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BERICHT/049: Wenn der Staat in der Pflicht ist (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 140/Juni 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn der Staat in der Pflicht ist
Recht auf Bildung fordert das Sozial- und Bildungssystem heraus

von Michael Wrase



Kurz gefasst: Das bundesdeutsche Schulsystem sieht sich nach PISA und anderen Studien einem hohen Reformdruck ausgesetzt. Doch bleibt die rechtliche Seite weitgehend unbeachtet. Die bildungsrechtliche Diskussion wird gerade in jüngerer Zeit durch die Wiederentdeckung des Rechts auf Bildung herausgefordert. Probleme der inklusiven Beschulung, der sozio-kulturellen Teilhabe und der ethnischen und sozialen Selektivität des Schulsystems werfen völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen auf.


Zu Beginn der bundesdeutschen Bildungsexpansion in den 1960er Jahren schrieb Ralf Dahrendorf, das Recht auf Bildung sei ein soziales Grundrecht aller Bürger und bilde die Basis für die Ausübung der eigentlichen Bürgerrechte. Das Grundrecht garantiere Chancengleichheit im rechtlichen Sinne; so dürfe es keine Bevorzugung und Benachteiligung bestimmter Gruppen aufgrund leistungsfremder Merkmale wie Herkunft oder wirtschaftliche Lage geben. Doch bliebe diese Garantie reine Fiktion, wenn die Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen "sozialen Verflechtungen und Verpflichtungen" nicht in der Lage seien, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Hieraus leitete Dahrendorf eine Pflicht des Staats ab, ein chancengleiches Bildungssystem zu schaffen.

Fünf Jahrzehnte später sind die Forderungen Dahrendorfs immer noch aktuell - oder sogar aktueller denn je. Die durch internationale Vergleichsstudien wie PISA, TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) ausgelöste Debatte über die ungleich verteilten Chancen im deutschen Schulsystem hat zu Reformen in fast allen Bundesländern geführt. Während die Bildungsforschung einen neuen Boom erlebt, wird der Flickenteppich des Bildungsrechts in Deutschland immer unübersichtlicher. Seit der Föderalismusreform von 2006 sind die Bundesländer allein für die organisatorische und inhaltliche Ausgestaltung ihres Schulsystems zuständig.

Bundeseinheitliche Vorgaben ergeben sich jedoch aus internationalen Abkommen, die von der Bundesrepublik unterzeichnet wurden, sowie aus dem Grundgesetz. Verfassungsrechtliche Leitlinien hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre entwickelt. Dabei hat es einerseits hervorgehoben, dass die Verfassung nach Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes dem Staat die Pflicht auferlegt, "ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet". Andererseits hat das Gericht aus Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes ein Recht der Eltern auf die Wahl der für ihr Kind geeigneten Schulform abgeleitet. Zusammen mit dem Anspruch auf ein begabungsgerechtes Schulsystem ist hieraus in der verfassungsrechtlichen Literatur gefolgert worden, die Länder müssten spätestens nach der sechsten Klasse ein differenzierendes Schulsystem gewährleisten und dabei den Elternwillen besonders beachten. Eine sogenannte "Negativauslese" von ungeeigneten Schülern sei zulässig.

Die verfassungsrechtliche Diskussion, die immer noch stark traditionellen Leitbildern der Schulorganisation sowie dem Elternrecht verpflichtet ist, wird in jüngerer Zeit durch die Wiederentdeckung des Rechts auf Bildung herausgefordert.

Für diesen Perspektivwechsel gibt es normative und empirische Gründe. Auf der normativen Seite rücken verschiedene internationale Übereinkommen ins Blickfeld, die - angefangen vom 1. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Sozialpakt über die UNESCO-Konvention gegen Diskriminierungen im Bildungswesen und die Kinderrechtskonvention bis hin zur 2008 in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention - im Sinne eines Rechts auf Bildung rechtliche Anforderungen für das nationale Schulsystem festlegen.

Von der empirischen Seite hat vor allem die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung zu einem gesteigerten Bewusstsein dafür beigetragen, dass Bildung maßgeblich über die Verteilung von Lebenschancen entscheidet und kulturelle Teilhabe sowie soziale Anschlussfähigkeit erst ermöglicht. Solche Erkenntnisse der Bildungsforschung über die Auswirkungen institutioneller Regulierungen fließen in rechtliche Fragestellungen ein.

Auch wenn es ein einheitliches "Recht auf Bildung" mit einem konkreten juristischen Gewährleistungsgehalt nicht gibt, so lassen sich drei zentrale Gewährleistungen identifizieren, denen das bundesstaatliche Bildungssystem entsprechen muss.


