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NAHOST/951: Syrien - Das angebliche Projekt "Alawitenstaat" (inamo)


inamo Heft 70 - Berichte & Analysen - Sommer 2012
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Das angebliche "Projekt Alawitenstaat"

von Abdallah Hanna



Unter dem Titel "Projekt Alawitenstaat" veröffentlichte die libanesische An-Nahar am 23.10.2011 ein Dokument, das dem französischen Außenministerium am 15. Juni 1936 zugegangen war. Es war unterzeichnet von sechs führenden alawitischen Persönlichkeiten, die die damalige französische Mandatsregierung in dem genannten Schreiben darum baten, die alawitischen Gebiete Syriens in dem Vertrag, der mit der syrischen Verhandlungsdelegation in Paris ausgehandelt wurde, nicht dem syrischen Staatsgebiet zuzuschlagen. In der Einleitung zur Dokumentation schreibt der Herausgeber der Zeitung Anton Saab: "Aus diesem historischen Dokument geht hervor, dass das Projekt der Errichtung eines Alawitenstaates in Syrien schon viele Jahrzehnte alt ist." Auffällig ist jedoch, dass der Herausgeber von den Unterzeichnern des Dokuments lediglich Salman al-Asad (den Großvater des heutigen Präsidenten Bashar al-Asad) erwähnt und alle übrigen ungenannt lässt.


Bevor hier näher auf das vielen als Schlagwort geläufige Projekt Alawitenstaat in Syrien eingegangen wird, sei auf Folgendes hingewiesen: Auch die Kairoer Zeitung Al-Ahram hat dasselbe Dokument bereits in den achtziger Jahren veröffentlicht, insofern brachte An-Nahar also keine Neuigkeit. Auch der ehemalige Vorsitzende des Syrischen Gewerkschaftsbundes Khaled al-Jundi hatte mir das besagte Dokument bereits einige Monate vor der Veröffentlichung durch Al-Ahram in Berlin vorgelegt. Ich hatte mich damals lediglich darüber gewundert, dass Salman al-Asad als Mitunterzeichner des Briefes aufgeführt war, denn er hatte nicht denselben Rang wie die anderen Autoren, welche da waren: Aziz Agha al-Hawwash, Muhammad Agha Jadid, Muhammad Bek Junaid, Salman al-Murshid und Muhammad Sulaiman al-Ahmad (besser bekannt unter seinem Dichternamen Badawi al-Jabal). Zum anderen repräsentierten diese Herren nicht alle Alawiten, denn andere wollten ausdrücklich die Einheit mit Syrien, wie noch zu zeigen sein wird.

Aber auch die Unterzeichner waren keine strikten Gegner der syrischen Einheit, die im Sommer 1936 in Paris zur Verhandlung stand. Aziz al-Hawwash, Oberhaupt der Al-Matawira-Sippe, kooperierte schon wenige Monate später mit der Regierung des Nationalen Blocks in Damaskus, und Salman al-Asad gehörte zu jener alawitischen Delegation in Aleppo, die eine Abordnung des in Paris verhandelnden Nationalen Blocks empfing (deren damalige Zeitung al-Qabas listet die Namen der Alawiten auf). Badawi al-Jabal wiederum, der für viele Meinungswechsel bekannt war, schrieb Gedichte, die in der ganzen arabischen Welt bekannt wurden, darunter Lobeshymnen auf die "Omayyadenhauptstadt" Damaskus. Zudem sind seine Verbindungen zur Nationalen Partei bekannt, und er wurde mehrfach ins damalige syrische Parlament gewählt. Auch Salman al-Murshid kandidierte bereits im Herbst 1936 für das Parlament, wurde gewählt und nahm an all seinen Sitzungen in Damaskus teil, was als Beleg für seine Billigung der syrischen Einheit zu sehen ist.

Aus all dem wird bereits deutlich, dass das Projekt Alawitenstaat im Denken der meisten Alawiten kaum verwurzelt war und dass auch insofern keine Grundlage für die Errichtung eines solchen bestand, als die Alawiten sich danach politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich schnell und fest in den entstehenden syrischen Nationalstaat integrierten.


