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DISKURS/003: Bildungschancen von Migranten - Nicht alle sind gleich (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 126/Dezember 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Nicht alle sind gleich
Der Rechtsstatus beeinflusst Bildungschancen von Migranten

Von Janina Söhn


Seit Ende der 1980er Jahre sind mit ihren Familien viele hunderttausend Kinder in die Bundesrepublik migriert. Die politisch-rechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbedingungen dieser Zuwanderer variierten stark - mit Folgen auch für ihre Bildungschancen. Beim Vergleich zwischen Kindern von (Spät-)Aussiedlern mit anderen Migrantenkindern wird deutlich, dass die institutionelle Ungleichbehandlung, die auf einem unterschiedlichen Rechtsstatus basiert, zu einem relativen Bildungsvorsprung der Aussiedlerkinder führte.


In den öffentlichen Debatten über Bildungschancen von Migrantenkindern geht es häufig um Nachkommen von Arbeitsmigranten aus dem südlichen Europa. Dabei sind Kinder aus Zuwandererfamilien eine sehr heterogene Gruppe: Seit Ende der 1980er Jahre wanderten über drei Millionen Minderjährige in die Bundesrepublik ein; geblieben sind gut 1,5 Millionen von ihnen. Unter diesen Migranten sind Kinder von Aussiedlern aus Osteuropa, von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie von Asylsuchenden und De-facto-Flüchtlingen (nur geduldeten Flüchtlingen) aus Drittstaaten wie dem Irak, Afghanistan und auch der Türkei.

Die Bundesrepublik hieß diese Kinder und ihre Eltern nicht in gleichem Maße willkommen. Politisch-rechtliche Einreise- und Aufenthaltsbedingungen von Aussiedlern, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, kontrastieren scharf mit denen von Flüchtlingen, die unter ausländischen Zuwanderern eine besonders benachteiligte Gruppe sind. Ob und wie solche Unterschiede auch die Bildungschancen der unterschiedlichen Gruppen von Migrantenkindern beeinflussten, wird in einem Forschungsprojekt am WZB untersucht.

Empirisch war diese Frage bis vor kurzem schwer zu beantworten. Erst mit neuen Datensätzen wie dem Mikrozensus 2005 können repräsentative Aussagen über die neuen Zuwanderer allgemein und insbesondere die Aussiedler und deren Bildungschancen getroffen werden. Eigene Analysen des Mikrozensus zeigen, dass Jugendliche mit Migrationserfahrung insgesamt die Schule deutlich seltener als die Einheimischen mit dem Abitur abschließen (Abbildung). Die hier geborenen Kinder aus Migrantenfamilien nehmen eine Mittelposition ein. Eines ist auffällig: Aussiedlerkindern gelingt wesentlich häufiger als den Kindern aus der Gruppe der als Ausländer Zugewanderten zumindest der Realschulabschluss.

Wie lassen sich die Bildungsunterschiede zwischen Migranten erklären? Welche Rolle spielen politisch-rechtliche Voraussetzungen, also von der Bundesrepublik gesetzte Rahmenbedingungen für Migration? Zwei Arten staatlicher Interventionen gilt es zu unterscheiden: Zum einen können einwanderungsrechtliche Auswahlkriterien die anschließenden Integrationschancen beeinflussen; zum anderen können unterschiedlich ausgestaltete Aufenthaltsbedingungen eine Rolle spielen, die die internationale Migrationsforschung "modes of incorporation" nennt.

Stellt ein Aufnahmeland bestimmte Einwanderungskriterien auf, kann dies erhebliche Konsequenzen für die soziale Zusammensetzung der betroffenen Migrantengruppen und deren Teilhabemöglichkeiten haben. Ein Beispiel: In Kanada werden erwachsene Migranten mit einer guten Ausbildung und Sprachkenntnissen über ein Punktesystem "herausgefiltert". Deren Kinder wiederum profitieren in der Schule von den Ressourcen, die ihre Eltern ihnen bieten können. In der Bundesrepublik gibt es solche zuwanderungspolitischen Steuerungsinstrumente noch nicht. Bislang ist die Gruppe hochqualifizierter Arbeitsmigranten klein, und meist bleiben sie nur vorübergehend in Deutschland.

