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OZEANIEN/032: Südpazifik - Volk der Kanaken macht Fortschritte auf dem Weg zur Selbstbestimmung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Juni 2014

Südpazifik: Indigene Kanaken in Neukaledonien machen Fortschritte auf dem Weg zur Selbstbestimmung

von Catherine Wilson



Sydney, 12. Juni (IPS) - Seit der Wiederaufnahme des französischen Überseeterritoriums Neukaledonien in die Entkolonisierungsliste der Vereinten Nationen im Jahre 1986 wehrt sich das Volk der Kanaken nicht nur gegen seine soziale und wirtschaftliche Benachteiligung. Es kämpft zudem für das Recht, seine politische Zukunft nach mehr als einem Jahrhundert Fremdbestimmung in die eigene Hand zu nehmen.

Wohnraum, Bildung, Beschäftigung und Inklusion waren wichtige Wahlkampfthemen der Kandidaten, die die Selbstbestimmung Neukaledoniens auf ihre Banner schrieben. Der Ausgang des Urnengangs im letzten Monat hat gezeigt, dass die Pro-Unabhängigkeitsbewegung politisch an Einfluss gewinnt.

Doch noch immer stehen die Kanaken (melanesisch für 'Menschen') vor enormen Herausforderungen. So sind die Loyalisten im Parlament - also diejenigen, die unter französischer Kontrolle bleiben wollen - in der Mehrheit. Ihnen obliegt die Durchführung des Referendums in vier Jahren, das über die Zukunft des Pazifikgebietes entscheiden soll.


Kanaken mit Wahlausgang zufrieden

Victor Tutugoro, Indigenenführer und Mitglied der Kanakischen Sozialistischen Nationalen Befreiungsfront (FLNKS), die sich mit vier anderen politischen Parteien verbündet hatte, um im pro-französischen Süden des Landes als Einheit aufzutreten, ist mit dem Ausgang der Wahlen zufrieden. Wie er berichtet, konnte die Allianz die Zahl ihrer Parlamentssitze von vier auf sieben erhöhen. "Die jungen Generationen, die weniger stark von der Kolonialzeit geprägt sind, stehen der Forderung nach einem souveränen Kaledonien offener gegenüber."

Bei den letzten Territorial- und Provinzwahlen, die in Neukaledonien alle fünf Jahre stattfinden, konnten die Kandidaten, die für die Selbstbestimmung Neukaledoniens eintraten, insgesamt 25 der insgesamt 54 Parlamentssitze erringen - zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2009. Die restlichen 29 Sitze werden von den Loyalisten unter Führung der Partei 'Gemeinsames Kaledonien' gehalten. Parteivorsitzender ist Philippe Gomès, der als junger Mann aus Algerien eingewandert ist.

Diejenigen, die die Verbindungen zu Frankreich aufrechterhalten wollen, warnen vor den möglichen negativen Folgen für die lokale Wirtschaft, sollten die alten Bande gekappt werden. Frankreichs Ausgaben für die Infrastruktur und den öffentlichen Dienst Neukaledoniens machen bis zu 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Für Daryl Morini vom Zentrum für ein gemeinsames Schicksal, einer westkaledonischen Denkfabrik, kommt das Wahlergebnis nicht unerwartet. "Es hat niemanden überrascht", meint er mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass die Mehrheit der Nicht-Indigenen gegen die Unabhängigkeit von Neukaledonien ist. 40 Prozent der rund 258.000 Neukaledonier sind Indigene, 29 Prozent Europäer und die restlichen 31 Prozent Mitglieder anderer Gemeinschaften.

Seit Jahren kämpfen die Kanaken um bessere Bildungs- und Beschäftigungschancen. Nur zehn Prozent der Schüler an weiterführenden Einrichtungen und der Studenten sind Indigene. Hingegen sind 60 Prozent Europäer. Verschärft wird die Benachteiligung durch das Stadt-Land-Gefälle. Infrastrukturen, Dienstleistungen und wirtschaftliche Möglichkeiten konzentrieren sich vor allem auf die Südprovinz mit der Hauptstadt Nouméa. Der Norden und die Inselprovinzen, in denen überwiegend Kanaken leben, sind weniger entwickelt.


Nie wirklich entkolonialisiert

Nach einer kurzen liberalen Phase in den 1950er Jahren hatte Frankreich Anfang der 1960er Jahre die kolonialen Zügel wieder angezogen und sorgte mit einer gezielten Ansiedlung von französischen Siedlern dafür, dass die Kanaken in den 1970er und 1980er Jahren zur Minderheit wurden. Ihre Ausgrenzung und Benachteiligung führte dazu, dass sie ihre politischen Aktivitäten intensivierten, 1984 die FLNKS gründeten und die 'Republik Kanaky' ausriefen.