Die Alawiten in der Mandatszeit

Die Unterzeichner des Dokuments von 1936 befürchteten lediglich, die syrische Einheit könnte zu einer Fortsetzung des osmanischen Staates werden, der die Alawiten mehr unterdrückte und drangsalierte als andere Regionen Syriens. Die Unterzeichner wussten damals noch nicht, dass sich der Nationale Block als Führer des Kampfes gegen das französische Mandat in Syrien die Prinzipien der arabischen Nahda zu eigen gemacht hatte, die für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft aller Konfessionen stand. Ihre Befürchtungen waren somit unangebracht und gründeten lediglich auf einem Mangel an Information, was auch in der Isolation der verschiedenen Landesregionen voneinander begründet war.

Während der Osmanenzeit hatte keinerlei wirtschaftliche Verbindung zwischen dem Alawitengebirge und Damaskus oder Aleppo bestanden. Die Alawiten lebten völlig abgeschieden vom syrischen Landesinneren, und ihr Gebirgsgebiet war administrativ der Region Beirut zugeordnet. Subsistenzwirtschaft dominierte, und die Alawiten erlebten die osmanische Macht nur in Gestalt der Peitsche der Steuereintreiber und der Unterdrückung durch die syrischen Notabeln, die sich Land in der Ebene aneigneten und es feudal ausbeuteten. Leidtragende waren alawitische ebenso wie sonstige syrische Bauern, aber die alawitischen Bauern merkten, dass sie besonders schlecht behandelt wurden. Die Aghas, Beks und Effendis gingen mit den alawitischen Dörfern, die ihnen unterstanden, um, als könnten sie dort tun und lassen, was sie wollten. Hierin lagen die Furcht und das Misstrauen der alawitischen Bauern gegen alle anderen begründet, ohne dass sie zwischen Feudalherren und gewöhnlichen Syrern ohne Ressentiments unterschieden. Vom Standpunkt der Benachteiligung der Alawiten durch die Osmanen ist also die Haltung mancher Alawiten zu sehen, die gegenüber einer Integration in den syrischen Gesamtstaat skeptisch waren.

Die Alawiten lebten in Sippen mit Oberhäuptern und hatten ihre Religionsgelehrten. Die Willkür der osmanischen Soldaten trug, wie auch in anderen Gegenden des Reiches, dazu bei, dass die gewöhnlichen alawitischen Bürger, mehrheitlich Bauern, bei ihren Sippenchefs und Scheichs Schutz suchten. An der Spitze der tribalen Hierarchie standen die Sippenoberhäupter, die teilweise auch zu Landbesitzern wurden. Neben ihnen oder nur wenig unter ihnen stand eine Gruppe religiöser Scheichs, aber nicht alle Scheichs hatten denselben Rang. Es gab solche höchsten Ansehens, denen nie ein Wunsch abgeschlagen wurde, andere mittlerer Stellung und schließlich ortsungebundene Scheichs, die zu den Armen zählten. In einem Landesführer über Libanon und Syrien, der 1912/1913 in Ägypten erschien, hieß es damals über die Alawiten: "Nach alter Gewohnheit stehen die Scheichs der Nusairier (alte Bezeichnung für die Alawiten, d.Ü.) in keinem Vertrauensverhältnis zu den Herrschern, da diese ihnen seit alters ihr Geld abnehmen." ...

Als die französischen Kolonialtruppen 1919 an der syrischen Küste landeten, waren die Sippenoberhäupter die wahren Machthaber in Syrien. Das französische Mandat beförderte dieses Phänomen, war aber nicht dessen Urheber, wie es manche behaupten, die es vorziehen, sich der Realität zu verweigern. In einem Schreiben des Nationalen Blocks von 1933 an den französischen Hochkommissar heißt es: "Die Alawiten zerfallen in Sippen, und jede Sippe hat ihr Oberhaupt. Frankreich hat versucht, sich einige dieser Familienoberhäupter gewogen zu machen. Es gab ihnen Geld und Rang, es gewährte ihnen Macht, und dadurch wurden sie zu Tyrannen." Tatsächlich machte sich die französische Mandatsmacht nicht nur Alawitenführer gewogen, sondern versuchte bei allen Konfessionsgruppen überall in Syrien, Sippenvorstände und Dorfnotabeln für sich zu gewinnen, um eine möglichst breite Basis an Unterstützern für die französische Herrschaft zu gewinnen. Mit dem Rückhalt von Stammeschefs, Ehrenpersonen und Religionsgelehrten aller Konfessionen ließ sich das Land nun einmal leichter regieren.


