abhängig. Das Pariser Protokoll, das 1994 im Rahmen des Oslo-Prozesses geschlossen wurde, legt die Palästinensischen Gebiete u.a. auf eine Zollunion mit Israel fest.

Der wirtschaftspolitische Kurs der Fayyad Regierung ist indes auf wachsenden Widerstand in der palästinensischen Gesellschaft und bei mächtigen Interessengruppen gestoßen. Mit dem Vorhaben, die Anzahl der Angestellten im Öffentlichen Dienst zu reduzieren, brachte Fayyad die Gewerkschaften gegen sich auf. Die Pläne, die Einkommens- und Umsatzsteuer zu erhöhen, musste er im Juni diesen Jahres nach einer öffentlichen Protestwelle, in der sich auch das Unternehmertum gegen die Steuererhöhungen gewehrt hatte, zunächst suspendieren. Der Ende August beschlossene Anstieg des Mehrwertsteuersatzes traf die Bevölkerung angesichts einer Arbeitslosenquote von 24% (1. Quartal 2012) besonders hart. Gleichzeitig sahen sich viele Privathaushalte während des Ramadan und mit dem Schulbeginn mit hohen Ausgaben konfrontiert.

Ähnlich wie bei den sozialen Protesten in Tunesien, hat sich in den palästinensischen Gebieten ein Mensch selbst angezündet, um auf die desolate sozio-ökonomische Lage aufmerksam zu machen. Bei spontanen Demonstrationen gegen die Steigerung der Treibstoff- und Lebenshaltungskosten in mehreren Städten in der Westbank richtete sich die Wut gegen Premierminister Fayyad und das Pariser Protokoll. Bei Protesten in Hebron und Nablus kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit palästinensischen Sicherheitskräften, doch überwiegend blieben die Demonstrationen friedlich. Auch wenn einzelne Fatah-nahe Gewerkschaften zu Streiks aufgerufen hatten, kann von einer Steuerung oder Instrumentalisierung der Proteste durch die politischen Bewegungen bislang nicht gesprochen werden.

Der Regierung unter Premierminister Fayyad ist zu einem Zeitpunkt, an dem eine sozialgerechte Reformpolitik dringend geboten wäre, die Hände gebunden. Das Haushaltsdefizit ist im ersten Quartal 2012 um 82% im Vergleich zum vorherigen Quartal gewachsen. Die Auszahlungen von Löhnen und Gehältern an die Angestellten im Öffentlichen Dienst wurden in den letzten Monaten wiederholt verzögert oder in geringerer Höhe getätigt. Da die Einnahmeseite der PA volatil und von dem politischen Willen der Gebergemeinschaft und Israels abhängig ist, hat die Regierung wenig Spielraum für haushaltspolitische Planung und Steuerung. Die Hoffnung auf einen Wachstumsschub durch den Privatsektors wird sich kaum erfüllen, solange die Bewegungsfreiheit in den besetzten Gebieten beschränkt und das Investitionsklima von Unsicherheit geprägt ist. Fayyad versuchte als Reaktion auf die Proteste in den letzten Wochen, die Lage durch die Rücknahme der Steuererhöhungen, die sofortige Auszahlung von Gehältern und die Reduzierung der Spitzengehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst zu beruhigen. Ob dies ausreicht, um die erhitzten Gemüter und seine Kritiker zu besänftigen, bleibt abzuwarten. Die Abhängigkeit der PA von internationalen Gebern ist eher gestiegen als gesunken, wie auch der Bericht des UN Sonderbeauftragten für den Nahost-Friedensprozess an das Ad Hoc Liaison Committee konstatiert.

Gleichzeitig sinkt in der Westbank das Vertrauen der Bevölkerung in die Einhaltung demokratischer Prinzipien durch die eigene Regierung. Die Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit, das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten durch palästinensische Sicherheitskräfte und die Einschränkung von politischen Freiheiten prägen ein Klima der Entfremdung zwischen den Politikern und der Gesellschaft. Die sozio-ökonomischen Proteste haben die Ohnmacht der politischen Führung deutlicher werden lassen.


Von der Zwei-Staaten- zur Ein-Staaten-Lösung?

Der Weg zur Erreichung staatlicher Souveränität Palästinas durch direkte Verhandlungen scheint zum jetzigen Zeitpunkt versperrt, so dass die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rückt. Unter diesen Rahmenbedingungen gewinnt stattdessen das Konzept einer Ein-Staaten-Lösung - zumindest als Übergangsszenario - an Popularität. Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der palästinensischen Institutionen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation, diese in Frage zu stellen und sich einer neuen Strategie zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung individueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes und sicheres Leben in Aussicht stellt. Ein prominenter Vertreter dieser Idee ist der Intellektuelle Sari Nusseibeh, Professor an der Al-Quds Universität und ehemaliger PLO-Politiker. Obwohl auch in seinen Augen die Zwei-Staaten-Lösung das optimalste Modell ist, spricht er sich dafür aus, zum jetzigen Zeitpunkt für die Erlangung von Bürgerrechten in einem gemeinsamen Staat mit Israel zu kämpfen. Auch der Vorsitzende der linken Oppositionspartei AlMubadara, Dr. Mustafa Barghouti, steht dem taktischen Schachzug des Kampfs gegen Diskriminierung als gleichberechtigte Bürger in einem Staat offen gegenüber.

Mehrere Einschränkungen lassen dieses Szenario als Lösung für den Konflikt jedoch unrealistisch erscheinen: Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass der Kampf für die Gleichberechtigung in einem Staat auch den Gazastreifen mit einbezieht, der sich angesichts der israelischen Blockadepolitik und der inner-palästinensischen Spaltung immer näher an Ägypten orientiert. Schon heute erteilt Israel beim Grenzübertritt in den Gazastreifen einen Ausreisestempel und macht auf diese Weise deutlich, dass dies kein israelisches Staatsgebiet sei. Dieser Ansatz würde also einer Aufgabe des Gazastreifens gleich kommen. Zum anderen wird die Idee einer Ein-Staaten-Lösung auf israelischer Seite mehrheitlich abgelehnt, denn von dem Modell eines demokratischen und zugleich jüdischen Staates müsste dann Abstand genommen werden.


Über den Autor

Ingrid Roß ist seit 2012 Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Palästina und war zuvor als Referentin in der Abteilung Internationale Entwicklungszusammenarbeit, Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der FES in Berlin tätig.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2012