Die darauffolgenden Jahre waren von schweren Auseinandersetzungen mit Todesfällen gekennzeichnet, die nur auf internationalen Druck hin 1988 durch den Matignon-Friedensvertrag zwischen FLNKS, französischen Siedlern und der Regierung in Paris ein Ende fanden. Doch erst das Nouméa-Abkommen von 1998 regelte die Zukunft des Landes: Neukaledonien wurde darin eine weitgehende Autonomie und bis spätestens 2018 ein neues Unabhängigkeitsreferendum in Aussicht gestellt. Ein vorangegangener Volksentscheid war von den Kanaken boykottiert worden, was dazu führte, dass die Loyalisten 90 Prozent der Stimmen für sich verbuchten.

Die Nouméa-Übereinkunft erkannte zudem die Identität der Kanaken an und stimmte der Bildung eines traditionellen Senats zu. Dabei handelt es sich um eine Versammlung indigener Führer, die bei Fragen, die die Volksgruppe betreffen, ein Mitspracherecht hat. Das Abkommen umreißt auch Pläne für eine teilweise Rückgabe von Machtbefugnissen in Steuer-, Bildungs-, Gesundheits- und Außenhandelsfragen.

Trotz des Stimmenzuwachses bei den diesjährigen Wahlen hält sich der Vorwurf, dass es bei der Erstellung des Wählerverzeichnisses zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Stimmberechtigt sind in Neukaledonien nur diejenigen Einwohner, die vor 1988 auf dem Überseeterritorium lebten. Der FLNKS zufolge befanden sich auf der Liste 6.700 Personen, für die dies nicht zutraf, während 2.000 Kanaken unberücksichtigt bleiben. Auf die Vorwürfe reagierten die französische Regierung und auch die Vereinten Nationen unabhängig voneinander mit der Entsendung von Rechtsexperten, die in der Frage jedoch zu keinem Ergebnis kamen.

"Viele Kanaken und andere Bürger waren nicht in der Lage, zu wählen, weil sie von der Liste gestrichen worden waren. Namen von Eltern, deren Kinder wählen konnten, wurden entfernt", berichtet Tugoro. "Diese Situation hat entscheidend dazu beigetragen, dass Stimmen nicht abgegeben werden konnten. Wir prüfen deshalb die Möglichkeit, Maßnahmen zur Annullierung der Wahl in der Südprovinz zu ergreifen."

Neukaledonien ist eine repräsentative Demokratie. Hier befinden sich 25 Prozent der weltweiten Nickelreserven. Dennoch leben 21 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit beträgt 14 Prozent. 95 Prozent der Betroffenen sind Indigene.


Unterstützung der Nachbarn

Während der vergangenen 15 Jahre hat sich die Melanesische Speerspitzengruppe (MSG) mit dem Befreiungskampf der Kanaken solidarisch erklärt. Die MSG ist eine zwischenstaatliche Organisation, die aus den südwestpazifischen Inselstaaten Fidschi, Papua-Neuguinea, den Salomonen und Vanuatu besteht. Neukaledonien ist in dem Gremium durch die FLNKS vertreten, die seit letztem Jahr den Vorsitz der MSG führt. Das Mandat endet 2015.

Dass Neukaledonien 1986 wieder in die UN-Entkolonisierungsliste aller nicht-selbstverwalteten Gebiete aufgenommen worden sei, habe man der Unterstützung der MSG zu verdanken, betont Tutugoro. Das gelte auch für die Ankunft der vielen Expertengruppen in Neukaledonien zur Überwachung der Einhaltung des Nouméa-Abkommens.

Neukaledonien gehörte mit Französisch-Polynesien, Hawaii, den Osterinseln und Westpapua zu den fünf Pazifikgebieten, die stets die Unabhängigkeit anstrebten. Obwohl dort eine völkerrechtlich einwandfreie Entkolonisierung ausgeblieben ist, wurden alle fünf Gebiete von der UN-Entkolonisierungsliste gestrichen oder gar nicht erst aufgenommen. Einzig im Fall Neukaledonien hat die UN den Irrtum durch die Wiederaufnahme in die Liste korrigiert.

Die Unabhängigkeitsbewegung beunruhigt im Vorfeld des Referendums nur zwei Punkte: die Zuwanderung von außen, die die Kanaken zu einer immer kleineren Minderheit macht, und die wirtschaftliche Abhängigkeit des Territoriums von Frankreich. Dennoch ist Tutugoro zuversichtlich, dass die in den Abkommen von Matignon und Nouméa festgeschriebenen Maßnahmen für Gleichheit dazu beitragen werden, die Wahlergebnisse in den kommenden Jahren zugunsten der Unabhängigkeit umzukehren.

Der Experte Morini räumt zwar ein, dass es eine Zeit gab, in der Frankreich den Zuzug französischer Siedler nach Neukaledonien gefördert hat, um mit einer Mehrheit von Nicht-Indigenen die Stellung zu halten. Doch werde sich dies aufgrund des eingeschränkten Wahlrechts nicht auf den Ausgang der Wahlen auswirken. "Die einzige Chance für die Unabhängigkeit besteht darin, dass moderate Pro- Unabhängigkeitsführer bewusst an andere Gemeinschaften herantreten und ein inklusives poitisches Projekt bewerben." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/06/quest-for-self-determination-continues-in-new-caledonia/

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IPS-Tagesdienst vom 12. Juni 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2014