Wer ist alawitischer Muslim?

1946 veröffentlichte der nationalistisch gesinnte Damaszener Forscher Munir ash-Sharif ein Buch mit dem Titel: "Wer sind die alawitischen Muslime?". Der Autor hatte unter Alawiten gelebt und Freundschaft mit ihnen geschlossen, und seine Ausführungen sind von dem nationalen brüderlichen Geist geprägt, der damals in Syrien dominierte und dessen Parole lautete: "Die Religion gehört Gott, das Vaterland allen". Ash-Sharif dokumentiert in seinem Buch eine Stellungnahme alawitischer Scheichs, die diese 1936 in einer Broschüre abgedruckt hatten und in der es hieß: "Jeder Alawit ist Muslim, er spricht das islamische Glaubensbekenntnis, lebt danach und erfüllt die fünf Säulen des Islam. Die Alawiten sind lediglich Anhänger des Imams Ali. Sie sind Nachkommen jener arabischen Stämme, die den Imam Ali am oberen Euphrat unterstützt hatten." Und im Kapitel über "die Auswanderung der Alawiten in ihre Berge" fährt der Autor fort: "Diese Araber, die sich in den Bergen um Lattakia niedergelassen haben, haben dort ein arabisches Gemeinwesen nusairischer Konfession errichtet. Der alawitische Muslim ist demnach: ein Araber von Abstammung, Sprache, Geschichte, Mentalität, seinem islamischen Glauben, seinen Tradition und seinen Prinzipien her." Schließlich erwähnt ash-Sharif noch ein Dokument alawitischer Religionsgelehrter vom Juli 1936, in dem das Gerücht widerlegt werden sollte, die Alawiten seien keine Muslime. Das Dokument war übertitelt mit dem Satz: "jeder Alawit ist Muslim". Die Namen der Unterzeichnenden sind in der schon erwähnten Zeitung al-Qabas vom 27. Juli 1936 aufgeführt.

Außer der osmanischen Unterdrückung gab es noch andere Gründe für die Isolation, in der die Alawiten lebten. Ein Buch über Syrien von 1922 (ad-Dalil as-suri) stellte fest, dass es bei den Alawiten keine Händlerschicht gab: "Die Händler der alawitischen Gebiete haben einen schwachen Stand und sind nicht in der Lage, bedeutende wirtschaftliche Tätigkeiten zu entwickeln", heißt es dort. Dies und das Fehlen von Handelsstädten bedeutete auch, dass eine politische Bewegung, die einen gemeinsamen Markt forderte, wie es sie unter der Händlerbourgeoisie in Damaskus und Aleppo gab, bei den Alawiten ausblieb. Damit blieben auch die Ideen der Nahda-Bewegung, auch wenn aufgeklärte alawitische Intellektuelle sie vertraten, in dieser Bevölkerungsgruppe schwach ausgeprägt, denn im Alawitengebirge gab es, wie allgemein im ländlichen Bereich Syriens, keine städtischen Zentren, sondern allenfalls große Dörfer, und die Wirtschaft beschränkte sich auf Ackerbau und Viehhaltung.


Rückgang konfessioneller und familiärer Loyalität

Je brutaler und umfassender die Unterdrückung durch die Osmanen war, desto stärker verfestigten sich konfessionelle und tribale Tendenzen. Die Feudalpolitik der Osmanen zwang die Syrer - nicht nur die Alawiten - dazu, sich zu verteidigen und Schutz bei der Sippe und in der jeweiligen Konfessionsgemeinschaft zu suchen beziehungsweise solche Bindungen neu zu schaffen. (...) Dies galt umso mehr für solche Gebiete, in denen konfessionelle Minderheiten siedelten, die ohnehin, wie die Alawiten, in die Berge gezogen waren, um dem Druck der osmanischen und vorher der mamlukischen Tyrannei zu entgehen.

Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches entwickelte sich der arabische Nationalismus nach bürgerlichem europäischem Vorbild, vermischt mit Anleihen bei Ibn Khalduns Thesen zur "Asabiya". Aber die alten Ideologien verschwanden auch nicht gänzlich, insbesondere in der Volkskultur, und so koexistierten zu Beginn der französischen Mandatsherrschaft verschiedene widersprüchliche geistige Strömungen in Syrien.