Das Recht auf Inklusion

Traditionellerweise werden in Deutschland Kinder, bei denen aufgrund physischer oder geistiger Defizite ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird, an Sonder- beziehungsweise Förderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten unterrichtet. Dies betrifft nach wie vor etwa vier bis fünf Prozent aller Schulkinder. Die meisten besuchen die Förderschule wegen einer "Lernbehinderung", das heißt einer negativen Abweichung von den Durchschnittsleistungen Gleichaltriger, ausgelöst etwa durch Konzentrationsstörungen, Lern- und Leistungsrückstände oder eine verzögerte Sprachentwicklung. Nun verpflichtet die 2008 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention in Artikel 24 die Bundesrepublik, ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass alle Kinder mit einer sogenannten Behinderung das Recht auf den Besuch einer Regelschule haben. Die Umsetzung dieses Rechts erfolgt allerdings in den Bundesländern uneinheitlich und mit sehr unterschiedlicher Intensität.

Oft müssen betroffene Eltern vor Gericht ziehen. Die deutschen Gerichte lehnen bislang allerdings die unmittelbare Anwendbarkeit der Behindertenrechtskonvention ab. In der juristischen Literatur mehren sich allerdings die Gegenstimmen. Für die bundesweite und nachhaltige Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung wird es nicht zuletzt darauf ankommen, ob und wann das Bundesverfassungsgericht seine entgegenstehende Rechtsprechung aus dem Jahr 1997 revidiert, nach der ein Anspruch auf inklusive Beschulung nur unter dem Vorbehalt vorhandener sachlicher und personeller Ausstattung bestehen soll. Demgegenüber verlangt die Behindertenrechtskonvention vom jeweiligen Schulträger ausdrücklich, die Ressourcen bereitzustellen, um effektiven inklusiven Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung zu gewährleisten. Schwierige rechtliche Fragen auf der Schnittstelle von Bildungs- und Sozialrecht, etwa die nach der Gewährleistung von Barrierefreiheit, nach sozialpflegerischer Betreuung (Schulbegleitung) und vor allem nach förderpädagogischem Unterricht, müssen noch im interdisziplinären Austausch mit den Erziehungs- und Sozialwissenschaften geklärt werden.

Gleichbehandlungsansprüche sind in verschiedenen Normen des internationalen Rechts, des Europarechts und verfassungsrechtlich vor allem in Artikel 3 des Grundgesetzes verankert. Sie verlangen eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung des Bildungssystems. Das betrifft zum einen die Teilhabe an bestehenden staatlichen Bildungseinrichtungen und -leistungen. Kindern aus Migrationsfamilien mit ungesichertem Aufenthaltsstatus (vor allem von Asylbewerbern und ausländerrechtlich Geduldeten) wird teilweise noch immer kein vollständig gleichberechtigter Zugang zum (Regel-)Schulsystem und zu Förderleistungen im Bildungsbereich gewährt. Es erstaunt daher nicht, zu lesen, dass der Bildungserfolg von Migrantenkindern auch von ihrem Rechtsstatus beeinflusst wird (s. WZBrief Bildung 14, 2011). Entsprechende Differenzierungen beim Zugang zum Bildungssystem sind nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur noch in sehr engen Grenzen zulässig und müssen weiter abgebaut werden. Ein menschenrechtliches Problem bleibt der Ausschluss von Kindern aus Familien ohne Aufenthaltsstatus vom staatlichen Schul- und Sozialleistungssystem.

Mit PISA und anderen Vergleichsstudien ist die soziale Selektivität des deutschen Schulsystems weithin sichtbar geworden und hat auch Fragen nach seiner rechtlichen Legitimität aufgeworfen. So verbietet Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes jede Benachteiligung aufgrund der sozialen und der ethnischen Herkunft. In der Verfassungsrechtswissenschaft setzt sich dabei immer mehr die Ansicht durch, dass von dem Diskriminierungsverbot auch mittelbare Diskriminierungen erfasst werden, was für die Geschlechterdiskriminierung durch die Rechtsprechung schon lange anerkannt ist. Von einer Diskriminierung ist daher auch dann auszugehen, wenn an sich neutral formulierte Regelungen in ihrer faktischen Wirkung Menschen aufgrund ihrer sozial-familiären Herkunft nachteilig betreffen. Damit geraten besonders die Übergangsentscheidungen zwischen Grundschule und Sekundarstufe in den Fokus des Verfassungsrechts. Sie bestimmen die weitere Bildungskarriere.

