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OSTEUROPA/394: Machtkämpfe hinter der Front (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 27. Oktober 2022
german-foreign-policy.com

Machtkämpfe hinter der Front

Der transatlantische Machtkampf um die Dominanz in Ost- und Südosteuropa spitzt sich zu - mit Blick auf die Aufrüstung, die Energieversorgung und den Wiederaufbau der Ukraine.


WASHINGTON/WARSCHAU/BERLIN - Die Machtkämpfe zwischen Washington und Berlin um die dominante Stellung in Ost- und Südosteuropa spitzen sich zu und erreichen die Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau der Ukraine. Hatte zunächst die EU-Kommission die Führung beim Wiederaufbau des Landes reklamiert, so heißt es nun in Washington, Brüssel fehle dazu das "politische und finanzielle Gewicht"; die Führung müsse vielmehr bei den Vereinigten Staaten liegen. Parallel dazu verdrängen die USA in Polen eine von Berlin forcierte Initiative zur Schaffung einer europäischen Flugabwehr und sind dabei, Polen als Drehscheibe für die Verbreitung von US-Nukleartechnologie in Ost- und Südosteuropa zu etablieren - auf Kosten der französischen Atomindustrie. Nicht zuletzt beginnen sie Ost- und Südosteuropa in einen weiteren Absatzmarkt für verflüssigtes US-Frackinggas zu transformieren; dabei nutzen sie die Drei-Meere-Initiative, ein regionales Projekt, das zwölf Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer umfasst und 2015 auf Vorschlag Washingtons initiiert wurde, unter anderem von Polen. Die Initiative läuft deutschen Interessen in der Region zuwider.

Die Drei-Meere-Initiative

Die Machtkämpfe zwischen Washington und Berlin um die führende Stellung in Ost- und Südosteuropa dauern bereits seit Jahren an. Die USA können dabei besonders in Polen und in den baltischen Staaten auf loyale Kooperationspartner setzen. Zudem stützen sie sich in gewissem Maß auf die Drei-Meere-Initiative, ein loses Kooperationsformat, das insgesamt zwölf Länder zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer umfasst.[1] Die Initiative, in den Jahren 2013 und 2014 vom US-amerikanischen Atlantic Council gemeinsam mit einem Lobbyverband ost- und südosteuropäischer Energieunternehmen ausformuliert, wurde im Jahr 2015 von Polens Präsident Andrzej Duda und Kroatiens Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović offiziell lanciert. Ende August 2016 führte sie im kroatischen Dubrovnik ihr erstes Gipfeltreffen durch (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Ziel der beteiligten Staaten ist es, die einseitig auf Deutschland ausgerichtete Ost-West-Orientierung bei Infrastruktur und Handelsströmen um neue Nord-Süd-Verbindungen zwischen den Anrainern der Ostsee und der Adria sowie dem Schwarzen Meer zu ergänzen, um neue Entwicklungsperspektiven zu schaffen, die von der Zentralmacht der EU, der Bundesrepublik, zumindest potenziell unabhängig sind. Im Juni luden die Staats- und Regierungschefs der Drei-Meere-Initiatiave auf einem Gipfel in Riga die Ukraine ein, an ihren Projekten teilzunehmen.[3]

US-Flüssiggas für Osteuropa

Die Drei-Meere-Initiative bietet sich aus Sicht der Vereinigten Staaten als Instrument zur Stärkung des US-Einflusses in Ost- und Südosteuropa an, weil sie sich gegen die dominante Ausrichtung der Region auf die deutsche Zentralmacht der EU wendet. Dabei streben die Vereinigten Staaten nicht zuletzt danach, die dortigen Länder in Absatzmärkte für ihr Flüssiggas zu transformieren und sie auch damit enger an sich zu binden. So wird der Hafen im litauischen Klaipeda regelmäßig mit US-amerikanischem Flüssiggas beliefert; Litauen teilte denn auch Anfang April 2022 mit, es sei das erste Land Europas, das komplett aus der Versorgung mit russischem Gas ausgestiegen sei.[4] Aus Litauen beziehen zudem Lettland und Estland US-Flüssiggas; auch Polen, das seinerseits ein eigenes Terminal in Śäwinoujście unterhält, könnte den Rohstoff über Litauen importieren. Im Süden wiederum landen US-Flüssiggastanker an einem Terminal vor der kroatischen Insel Krk, das seit Anfang 2021 in Betrieb ist und ausgebaut werden soll - von einem Volumen von 2,6 auf 6,1 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.[5] Kroatien weitet außerdem die Pipelineinfrastruktur aus, die von Krk in Richtung Norden verläuft. Prinzipiell können auch Ungarn und Slowenien über Krk beliefert werden. Punktuell ist dies bereits per Tank-Lkw geschehen.[6]

US-Luftabwehr statt European Sky Shield

Aktuell intensivieren die Vereinigten Staaten ihre Kooperation vor allem mit Polen auf mehreren Feldern - und dies unmittelbar zu Lasten Deutschlands und der EU. Ein Beispiel bieten die Pläne zum Aufbau einer gemeinsamen europäischen Flug- und Raketenabwehr, die 15 europäische Staaten unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik am 13. Oktober beschlossen haben; zu den Unterstützern der European Sky Shield Initiative (ESSI) gehören unter anderem die baltischen Staaten sowie sechs weitere Mitgliedsländer der Drei-Meere-Initiative. Polen ist nicht dabei. Ursache ist, dass Warschau - ohnehin bereits seit Jahren ein loyaler Käufer von US-Kriegsgerät sowie ein äußerst enger militärischer Kooperationspartner der Vereinigten Staaten - schon längst seine eigene Luftabwehr aufbaut, die es nicht in die ESSI integrieren will. So errichtet es gemeinsam mit den Vereinigten Staaten ein auf Patriot-Luftabwehrbatterien basierendes Abwehrsystem, das den Namen Wisła trägt.[7] Ein zweites System mit dem Namen Narew entsteht in enger Kooperation zwischen Polen und dem Vereinigten Königreich.[8] In Berlin und Brüssel ruft Warschau damit einigen Unmut hervor: Polens exklusive Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien steht der Errichtung eines einheitlichen europäischen Luftabwehrsystems im ESSI-Rahmen entgegen.