Gesellschaftlich bedeutete das Ende des Osmanischen Reiches für Syrien einen großen Schritt nach vorn. Es setzte gewaltige nationalistische Kräfte frei, unter Bauern ebenso wie unter den Bewohnern der Städte, die durch die Parolen der osmanischen Oberschicht und deren Funktionalisierung der Religion getäuscht worden waren. Nun kam es zu einer Massenbewegung, die der arabischen Unabhängigkeitsbewegung insgesamt Glanz und Kraft verlieh und in dieser den progressiven Kräften Auftrieb verschaffte. Dies wiederum führte zu einer Schwächung des Konfessionalismus und des Tribalismus - Kräfte, die jedoch nicht verschwanden und nur darauf warteten, jederzeit wieder an die Oberfläche zu kommen, sollte es zu gesellschaftlichen Umbrüchen kommen.

In den vierziger und fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ließ sich tatsächlich ein Rückgang konfessioneller und familiärer Loyalität beobachten, während nationalistische Ideen, gerade in Syrien als dem Mutterland des arabischen Nationalismus, immer mehr Anklang fanden. Gleichzeitig waren Konfessionalismus und Tribalismus von Widersprüchen geprägt: Zusammengehörigkeit und Solidarität auf der einen Seite standen Auseinanderstreben und wechselseitige Kämpfe auf der anderen. Denn Konfessionalismus mag zwar Zusammenhalt gegen die Umgebung bedeuten, aber die Sippen können untereinander auch in Konflikte geraten, die zuweilen mit Waffengewalt ausgetragen werden. Es gibt meines Wissens keine anthropologische Studie, die für das Alawitengebirge untersucht hätte, wie der Übergang von der Osmanenzeit zur französischen Mandatsherrschaft dort vonstatten gegangen ist und wie sich dadurch das Verhältnis von Konfession, Sippe und Staat entwickelt hat. Der Autor dieser Zeilen hat zwar vor Ort einige rudimentäre Erhebungen hierzu gemacht, die jedoch nicht veröffentlicht werden konnten, weil "Intellektuelle des Regimes", die nur über oberflächliches Wissen verfügen und denen nur daran gelegen ist, sich ohne große Mühe Pfründe zu sichern, dagegen waren.


Die Haltung der Alawiten zur syrischen Einheit

Zu Beginn des Jahres 1936 waren die Alawiten tief gespalten: Die einen forderten den Anschluss an den syrischen Staat, die anderen wollten eigenständig bleiben. Eine Konferenz hierzu in Tartus brachte kein Ergebnis, vielmehr nahmen die Gegensätze zwischen beiden Lagern zu, und die Gräben wurden nur noch tiefer. Die Befürworter der Einheit entsandten eine Delegation aus Alawiten, Sunniten und Christen nach Damaskus, wo sie begeistert empfangen wurden und die nationalistische Presse ihren Besuch in freudigen Schlagzeilen feierte.

Dieselbe Strömung hielt im Januar 1939 in Tartus eine eigene Konferenz ab und verabschiedete ein Memorandum, das den französischen Behörden vorgelegt werden sollte. Darin hieß es, die Provinz Lattakia sei ein untrennbarer Bestandteil Syriens, man unterstütze die Übereinkunft zwischen dem Nationalen Block und Frankreich, Syrien in die Unabhängigkeit zu entlassen und den Beschluss des Parlaments vom November des Vorjahres, Lattakia zu einem Bestandteil der Syrischen Republik zu erklären.

Zur Vorhut der arabischen Nahda-Bewegung im Alawitengebirge gehörte Wajih Muhiddin. Besonders deutlich wurde dies in seiner Rede zum Goldenen Jubiläum (50ten Geburtstag, Anm. Red.) von Scheich Sulaiman al-Ahmad in Lattakia am 14. Oktober 1938, wo er sagte: "Die muslimische alawitische Jugend will, dass die Sippen und Parteien im umfassenden nationalen Schmelztiegel aufgehen. Es soll nur die Stimme des Arabertums bestehen, und nur die Religion der Liebe und der Solidarität. Wir wollen, dass die unsinnigen Stammesgrenzen verschwinden und auf ihren Trümmern ein unbezwingbares Gebäude errichtet wird, das Gebäude einer Partei, in der die Meinungen harmonieren, die Ideen eins sind und deren Ausrichtung Verbrüderung heißt."