Die empirische Bildungsforschung hat eindeutige Belege dafür geliefert, dass sich die Empfehlungen der Lehrer für die weitergehenden Schulformen sehr stark am sozial-familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler orientieren. So haben selbst bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Leseleistung Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischen Hintergrund eine zwei- bis über viermal so hohe Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, wie Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen. Die Herkunftseffekte sind in nur wenigen anderen Ländern so ausgeprägt wie in Deutschland. Die (bislang überschaubare) verfassungsrechtliche Literatur, die sich mit der Problematik auseinandersetzt, geht deshalb nahezu einstimmig von einem diskriminierenden Effekt der Übergangsregelungen aus.

Prüft man am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, so wird deutlich, wie verfassungsrechtlich prekär sich die Ausgestaltung der frühzeitigen Übergangsentscheidungen in fast allen Bundesländern darstellt, und zwar unabhängig vom verbindlichen Charakter der Empfehlung. Der Einfluss der sozialen Herkunft ist hier - auch im internationalen Vergleich - so stark, dass die bestehende Praxis kaum als geeignet und erforderlich angesehen werden kann, um eine sachliche Aufteilung zu gewährleisten. Dies verschärft sich nochmals, wenn man die nachgewiesenen erheblichen Überschneidungen von Kompetenzen der Schüler in den unterschiedlichen Schulformen und die weitgehende spätere Undurchlässigkeit des Schulsystems nach oben betrachtet.

Die guten Schülerinnen und Schüler aus den unteren Schulformen steigen, auch wenn ihre Leistungen denen von Gymnasiasten entsprechen, in der Regel nicht auf. Von einem "leistungsgerechten" Schulsystem kann damit kaum mehr gesprochen werden. Viel spricht also dafür, dass das gegliederte Schulsystem in seiner derzeitigen Gestalt verfassungswidrig ist, weil es weder soziale Herkunftseffekte ausreichend vermindert noch mittelfristig durchlässig ist. Zugleich zeigt sich besonders an diesem Punkt eine Spannungslage mit dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG), das die sozial-familiäre Herkunft bewusst privilegiert. Die damit aufgeworfenen Fragen sind noch weitgehend ungeklärt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zur Hartz-IV-Reform und zum Asylbewerberleistungsgesetz einen Anspruch auf staatliche Förder- und Unterstützungsleistungen zur Sicherung des sogenannten Existenzminimums anerkannt. Der Gesetzgeber muss für jeden Menschen Vorkehrungen bereithalten, die ein Mindestmaß an "Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben" ermöglichen. Das gilt ausdrücklich auch für die Bildung. Der Bund kann sich seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder verweist. Die Bekämpfung von Bildungsarmut ist eine verfassungsrechtliche Aufgabe, die Bund und Länder gemeinsam trifft. Notwendige Förder- und Unterstützungsleistungen, besonders im Bereich der frühkindlichen Erziehung und in der Grundschule, müssen realitätsgerecht erfolgen. Ob die bisherigen Maßnahmen im Rahmen des Bildungspakets ausreichen und welche Mindestgewährleistungen sonst erforderlich sind, bedarf weiterer Untersuchung.

Es zeigt sich: Das bundesdeutsche Bildungssystem entspricht an zentralen Stellen nicht den Anforderungen, die heute in verschiedenen internationalen Übereinkommen und im Verfassungsrecht verankert sind. Gesetzgebung und Praxis sind damit nicht nur politisch, sondern auch rechtlich in der Pflicht.


Michael Wrase ist Rechtsanwalt und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der WZB-Projektgruppe der Präsidentin. Er befasst sich mit Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bildungs- und Sozialrecht sowie Rechtstheorie und -soziologie.
michael.wrase@wzb.eu


Literatur

Blanck, Jonna M./Edelstein, Benjamin/Powell, Justin J.W.: "Der steinige Weg zur Inklusion. Schulreformen in Deutschland und die UN-Behindertenrechtskonvention". In: WZB-Mitteilungen, 2012, Nr. 138, S. 17-20.

Cremer, Wolfram: "Die verbindliche Übergangsempfehlung zur Sekundarstufe zwischen Verfassungsauftrag und Verfassungswidrigkeit". In: Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht e.V. (Hg.): Selektion und Gerechtigkeit in der Schule. Studien zum Schul- und Bildungsrecht, Band 1, Baden-Baden: Nomos 2012, S. 79-108.

Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Die Zeit Bücher 1965.

Richter, Ingo: "Art. 7 (Schulwesen)". In: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. Darmstadt: Neuwied 2001.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 140, Juni 2013, Seite 26 - 29
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2013