Dennoch hilft dieses Erklärungsmodell, denn mit der größten Migrantengruppe der letzten zwei Dekaden, den (Spät-)Aussiedlern, kamen auch in Deutschland Anerkennungskriterien zum Tragen, die - mehr oder weniger beabsichtigt - zugleich Integrationschancen berührten. Erstens hatten die früheren sozialistischen Herkunftsländer in Osteuropa, auf die die Aussiedlerzuwanderung immer beschränkt war (seit 1993 auf die ehemalige Sowjetunion), verhältnismäßig gut ausgebaute Bildungssysteme. Entsprechend brachten Aussiedler ein gewisses Niveau an Allgemeinbildung mit. Zweitens dienten einfache Deutschkenntnisse traditionellerweise als Beleg für ihre deutsche Herkunft. Wenngleich bis Anfang der 1990er Jahre eine entsprechende Überprüfung nicht allzu streng war und es auch danach Ausnahmeregelungen gab, so konnten doch einige Aussiedlerkinder, zum Beispiel viele Rumäniendeutsche, vom Startvorteil profitieren, die Schulsprache Deutsch nicht neu lernen zu müssen. Die große Mehrheit der Aussiedlerkinder, die aus der ehemaligen Sowjetunion und auch aus Polen stammte, stand dagegen wie andere Migrantenkinder vor der Herausforderung, möglichst rasch Deutsch zu lernen und sich im hiesigen Schulsystem zurechtzufinden.

Der Zugang zu Rechten und Integrationsmaßnahmen oder auch der Ausschluss davon hing für die Migrantenkinder von ihrem Rechtsstatus ab. Gerade im Bildungssystem war dies aber eine verzwickte Angelegenheit. Zwar "leisteten" sich die meisten Bundesländer - Bayern und Baden-Württemberg sogar bis in dieses Jahrzehnt - separate Erlasse zum Schulbesuch von Aussiedlerkindern einerseits und ausländischen Kindern andererseits. Das zeigt, wie tief die Unterscheidung zwischen "deutschstämmigen" und "ausländischen" Migranten institutionell verankert war. Eine genauere Untersuchung dieser separaten Richtlinien zeigt jedoch, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gab. In der Praxis bürgerte sich der gemeinsame Unterricht von ausgesiedelten und ausländischen Migrantenkindern in Intensiv-Deutschkursen und Übergangsklassen an Grund- und Hauptschulen ein.

Eine Ungleichbehandlung wurde über die vom Bund finanzierten (zum Teil nicht mehr existierenden) "Garantiefonds" im Schul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich eingeführt. Von deren Angeboten, wie etwa außerschulischem Nachhilfeunterricht und Deutschkursen, durften hauptsächlich Aussiedler, aber auch einige rechtlich anerkannte Flüchtlinge profitieren. Aufgrund unzureichender Evaluationen bleibt allerdings unklar, ob diese zusätzliche Unterstützung tatsächlich dazu führte, dass mehr Aussiedlerkinder das Abitur machten oder zum Beispiel nur ihre Noten auf Hauptschulen verbessert wurden.

Mindestens genauso wichtig erscheint es daher, auch die Lebensumstände außerhalb des Bildungssystems zu analysieren und danach zu fragen, inwieweit sie von politisch-rechtlicher Ungleichbehandlung beeinflusst wurden. Die Einwanderung als Aussiedler und die hiermit verknüpfte rechtliche Gleichstellung bot durch den sofortigen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit eine sichere Bleibeperspektive. Dieser verlässliche Rahmen steht in starkem Gegensatz zur permanenten Bleibeunsicherheit, der Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge oft jahrelang ausgesetzt waren und die selbst eine mittelfristige Lebensplanung verhinderte.

Der Einfluss dieser divergierenden Lebensumstände auf den Schulerfolg lässt sich ebenso schwer exakt in Zahlen nachweisen wie eine Wirkung der öffentlichen Debatten und der Einstellungen in der Aufnahmegesellschaft. Diskurse über die bis zur Wende politisch willkommenen Aussiedler wurden im Laufe der 1990er Jahre zwar zunehmend ambivalenter - immer häufiger wurden "Integrationsprobleme" hervorgehoben. Politisch unerwünschte, unter den Generalverdacht des "Asylmissbrauchs" gestellte Flüchtlinge hatten aber mit einem deutlich feindseligeren Umfeld zu kämpfen. Stigmatisierungen und Bleibeunsicherheit stellen psychologische Belastungen im schulischen Fortkommen dar, mit denen andere Migrantengruppen gar nicht oder weniger zu kämpfen haben.

Empirisch konkreter analysierbar ist dagegen der indirekte Einfluss des Rechtsstatus der Migranten, wie er über den Grad der sozialrechtlichen Gleichstellung und die ökonomische Teilhabemöglichkeit der Eltern vermittelt wird. Im Gegensatz zu den Migranteneltern, die (zum Beispiel aus einem EU-Mitgliedsstaat) zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in die Bundesrepublik reisen konnten, hatten die meisten erwachsenen Aussiedler und Flüchtlinge zunächst keine Beschäftigung. In dieser Phase der Nichterwerbstätigkeit waren die finanziellen Leistungen für Aussiedler jedoch höher als für Flüchtlinge, die durch das Asylbewerberleistungsgesetz zu Einkommensarmut unterhalb des Sozialhilfeniveaus verdammt waren (und sind). Zudem hatten Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge zum Teil gar keinen, zum Teil einen rechtlich erschwerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt, also begrenzte Möglichkeiten, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Darüber hinaus konnten - trotz Kürzungen in den 1990er Jahren - erwachsene Aussiedler wie sonst keine andere Migrantengruppe von einem Bündel an Integrationsmaßnahmen profitieren, bevor 2005 "Integrationskurse" für weitere Kreise von Zuwanderern eingeführt wurden. Dabei ist besonders die staatliche Unterstützung für Aussiedler beim Erlernen der deutschen Sprache hervorzuheben - denn der Spracherwerb von Eltern ist auch für die alltägliche Unterstützung ihrer Kinder in deren schulischem Fortkommen relevant.