Wajih Muhiddin hatte im November 1937 in Tartus die "Nahda - Monatszeitschrift für Literatur und Gesellschaft" gegründet und Hamed Hassan die Herausgabe übertragen. Das Ziel des Magazins sollte sein, "die verborgene Schaffenskraft und Genialität des islamischen alawitischen Volkes herauszustellen, um sie der großen arabischen Nation in ihrer wahren Form darzubieten, nicht, wie Voreingenommene behaupten, planvoll oder dünkelhaft, und nicht um die Moral der jungen Alawiten zu stärken, sie aus ihrer Isolation in die Öffentlichkeit zu holen oder ihre schlummernden Emotionen zu befreien".

Der Sieg der Strömung, die zur syrischen Einheit aufrief, offenbarte sich schließlich 1944, als der syrische Präsident Shukri al-Quwwatli die Provinz Lattakia besuchte. Ihm wurde von Masyaf bis Talkalakh von offizieller Seite und vom Volk ein begeisterter Empfang bereitet. In Ras al-Khashufa bei Safita ließ Yusef al-Hamed einen riesigen Pavillon für den Präsidenten errichten, und Scheich Abdallatif Ibrahim deklamierte ein bedeutungsvolles Gedicht, in dem es hieß: "Diese Berge sind arabische Armreifen, die lange rosteten, weil Damaskus ihren Glanz verkommen ließ." Mit diesem Besuch und dem Jubel, mit dem der Präsident der Republik empfangen wurde, galt das Alawitengebirge als Teil der "arabischen syrischen Nation". Patriotische Gefühle eroberten die Herzen der Massen, besonders unter gebildeten Schichten. Als Ausdruck der nationalen Einheit empfing die syrische Regierung unter Präsident Quwwatli auch Scheich Salih al-Ali, den Anführer der Aufstände von 1919-1921 gegen die damalige französische Besatzung. Dieser hielt zur Feier des Abzugs der ausländischen Truppen im April 1946 eine Rede, in der er die Einheit des Landes hervorhob.

Bei der Nachverfolgung dieser Ereignisse tritt klar zutage, dass die Mehrheit der Alawiten keinen unabhängigen Staat für sich anstrebte. Noch weniger griffen Alawiten je zu den Waffen gegen die Omayyadenhauptstadt, der der Dichter Badawi al-Jabal soviele Gedichte gewidmet hatte. Der Alawitenstaat, den die französische Mandatsherrschaft schaffen wollte (der Alawitenstaat wurde von den Franzosen 1924 erklärt, Anm. Red.), war eben kein Staat der Alawiten, sondern ein Werkzeug der Franzosen. Der Vertretungsrat dieses Staates umfasste Alawiten, Christen, Sunniten und Ismailiten. Der Nationale Block Syriens mit seinen arabisch-nationalistischen Bestrebungen wirkte darauf hin, das Land zu einen und eine gesamtsyrische Republik zu begründen.

Ab Mitte der dreißiger Jahre setzten sich säkulare Parteien schrittweise auch im Alawitengebirge durch, womit Konfessionalismus und Sippendenken in den Hintergrund gedrängt wurden. Diese Parteien waren:

Die Syrische Soziale Nationale Partei, deren Vorsitzender durch die Regionen reiste und dort vor allem Intellektuelle als Mitglieder gewinnen konnte. Unter den Alawiten sind hier Jamil Makhluf und Fadhil al-Kandj hervorzuheben.

Die Sozialistische Arabische Baath-Partei, in der der alawitische Arzt Wahib al-Ghanem eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung der Baath-Ideen vor allem unter Alawiten spielte, aber auch unter jungen Sunniten und vielen Christen der Städte. Al-Ghanem verankerte somit die Ideen einer säkularen Partei, die dem Konfessions- und Sippendenken fern stand und rief zur Einheit der gesamten arabischen Nation mit all ihren Religionen, Konfessionen und Stämmen auf.

