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RUSSLAND/146: Russland will nachrüsten (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 9 vom 2. März 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Russland will nachrüsten
Grundsatzartikel Putins zur Verteidigungspolitik

von Willi Gerns


In einem in der "Rossiskaja Gazeta" veröffentlichten Grundsatzartikel zur russischen Verteidigungspolitik kommt Wladimir Putin zu dem Schluss, Russland könne es sich nicht leisten, mit seiner Schwäche andere in Versuchung zu bringen. Es müssten darum die in den letzten Jahrzehnten zugelassenen Versäumnisse in seiner Verteidigungsfähigkeit aufgeholt werden.


Muss Russland nachrüsten?

Der Artikel beginnt mit der Feststellung: "Die Welt verändert sich. Zu den sich vollziehenden globalen Transformationsprozessen gehören Risiken verschiedensten, sehr häufig nicht vorhersagbaren Charakters. Unter Bedingungen weltweiter ökonomischer und anderer Erschütterungen besteht immer die Versuchung, seine Probleme auf Kosten anderer, mittels gewaltsamen Drucks zu lösen. Nicht zufällig ertönen schon heute Stimmen, dass sich 'objektiv' bald schon die Frage stellen werde, dass die nationale Souveränität nicht auf die Ressourcen von globaler Bedeutung ausgedehnt werden dürfe. Solche, und seien es nur hypothetische, Möglichkeiten bezüglich Russlands darf es nicht geben. Das heißt, wir dürfen niemanden durch unsere Schwäche in Versuchung führen." Eben darum, so heißt es weiter, werde Russland "unter keinen Umständen auf sein strategisches Abschreckungspotential verzichten, sondern dieses festigen." Gerade dieses habe dem Land dazu verholfen, in der äußerst komplizierten Periode der neunziger Jahre, in der keine anderen gewichtigen materiellen Argumente zur Verfügung standen, seine staatliche Souveränität zu bewahren. Russland sei nicht imstande seine internationalen Positionen zu festigen, seine Wirtschaft und demokratischen Institutionen zu entwickeln, wenn es nicht in der Lage sei, sich zu verteidigen, seine militärisch-technische Unabhängigkeit zu gewährleisten, wenn nicht für den äußersten Fall eine adäquate militärische Antwort auf diese oder jene Herausforderung vorbereitet werde.

Deshalb habe man umfangreiche Programme zur Entwicklung der Streitkräfte und Modernisierung des russischen Verteidigungsindustrie-Komplexes beschlossen. Insgesamt sollen dafür "im kommenden Jahrzehnt etwa 23 Billionen Rubel (rund 575 Milliarden Euro - W. G.) zur Verfügung gestellt" werden.

Zugleich versichert der Autor, dass Etatzuweisungen dieses bedeutenden Ausmaßes durchaus den Möglichkeiten und Ressourcen des Landes entsprächen und es nicht um eine Militarisierung des russischen Budgets gehe. Dem Wesen der Sache nach seien die Mittel, die jetzt aufgewandt werden, "Zahlungen für jene Jahre, in denen Armee und Marine chronisch unterfinanziert waren, als praktisch keine neuen Waffenarten an sie geliefert wurden und das zu einer Zeit, als andere Staaten konsequent ihre 'militärischen Muskeln' stärkten." Weiter wird betont, dass Russland nicht nur dazu in der Lage sein müsse auf die bereits bestehenden Bedrohungen zu reagieren, sondern sich auch rechtzeitig auf zukünftige Gefahren einstellen müsse. Die Wahrscheinlichkeit eines globalen Krieges der Atommächte gegeneinander sei "nicht sehr hoch", da ein solcher das Ende der Zivilisation bedeuten würde. "Solange 'das Pulver' der unter gewaltigen Anstrengungen unserer Väter und Großväter geschaffenen strategischen Atomwaffenkräfte 'trocken' bleibt, wird sich niemand erkühnen gegen uns eine Aggression großen Maßstabs zu entfesseln."