Dennoch: Könnten die relativen Bildungsvorteile von Aussiedlerkindern nicht auch einfach darauf zurückzuführen sein, dass ihre Eltern höher gebildet sind als die der Vergleichsgruppe - ein "Glücksfall", der mit der gruppenspezifischen Migrations- und Integrationspolitik selbst nichts zu tun hat?

Solche Pro- und Kontra-Hypothesen lassen sich mit dem Mikrozensus testen. In statistischen Schätzmodellen wird in Rechnung gestellt, dass sich die Gruppen der Aussiedler und der als Ausländer Zugewanderten hinsichtlich ihrer sozialen und damit für Bildungschancen relevanten Zusammensetzung unterscheiden können. Im Ergebnis zeigt sich, dass der relative Bildungsvorteil von Aussiedlerkindern zwar teilweise darauf zurückzuführen ist, dass ihre Eltern in den Herkunftsländern im Schnitt mittlere (Aus-)Bildungsniveaus erreichten, während unter der Vergleichsgruppe ein gutes Fünftel der Eltern gar keinen Schulabschluss hat und so ihre Kinder kaum unterstützen konnte. Dennoch ist es nicht alleine das Bildungsniveau der Eltern, das die geringeren Bildungsrisiken von Aussiedlerkindern erklärt. Zum Teil sind sie dadurch bedingt, dass Aussiedlereltern seltener von Arbeitslosigkeit betroffen sind (die mit der einhergehenden Armut und sozialen Ausgrenzung ein Bildungsrisiko von Kindern darstellt). Dies fällt gerade im Vergleich zu den weniger bildungserfolgreichen jugendlichen Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern auf, deren Eltern zwar ein ähnliches Bildungsniveau aufweisen, aber häufiger von ökonomischer Teilhabe rechtlich ausgeschlossen waren.

Aussiedler behalten unter der statistischen Berücksichtigung der unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung unter anderem im Vergleich zu Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, die vorwiegend Bürgerkriegsflüchtlinge waren, und aus der Türkei, darunter auch asylsuchende Kurden, ihren relativen Bildungsvorsprung. Solche Gruppen sind nicht nur durch rechtliche Exklusionen, sondern auch durch Gewalterfahrung und Diskriminierung im Herkunftsland und ethnische Vorurteile in Deutschland belastet.

Die negativen Folgen der Benachteilung durch das Ausländerrecht könnten mit dem entsprechenden politischen Willen verändert werden. Dabei wäre es, wie hier beschrieben, verfehlt, nur auf - dringend notwendige - schulische Integrationsmaßnahmen für die Migrantenkinder zu setzen, um deren Bildungschancen zu erhöhen. Ebenso wichtig für den schulischen Erfolg ist eine unterstützende Integrationspolitik für erwachsene Migranten. Die großzügige Integrationspolitik für Aussiedlerfamilien könnte dafür ein Vorbild sein, denn von ihr haben auch die Kinder profitiert.


Janina Söhn, Soziologin, ist Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und assoziierte Wissenschaftlerin in der Abteilung "Ausbildung und Arbeitsmarkt" am WZB. Von 2003 bis 2007 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Arbeitsstelle "Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration" am WZB. Im Herbst 2009 war sie zu Gast an der Princeton University.
soehn@wzb.eu


Literatur

Alejandro Portes, Patricia Fernández-Kelly, William Haller, "The Adaptation of the Immigrant Second Generation in America: A Theoretical Overview and Recent Evidence", in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 35, No. 7, 2009, S. 1088-1104

Janina Söhn, "Bildungsunterschiede zwischen Migrantengruppen in Deutschland: Schulabschlüsse von Aussiedlern und anderen Migranten der ersten Generation im Vergleich", in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 18, Heft 3, 2008, S. 401-431

Janina Söhn, "Bildungsunterschiede und der Einfluss gruppenspezifischer Migrations- und Integrationspolitiken: Aussiedler und andere Angehörige der neuen ersten Migrantengeneration im Vergleich", in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 34. Kongresses der DGS, Frankfurt a.M.: Campus (im Erscheinen)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 126, Dezember 2009, Seite 14-17
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2010