Die Syrische Kommunistische Partei, deren Programm der Alawit Badr Marjan aus dem libanesischen Tripolis propagierte, indem er zu Fuß von Dorf zu Dorf zog, wobei er sich als Eierkäufer ausgab. Der Alawit Habib Hassan, der Christ Daniel Ni'ma und der Sunnit Abdalkarim Tayyara setzten Marjans Mission fort.

Bei meinen Feldforschungen zur Geschichte der Bauern konnte ich zudem überall feststellen, wie sehr die alawitischen Bauern, die lange unter feudaler Ausbeutung gelitten hatten, Akram al-Haurani verehrten, den Vorsitzenden der Arabischen Sozialistischen Partei und gebürtig aus Hama, der sich für die Befreiung der Bauern eingesetzt hatte. Als die Bauern 1951 zu einem Festival nach Aleppo kamen, sangen sie ihm ein Loblied.


Die Aufstände

Die syrische Stadt Hama, bislang eine Hochburg der Großgrundbesitzer, wurde in den dreißiger und vierziger Jahren zu einer Hochburg des Kampfes gegen das Feudalwesen, den die Mittelschicht und die Intellektuellen von Hama mittrugen, während die Bauern sich gegen den Feudalismus erhoben. In den sechziger Jahren beendete die Landreform das Dasein Hamas als Hochburg des Großgrundbesitzes und machte die Stadt zu einer Hochburg der Sozialistischen Partei von Akram al-Haurani, der sich alawitische, sunnitische und christliche Bauern anschlossen.

Mit dem Rückgang des Einflusses der Linken im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts und dem Erstarken des politischen Islams übernahmen in Hama die Muslimbrüder die Führung und verdrängten die Sozialisten, die sich zuerst der Baath-Partei angeschlossen und sich dann wieder von ihr abgespalten hatten. (...)

Die Landreform und die Verstaatlichungen der sechziger Jahre veränderten die Kräfteverhältnisse zugunsten der unteren Schichten, besonders aber der ländlichen Mittelklasse. Diese erhielt Zugang zur Macht über ihre Söhne, die die Militärakademie in Homs als Offiziere verließen und dann im Namen der Baath-Partei regierten. Da viele Offiziere Alawiten waren, erleichterte dies vielen anderen Alawiten den Zugang zu Machtposten, die bislang Notabeln und Wohlhabenden der Städte vorbehalten gewesen waren. Diese und andere Offiziere vom Land hatten immer Landreform, Verstaatlichung und den Aufbau des öffentlichen Sektors unterstützt. Dann kam der Staatsstreich des Militär vom 8. März 1963, durch die die Baath-Partei zur Fassade einer Herrschaft von Militärs wurde, die jedoch untereinander schon bald in Konflikt gerieten und sich gegenseitig liquidierten. Selbst alawitische Offiziere brachten sich gegenseitig um, blieben aber dennoch diejenigen mit der größten Schlagkraft und führten unter dem Banner des Sozialismus die Landreform und die Verstaatlichungen fort.

Die mit den Muslimbrüdern verbündeten Rechtsparteien Syriens blieben aber nicht untätig. Sie opponierten gegen die sozialistische Linie und vermischten dabei Klasseninteressen (feudalistische Kräfte und Kapitalbesitzer gegen die unteren Schichten) mit Konfessionalismus (Mehrheitskonfession gegen Minderheiten). Aber auch linke Gruppierungen begannen die Regierung aus einer anderen Position und aus anderen Motiven heraus zu bekämpfen. Dadurch kam es in Syrien während der Baath-Ära zu mehreren politischen Revolten. Zu nennen sind die Aufstände von Hama 1964 und 1982 (Muslimbrüder) und Proteste eines linken Parteienbündnises in den siebziger Jahren, das sich jedoch darauf beschränkte, Kommuniqués herauszugeben, ohne dass die Bewegung auf die Straße übergriff, weil die Staatsmacht die meisten ihrer Mitglieder sofort ins Gefängnis warf. Zu erwähnen ist zudem der "Damaszener Frühling" von 2005 (linke und säkulare Gruppen). Die Volksproteste von 2011 dauern bis heute an. Sie umfassen die Muslimbrüder, säkulare Linke und junge Menschen, die mit einer Entschlossenheit und einem Mut, der alle erstaunte, den Kampf aufnahmen.