Drehscheibe für US-Nukleartechnologie

Für Aufmerksamkeit sorgt zur Zeit zudem, dass Polen eine enge, womöglich weitreichende Nuklearkooperation mit den Vereinigten Staaten beginnt. Hintergrund ist, dass Warschau seiner massiven Abhängigkeit von Kohlekraftwerken durch den Bau von Atomkraftwerken entkommen will. Noch Ende August hatte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki anlässlich eines Treffens mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nahegelegt, der französische Konzern EDF könne den Zuschlag für den Bau des ersten Kraftwerks erhalten: "In Fragen der Atomkraftwerke ist Frankreich ein natürlicher Partner".[9] Am Wochenende erklärte nun aber der polnische Minister für das Staatsvermögen, Jacek Sasin, nach Gesprächen mit US-Energieministerin Jennifer Granholm in Washington, wahrscheinlich werde der US-Konzern Westinghouse das erste, womöglich auch das zweite polnische Atomkraftwerk bauen. Zudem wolle Polen mit US-Hilfe ein "nukleares Zentrum für ganz Ostmitteleuropa" werden und als eine Drehscheibe für den Ausbau der Kernkraft fungieren. Die immer umfassendere Ausrichtung des Landes auf Washington ruft in diesem Fall ernste Widerstände hervor. Medienberichten zufolge erwägt die EU-Kommission, die einseitige polnische Atomkooperation mit den USA zu blockieren. Polen stehe dann freilich, heißt es wiederum in Warschau, "vor der Frage nach den Grenzen unserer Souveränität".[10]

"Ein Amerikaner mit globaler Statur"

Weitere Auseinandersetzungen kommen nun noch um den Wiederaufbau der Ukraine hinzu. Schon im Mai hatte die EU-Kommission erklärt, sie wolle gemeinsam mit Kiew eine Ukraine Reconstruction Platform gründen und über diese sämtliche internationalen Maßnahmen zum Wiederaufbau koordinieren.[11] Im September hieß es dann in einem Strategiepapier, das der German Marshall Fund of the United States (GMF) in Kooperation mit US-Regierungsstellen erarbeitet hatte, eine "starke Führung" sei für das Vorhaben unerlässlich. Dafür aber komme nicht die EU-Kommission in Frage, der "das notwendige politische und finanzielle Gewicht" fehle, sondern lediglich die G7; "der erste Koordinator" des Wiederaufbaus müsse "ein Amerikaner mit einer globalen Statur" sein.[12] Das wiederum hat heftigen Unmut in Brüssel ausgelöst, wo darauf verwiesen wird, immerhin habe man der Ukraine den formalen Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen. Zu Wochenbeginn erklärten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Zeitungsbeitrag - quasi als Kompromissvorschlag -, beim Wiederaufbau der Ukraine sollten "alle gemeinsam anpacken - EU, G7 und unsere Partner weit darüber hinaus"; der EU falle "dabei eine wichtige Rolle zu".[13]

"Nicht der eine oder der andere"

Der Streit darum, wer den Wiederaufbau anführt - und damit die Grundlagen für die künftige Ausrichtung der Ukraine legt -, ist am Dienstag auf der Berliner Wiederaufbau-Konferenz fortgesetzt worden. Organisiert wurde sie gemeinsam von der EU und den G7 - ein Umstand, den Scholz so verstanden wissen wollte, "dass es nicht der eine oder der andere macht", sondern eben alle zusammen: Es gelte jetzt eine Struktur zu schaffen, die "eine Mischung aus vielem" sei.[14] Damit ist der Machtkampf freilich noch nicht zu Ende.


Anmerkungen:

[1] An der Drei-Meere-Initiative beteiligen sich Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, Slowenien und Kroatien, Rumänien und Bulgarien sowie Österreich. Deutschland hat mittlerweile Beobachterstatus inne.

[2] S. dazu Osteuropas geostrategische Drift.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8412

[3] Drei-Meere-Initiative will Ukraine enger an Europa binden. rnd.de 20.06.2022.

[4] Mirela Petkova: Weekly data: Lithuania becomes the first European country to ditch Russian gas. energymonitor.ai 11.04.2022.

[5] Croatia to invest EUR180 million in LNG infrastructure. euractiv.com 19.08.2022.

[6] Evelin Szoke: First LNG truck from Krk terminal arrives in Hungary. ceenergynews.com 11.08.2022.

[7] Jakub Palowski: Phase II of the Wisła Air and Missile Defence Programme Begins. defence24.com 30.05.2022.

[8] Andrew Chuter, Jaroslaw Adamowski: UK, Poland to pool missile development for their land, naval forces. defensenews.com 05.10.2022.

[9], [10] Polen vor AKW-Bau. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.10.2022.

[11] Thomas Gutschker: Wer hat beim Wiederaufbau der Ukraine das Sagen? Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.10.2022.

[12] Ronja Ganster, Jacob Kirkegaard, Thomas Kleine-Brockhoff, Bruce Stokes: Designing Ukraine's Recovery in the Spirit of the Marshall Plan. gmfus.org 07.09.2022.

[13] Ursula von der Leyen, Olaf Scholz: Ein Marshallplan für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.10.2022.

[14] Möglichst rasche Aufbauhilfen für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.10.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Oktober 2022

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