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OSTEUROPA/279: Quo vadis Ukraine? (Andrej Bekenjow)


Quo vadis Ukraine?

Von Andrej Bekenjow, Sankt Petersburg - 27. Mai 2009


Die derzeitige politische Situation in der Ukraine ist durch keinen so genannten Flügelkampf der beiden Lager unter Ministerpräsidentin Timoschenko einerseits und dem derzeitigen ukrainischen Präsidenten Juschtschenko andererseits gekennzeichnet, sondern einem Kampf zwischen Demokratie und einer angestrebten Präsidialdiktatur.
Das wurde spätestens ersichtlich, nachdem Juschtschenko am 31. März 2009 in Anwesenheit hochrangiger Vertreter von Staat und Wirtschaft sowie Vertretern des diplomatischen Corps in seiner Rede an die Nation einen Entwurf für eine neue Verfassung vorlegte, demzufolge er personalpolitisch über die wichtigsten Ämter im Staate entscheiden würde. Der ukrainische Staatspräsident wäre dann Oberkommandierender aller bewaffneten Organe, würde selbständig, ohne Zustimmung des Parlaments internationale Verträge unterzeichnen können und würde den Vorsitzenden des In- und Auslandsgeheimdienstes, den Staatsbankchef, ja sogar den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, bestimmen dürfen.
Die Entscheidungsrechte des Präsidenten, die in der jetzt geltenden ukrainischen Verfassung schon sehr groß sind, würden so noch erheblich erweitert werden. Von einer so genannten Unabhängigkeit der Justiz könnte in diesem Falle keine Rede mehr sein. Der Präsident erhielte mit dieser neuen Verfassungsreform z. B. das alleinige Recht, über den Aufenthalt ausländischer Militärverbände auf ukrainischem Boden zu entscheiden. So könnte er NATO-Truppen schon vor einem offiziellen Beitritt der Ukraine zur NATO ins Land rufen und auf ukrainischem Boden stationieren, ohne, wie jetzt noch, das Parlament oder die Regierung um Zustimmung ersuchen zu müssen.
Selbst bürgerlichen Demokratien zufolge trüge das Ganze eindeutig diktatorischen Charakter.
Interessant dabei ist jedoch, dass darüber alle westlichen Demokratien den Mantel des Schweigens werfen, da Juschtschenko "ihr" Mann ist.
Hatte er doch in Interviews, Regierungserklärungen und dgl. immer wieder offen verkündet, dass er eine baldmöglichste Aufnahme der Ukraine in die NATO wünscht, was nach der bestehenden Verfassung nicht möglich, nach einer von Juschtschenko vorgeschlagenen Verfassungsreform aber durchführbar wäre.
Bei diesem Vorhaben stören natürlich solche Realpolitiker wie der noch fungierende Innenminister Luzenko, der sich seit Herbst 2007 offen zum Regierungslager um Frau Timoschenko bekennt. Sein Flügel "Selbstverteidigung des Volkes" der Parlamentsfraktion "Unsere Ukraine Selbstverteidigung des Volkes", den Luzenko leitet, hat Anfang März 2009 im Parlament ebenfalls für die Beschneidung der derzeit recht umfangreichen Vollmachten des ukrainischen Präsidenten gestimmt.
Ein solches Gesetz aber steht der seitens Juschtschenkos vorgeschlagenen Verfassungsreform diametral entgegen. Jedenfalls scheinen sich die westlichen Demokratien einig darin zu sein, dass man ein Zusammengehen zwischen dem Lager von Frau Timoschenko, Bjut und dem von Janukowitsch, Partei der Regionen, die damit die absolute Mehrheit im Parlament hätten, auf jeden Fall verhindern will. So haben sowohl Ministerpräsidentin Timoschenko als auch Janukowitsch mehrfach verkündet, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO nur durch das ukrainische Volk entschieden werden kann!
So wäre auch das aufgeregte Agieren des Internationalen Währungsfonds Ende April 2009 in Washington zu verstehen, der aufgrund der politischen Lage in der Ukraine seine "Hilfe" in Frage gestellt hatte.
Wie stark und tendenziös die Medien im Interesse gewisser politischer Kreise in Aktion treten, hat man auch im Falle Luzenkos gespürt. Es stellt sich nämlich die Frage, warum Deutschland offen gegen das Immunitätsprinzip - nicht nur in Bezug auf den ukrainischen Innenminister und dessen Sohn, sondern auch in Bezug auf die gesamte ukrainische Regierungsdelegation - verstoßen hatte, als man sie am 4.5.09 auf dem Flughafen in Frankfurt am Main an der Weiterreise zu Regierungsgesprächen nach Seoul hinderte?
Die Diskreditierung des ukrainischen Innnenministers Luzenko in den Augen der Öffentlichkeit (die Staatsanwaltschaft von Kiew hat am 7.05.2009 ein Strafverfahren, ja, sogar einen Haftbefehl gegen ihn wegen der Vorgänge am Flughafen in Frankfurt am Main erlassen!) könnte andererseits die Reputation des ukrainischen Präsidenten erhöhen.
Sollte der einflussreiche, gegen Juschtschenko eingestellte Politiker Luzenko, der sowohl den Flügel "Selbstverteidigung des Volkes" im ukrainischen Parlament leitet und dem alle Polizeikräfte des Landes unterstehen, abgewählt werden, wäre Juschtschenko seinem Ziel, der Errichtung einer Präsidialdiktatur, ein großes Stück näher gekommen!! In dieses Puzzle passt auch die Inhaftierung hoher staatlicher Vertreter in der Ostukraine, die gleichsam eint, in Opposition zum derzeitigen ukrainischen Präsidenten zu stehen.
Was schert den Westen, dass Juschtschenko, der ehemals durch die "orange Revolution" an die Macht gekommen ist, Umfragen zufolge nur noch ca. 5 % der Bevölkerung hinter sich hat.
Verfolgen die westlichen Staaten doch das gleiche Ziel wie der derzeitige ukrainische Präsident Juschtschenko - eine schnellstmögliche Einbindung der Ukraine in die NATO!
Dafür scheint ihnen jedes Mittel recht zu sein.


Andrej Bekenjow, Korrespondent aus Sankt Petersburg, 27.05.2009


Übersetzung ins Deutsche: Brigitte Queck


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Quelle:
Andrej Bekenjow, St. Petersburg, 27.05.09
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Übersetzerin
© 2009 Andrej Bekenjow, St. Petersburg


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2009