1982 (Niederschlagung des Aufstandes in Hama, Anm. Red.) unterstützten noch viele sunnitische Bauern, die von der Landreform profitiert hatten, das Baath-Regime, das ihnen Land gegeben hatte. Aber deren Kinder und Enkel stehen heute auf Seiten des Aufstands, denn die Großgrundbesitzer sind weg und die Gefahr einer Wiederkehr des Feudalismus ist nicht gegeben. 1982 trug das Regime noch Züge einer Unterstützung der benachteiligten Schichten, während es heute mit einer zivilen und militärischen bürokratischen Schicht sowie mit einer parasitären Händlerbourgeoisie im Bunde steht, mit der zusammen es den Reichtum des Landes abschöpft. Darin liegt auch der Volksaufstand von 2011 begründet, an dessen Oberfläche nun auch konfessionelle Tendenzen erscheinen.


Dr. Abdallah Hanna, Historiker und Experte für die Geschichte der Arbeiter- und Bauernbewegung und der Nahda in Syrien.

Aus dem Arabischen von Günther Orth.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 70, Sommer 2012

Gastkommentar:
- Der politische Masterplan des Militärs. Von Heiko Flottau

Endspiel:
- Abd al-Rahman al-Kawakibi im Spiegel der syrischen Aufstände. Von Jens Heibach und Inana Othman
- Abd al-Rahman al-Kawakibi. Was ist Despotie?
- Das angebliche "Projekt Alawitenstaat". Von Abdallah Hanna
- 30 Jahre Hafez al-Asad. Von Norbert Mattes
- Anmerkungen zu den syrischen Aufständen. Von Omar S. Dahi
- Dardari: Der Trojaner des neoliberalen Syrien. Von Ghadi Francis
- Die religiösen Stützen der säkularen Diktatur. Von Mona Sarkis
- Mächtige Muslimbrüder? Von Mona Sarkis
- Die Opposition als Bürde der Revolution? Von Hazem Nahar
- Opposition gegen die syrische Opposition - gegen den SNC. Von As'ad Abu Khalil
- SNC auf dem Weg zur "flüssigen Demokratie!?" Von Osama ash-Shorbaji und Haitham al-Hamwi
- Das syrisch-kurdische Parteienspektrum. Von KurdWatch
- Dialog oder Tod? Von Radwan Mortada
- Hizbullahs subtiler Schwenk im Syrien Konflikt. Von Nicholas Noe
- Warum Hizbullah das Asad-Regime unterstützt. Von Amal Saad-Ghorayeb
- Was ist los mit Al Jazeera? Von Paul Jay

Algerien:
- Ahmed Ben Bella 1916-2012. Von Werner Ruf

Iran:
- Parlamentswahlen im Iran und ihre politische Bedeutung. Von Javad Kooroshy

Libyen:
- Der Große Künstliche Fluss Libyens - Mythen und Realitäten. Von Konrad Schliephake

Palästina/Israel:
- Hacking-Angriff auf Palästina. Die digitale Besatzung Von Helga Tawil-Souri

Rassismus:
- Anti-afrikanische Pogrome in Israel. Von R. Kazandjian, A. H. Dimerdji und S. Asumadu
- Ethnische Säuberung, Genozid und die Tawergha. Von HRI

Turkmenistan:
- Ein zentralasiatisches Myanmar? Von Nick Keith

Sudan:
- Sudan und Südsudan: Dem Krieg eine Chance? Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar:
- Syrien: Pläne für danach ...

Zeitensprung:
- Modis offenes Geheimnis - Der Godhra-Zwischenfall 2002. Von Jörg Tiedjen

Kultur:
- While Waiting - Das "Freedom Theatre" in Jenin.
- Der Dichter Taha Muhammad Ali "... an der Nase herumgeführt". Von Hakam Abdel-Hadi

ex mediis:
- Afghanistan in den internationalen Publikationen. Von Matin Baraki
- Parteien in Syrien im 20. Jahrhundert / Arabisch-islamische Philosophie der Gegenwart / Kultur der Ambiguität. Redaktion; Nausikaa Schirilla; Arno Schmitt

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 70, Jahrgang 18, Sommer 2012, Seite 7 - 10
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2012