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OSTEUROPA/341: Wohin steuern Polen, Tschechien und die Slowakei nach den Wahlen? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Demokratische Klärungsprozesse
Wohin steuern Polen, Tschechien und die Slowakei nach den Wahlen?

Von Julian H. Wyszynski-Trzywdar


Polen, Tschechien und die Slowakei haben wichtige Wahlen hinter sich. Die Ergebnisse spiegeln zwar auch Entwicklungen wider, die vorher bereits in den älteren Demokratien Westeuropas zu beobachten waren. Vor allem aber kommt hier im politischen Alltag jetzt offenbar ein Prozess der Ablösung in Gang, 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion.


Die Slowakei, das mit 5,5 Millionen Einwohnern kleinste der drei Länder, galt nach der Trennung von Tschechien im Januar 1993 längere Zeit als politisch instabil. Doch das hat sich gründlich geändert. Seit Januar 2009 ist das Land, anders als die beiden Nachbarstaaten, bereits Mitglied der Eurozone und steht wirtschaftlich und politisch erstaunlich gut da.

Der slowakische Staatspräsident wird, wie in Polen, vom Volk gewählt. Seit 2004 bekleidet das Amt Ivan Gasparovic, der nach seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr noch vier Amtsjahre vor sich hat. Seine Konkurrentin bei der letzten Wahl ist die heutige Ministerpräsidentin. Nach der Parlamentswahl am 12. Juni 2010 beauftragte Gasparovic zunächst den bisherigen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Robert Fico, dessen Partei SMER-SD mit knapp 35% und einem Zugewinn von zwölf Parlamentssitzen die Wahl eindeutig gewonnen hatte, mit der Regierungsbildung. Trotz dieses Erfolges konnte Fico aber keine neue Regierung zustande bringen, da einer der bisherigen Koalitionspartner, die Volkspartei HZDS, überraschend unter und der andere, die Slowakische Nationalpartei SNS, nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde gelandet war. So geschah es, dass Iveta Radicová, deren SDKU lediglich 15,4% errungen hatte, eine Koalition mit drei weiteren Parteien schmiedete, die sie in kürzester Zeit zur Regierungschefin machte. Dieser Viererkoalition aus christlich-liberaler SDKU, liberaler SaS, christdemokratischer KHD und der Partei der ungarischen Minderheit Most-Hid hat, so unsicher dies zu sein scheint, jedoch gute Chancen, die Legislaturperiode mit Erfolg zu überstehen. Denn der Wahlgang vom 12. Juni, bei dem zwei mittelgroße Parteien unter die Fünf-Prozent-Hürde gerieten, während zwei andere neu ins Parlament kamen, sodass sich ein beachtlicher Austausch an Mandaten ergab, dürfte den Beginn eines demokratischen Klärungsprozesses markieren.

Iveta Radicová, die bisher die Opposition anführte, gilt als politisch erfahren und durchsetzungsfähig. Ihr stehen mit dem Literaturprofessor und Diplomaten Rudolf Chmel von Most-Hid als ihrem Stellvertreter und dem früheren Regierungschef Mikulás Dzurinda als Außenminister starke und erfahrene Politiker zur Seite. Die Beteiligung der erst 2009 gegründeten Most-Hid, deutsch: Brücke-Partei der Zusammenarbeit, dürfte zudem bisher aufgetretene Konflikte mit dem Nachbarland Ungarn nun leichter aus dem Weg räumen. Im Rahmen eines Treffens der Visegrád-Gruppe am 21. Juli, zu der neben Tschechien, der Slowakei und Polen auch Ungarn gehört, bemühte sich Frau Radicová bereits um eine deutliche Annäherung an Ungarn. In Polen vereinbarte sie wenige Tage später mit dem polnischen Regierungschef Tusk eine gemeinsame EU-Initiative.