Immer neue schreckliche Waffen

Allerdings sei es notwendig zu berücksichtigen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt auf den verschiedensten Gebieten, von neuen Waffen und militärischer Technik bis zu neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, zu einer qualitativen Veränderung des Charakters des bewaffneten Kampfes geführt habe. So trete mit der massenweisen Einführung nichtatomarer Hightech-Präzisionswaffen großer Reichweite immer deutlicher die Tendenz hervor, ihnen die Rolle der entscheidenden Waffen für den Sieg über den Gegner zuzuweisen, darunter auch in einem globalen Konflikt. Eine große, wenn nicht eine entscheidende Bedeutung für den Charakter des militärischen Kampfes werden - so Putin - "die militärischen Fähigkeiten der Länder im Kosmos, in der Sphäre des Informationswesens, in erster Linie auf dem Feld der Kybernetik sowie in der weiteren Perspektive bei der Schaffung neuer Waffen auf der Grundlage neuer physikalischer Prinzipien (Strahlen, Wellen, geophysikalische, genetische, psychophysische u.a.) haben. All das macht es möglich, neben der Atomwaffe qualitativ neue Instrumente zur Durchsetzung politischer und strategischer Ziele zu erhalten. Derartige Waffensysteme werden in den Resultaten ihrer Anwendung der Atomwaffe vergleichbar sein, aber politisch und militärisch 'annehmbarer'. Dadurch wird die Bedeutung der strategischen Balance der atomaren Kräfte bei der Abschreckung von Aggression und Chaos allmählich sinken." Putin verweist zugleich auf Gefahren, die von immer häufiger aufbrechenden regionalen und lokalen Kriegen ausgehen, darunter auch auf gezielte Versuche, solche Konflikte in unmittelbarer Nähe zu den russischen Grenzen zu provozieren und warnt vor einer zunehmenden Missachtung der Grundprinzipien des Völkerrechts. Unter diesen Bedingungen könne sich Russland nicht allein auf diplomatische und wirtschaftliche Methoden bei der Lösung von Konflikten verlassen. Die Streitkräfte, Geheimdienste und andere Gewaltstrukturen müssten für schnelle und effektive Reaktionen auf neue Herausforderungen vorbereitet sein.

Von diesen Grundsatzbemerkungen ausgehend, werden dann konkrete Aufgaben in den verschiedenen Bereichen der Verteidigungspolitik dargelegt.

Der Artikel Putins macht erneut deutlich: Die Lage in der Welt, die nach der Niederlage des Sozialismus in Europa entstanden ist, und die Perspektiven der Entwicklung immer neuer Waffen sind erschreckend. Angesichts dessen muss die Forderung heißen: Abrüsten und noch einmal Abrüsten, um eine Katastrophe für die menschliche Zivilisation zu verhindern. Allerdings erleben wir das Gegenteil. Im Streben nach Weltherrschaft und uneingeschränkter Verfügung über die Energie- und anderen Rohstoffressourcen in der Welt überschlagen sich die USA und ihre NATO-Verbündeten geradezu in der Entwicklung immer gefährlicherer Waffen und das ohne angesichts des militärischen Zurückbleibens Russlands, Chinas und anderer denkbarer Rivalen einen militärischen Bedrohungspopanz an die Wand malen zu können. Fieberhaft ist man zugleich bemüht, das Abschreckungspotential der strategischen Atomwaffen dieser Länder durch den Aufbau von Raketen-Abwehr-Schirmen zu neutralisieren, um mit der Überlegenheit des Westens bei den neuen Waffensystemen diese ebenso erpressen oder gar mit Krieg überziehen zu können, wie dies heute mit immer mehr nicht atomar bewaffneten Staaten geschieht.

Natürlich verfolgt der knapp zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen publizierte Beitrag des Kandidaten Putin nicht zuletzt auch wahltaktische Ziele. Die patriotisch gestimmten Wählerinnen und Wähler sollen für Putin mobilisiert werden. Das zielt vor allem auch auf das Potential des KPRF-Kandidaten Gennadi Sjuganow. Die KPRF hat stets die Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit der russischen Streitkräfte und der Verteidigungsindustrie scharf kritisiert. Das wird denn auch in den Stellungnahmen führender KPRF-Politiker zum Putin-Artikel betont und darauf hingewiesen, dass diese Vernachlässigung nicht nur die neunziger Jahre unter der Präsidentschaft Jelzins betrifft, sondern ihre Fortsetzung in den zwölf Jahren der Präsident- bzw. Ministerpräsidentschaft Putins gefunden hat. Im Unterschied zu Putins Grundsatzartikeln, die er in den letzten Wochen zu anderen Politikbereichen veröffentlichte, wird aber keine Fundamentalkritik an dem Beitrag geübt.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 9 vom 2. März 2012, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2012