Auf Europa-Kurs

Auch in Tschechien, dem mit 10,5 Millionen Einwohnern fast doppelt so großen Nachbarn, landete die sozialdemokratische CSSD nach der Parlamentswahl Ende Mai 2010 auf dem ersten Platz. Allerdings verlor die Partei mit nur 22% ein Drittel ihrer bisherigen Wähler und büßte deshalb 18 Sitze im Abgeordnetenhaus ein. Der Demokratischen Bürgerpartei ODS, die im Jahre 2006 mit 35,4% noch stärkste politische Kraft im Lande war, ging es jetzt noch schlechter. Sie verlor über 15% der Stimmen und 28 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Dennoch ernannte Staatspräsident Václav Klaus den ODS-Spitzenkandidaten Petr Necas zum neuen Regierungschef. Im Fünf-Parteien-Parlament gelang es Necas, eine konservativ-bürgerliche Koalition zu bilden. Die Koalitionsparteien TOP 09, deutsch: Tradition, Verantwortung, Wohlstand, des Fürsten Karel Schwarzenberg und die Partei VV Veci verejnie, deutsch: Öffentliche Angelegenheiten, sind beide neu im tschechischen Parlament. Vorsitzender der VV ist der Publizist Radek John, der zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung gemacht hatte, den Posten des Innenministers und den des Vizepremiers zu bekommen. So entstand ein Kabinett, dem erstaunlicherweise nur Männer angehören.

Bemerkenswert an den politischen Veränderungen in Tschechien ist vor allem, dass einerseits die traditionsreiche Christlich-Demokratische Union KDU-CSL erstmals unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde landete, was auf parteiinterne Streitigkeiten zurückzuführen ist, und anderseits auch die vorher nicht unbedeutende Partei der Grünen (SZ) ihre sechs Sitze im Parlament komplett verlor. Die Grünen in Tschechien hatten schon verschiedene Spaltungen hinter sich, konnten aber im Laufe der Jahre, anders als in den Nachbarländern, in einzelnen Regionen immer wieder beachtliche Ergebnisse erzielen. Ihre Popularitätswerte schwankten allerdings landesweit je nach Größe der Stadt oder Region zwischen 2,5 und knapp 20%. Überzeugte Abgeordnete der Grünen waren es auch, die im März 2009 zusammen mit den Sozialdemokraten durch ihre Gegnerschaft hinsichtlich des geplanten US-Raketenabwehrsystems auf tschechischem Boden für den faktischen Sturz der damaligen, konservativ geprägten Regierung Topolánek beitrugen. Jetzt steht beiden Gruppierungen der harte Weg einer Konsolidierung in der Opposition beziehungsweise außerparlamentarisch bevor.

Der Mitbegründer von TOP 09 hingegen, Fürst Karel Schwarzenberg, der jetzt wieder Außenminister wurde, kam 2007 über die tschechischen Grünen erstmals als Minister ins Außenamt. Zuvor hatte er allerdings schon als Kanzleichef von Staatspräsident Václav Havel erfolgreich im Hintergrund gewirkt und so politische Erfahrungen gesammelt. Schwarzenberg hat Tschechien 2009 während der EU-Ratspräsidentschaft mit Erfolg europaweit vertreten und gilt zu Recht als einer der profiliertesten Politiker des Landes. Zusammen mit dem nüchtern handelnden Regierungschef Necas könnte Schwarzenberg die tschechische Politik auch weiter in europäischer Hinsicht voranbringen. Kaum im Amt, ist er mit einer Initiative zur Fortsetzung der EU-Integration Kroatiens und der Balkanstaaten aufgetreten.


Polen ist kein zweigeteiltes Land

Für 39 Millionen Polen gab es schließlich vorgezogene Wahlen für das Amt des Staatspräsidenten. Dieser wird wie in der Slowakei für fünf Jahre durch das Volk gewählt. Nur in Tschechien erfolgt die Wahl des Präsidenten ähnlich wie in Deutschland durch Abgeordnete des Parlaments. In Polen hat der Präsident allerdings weitestgehende Befugnisse. Mit seinem Vetorecht kann er die Arbeit der Regierung innen- und außenpolitisch stark beeinflussen und regelrecht blockieren. Polens Präsident Lech Kaczyinski hatte davon reichlich Gebrauch gemacht, was im In- und Ausland wiederholt für Wirbel sorgte.

Die Präsidentenwahl am 21. Juni und 4. Juli fiel durch den Unfalltod des Präsidenten völlig aus dem Rahmen. Regulär stand eine Neuwahl für Ende September/Anfang Oktober an. Dem bisherigen Amtsinhaber Lech Kaczyinski hatte man nach Meinungsumfragen im März höchstens 20% zugebilligt. Er zögerte daher lange, sich für eine zweite Amtszeit zu erklären. Schon damals wurde daher über eine mögliche Kandidatur seines Zwillingsbruders spekuliert. Nach dem tragischen Tod beim Flugzeugunglück am 10. April in der Nähe von Smolensk setzte der politische Stratege Jaroslaw Kaczyinski diesen Plan tatsächlich ins Werk. Die politisch nicht abgesprochene Beisetzung des toten Bruders im Pantheon Polens, dem Krakauer Wawelschloss, war der erste Schritt, die wundersame Wandlung des JK im öffentlichen Auftreten und bei einzelnen Debatten ein weiterer. Die ungenierte Zuhilfenahme klerikaler Institutionen, Gotteshäuser und kirchlicher Würdenträger ein dritter.

Der Scharfmacher Kaczynski, der 2007 nach einem guten Jahr als Regierungschef ganz eindeutig abgewählt worden war, kam nun wie der Wolf im Schafspelz daher und stieg gewissermaßen wie Phönix aus der Asche auf. Sein verbissener Antikommunismus, die überzogenen nationalen Parolen, die Rede von den Seilschaften und der Plan zur Errichtung einer IV. Republik, all das sollte nun nicht mehr wichtig sein. In der Pose des Bruders rief er sogar zur Beendigung des polnisch-polnischen Krieges auf, den er selbst intensiv befeuert hatte. Der so geläuterte Staatsmann Jaroslaw Kaczynski war tatsächlich kaum wiederzuerkennen. Und es waren nicht wenige, die das beeindruckte. Am Ende wurde aus der Wahl noch eine richtige Zitterpartie, weil sich sein Konkurrent Bronislaw Komorowski, der zum Glück obsiegte, als ein schwacher Wahlkämpfer erwies. Einer, dem es sichtlich schwer fiel, diesem Kaczynski entsprechend Paroli zu bieten.

Polen zweigeteilt in West und Ost, in einen eher aufgeklärten und in einen tief mit der Religion und Tradition des Landes verbundenen Teil? Man sollte sich da nicht täuschen: Die Unterteilung der Gesellschaft Polens ist keineswegs so wie sie zu sein scheint. Die Wahlbeteiligung liegt weiter auf einem sehr niedrigen Niveau, wenngleich sie gegenüber 2005 von 50 auf jetzt 55% gestiegen ist. Bei 30 Millionen Stimmberechtigten entschieden sich knapp acht Millionen für Kaczynski, neun Millionen für Komorowski. 13 Millionen enthielten sich der Stimme. Daraus ergibt sich rechnerisch eine effektive Zustimmung für Kaczynski von kaum 20%. Selbst bei optimistischen Prognosen zu seinen Gunsten dürfte daher bei den nächsten Parlamentswahlen im Herbst 2011 wohl nicht mehr ernsthaft mit ihm zu rechnen sein, zumal Kaczynski jetzt nach der Wahl schneller als erwartet zur alten Form mit der aggressiven Diktion und den Parolen des Glaubenskämpfers zurückgekehrt ist. Seiner Glaubwürdigkeit dürfte das kaum helfen und ein Koalitionspartner ist so auch nicht in Sicht. Angesichts dessen dürfte sich das Kapitel des politischen Widerstandes und Abenteurertums wohl auch in Polen langsam dem Ende zuneigen. Das bis vor fünf Jahren noch sehr starke sozialdemokratisch-linksliberale Wählerpotenzial in Polen, das sich in den letzten Jahren mehr und mehr zurückgezogen hat oder gerade noch zur Abwehr von Politikern vom Schlage eines Kaczynski aktiv geworden ist, dürfte sich jetzt neu formieren. Komorowski, bisher Mitglied der Regierungspartei PO von Donald Tusk, wird Polen sicher nach allen Seiten hin öffnen. Man darf gespannt sein, wie weit diese Offenheit gehen wird, da sich die PO formal auch als konservative politische Formation sieht und mit der Kaczyinski-Partei PiS bisher einen recht merkwürdigen Konkurrenzkampf führte. Regierung und Präsident können und müssen jetzt zeigen, was wirklich in ihnen steckt - ganz ohne Veto und ohne das bedrohliche Sperrfeuer von Attacken und Parolen durch den politischen Gegner.


Julian H. Wyszynski-Trzywdar (* 1948) ist freier Publizist in Berlin und war lange als Korrespondent in Polen und Litauen tätig.
julianwtrz@yahoo.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 12-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010