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HOCHSCHULE/1516: Zehn Jahre Bologna-Prozeß I (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010

Zehn Jahre Bologna-Prozess I
Kundenorientierung im Wissenschaftsbetrieb

Von Herbert Bruhn


Internationalisierung und Vergleichbarkeit, die Studierenden als Kunden, die Universität als Dienstleistungsbetrieb - das sind Ziele der jetzt seit zehn Jahren andauernden Diskussion. Eine Reform, die lange überfällig war. Optimal ist sie aber noch nicht.


So sahen es viele, im Prinzip sehe ich es auch so - eine Reform ist nötig gewesen. Ich stelle jedoch fest, dass manches anders gelaufen ist, als man es sich gerne vorgestellt hätte. Es wurde schnell deutlich, dass es nicht um die Bildung geht, die reformiert werden sollte - es ging um die Universität. Es sollte auch nichts reformiert werden: Es sollte geregelt werden. Wir blicken also zurück auf zehn Jahre Neuregelung des Universitätsbetriebs.

Die Universitäten wurden einmal von den Herrschenden begründet, um die Ausbildung von Juristen, Medizinern und Lehrern abzusichern. Ausbildung war das Ziel, nicht Bildung, denn die Studierenden waren die Ware, die die Universität möglichst gut ausgebildet an die staatlichen Institutionen Gericht, Krankenhaus und Schule abliefern sollten. Die Kunden waren die Herrschenden. Da die Herrschenden sich selbst hierin nicht so gut auskannten, haben sie sich Fachleute (Professores = Kenner und Bekenner) geholt, die sie auch nicht gängeln wollten (Freiheit von Forschung und Lehre), damit das System nicht kurzfristig politischen Veränderungen unterworfen wird. Dies begann im Mittelalter. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben diese Professoren die Ausbildung zur Bildung geformt. Sie haben aus der praktischen Tätigkeit der Rechtsprechung, des Heilens und Lehrens, Wissenschaften gemacht. Sie haben sich mit der Antike beschäftigt und Gedankengebäude über den praktischen Fächern aufgespannt. Bildung im Dienste der Weiterentwicklung des Denkens. Und ich erinnere, dass noch die Universitätsgründungen der 1970er Jahre von einer ähnlichen Idee geleitet waren: zum Beispiel in Bremen, Kassel, Bielefeld...

Ich will jetzt nicht in die allgemeine Klage über den Verfall der Universitäten und der Bildung einfallen. Vor allem sehe ich die Zeit von Humboldt anders, denn gerade Humboldt hat mit seinen nach Freiheit strebenden Idealen das damals gut funktionierende System in Frage gestellt. Bildung war damals keine Ware, sondern ein hohes Gut, was nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zuteil werden sollte. Humboldt war sich dessen bewusst: Breit gestreute Bildung kann nur Schwierigkeiten bringen, denn Bildung ist Machterfahrung: Deutsche Geschichte, deutsche Musik, deutsche Tugenden - die Ziele der Humboldtschen Reform waren nicht die Bildung der breiten Masse, sondern die Wiedererlangung der Macht in einer Zeit der postrevolutionären Besatzung mit Hilfe einer breit gebildeten Masse. Dennoch hat er die allgemeine Schulpflicht und breite Bildung für die Bevölkerung gefördert.

Sowohl mit der Vergabe von Bildung als auch mit Gebildetheit wird Macht ausgeübt. Wer gebildet ist, hat Macht über andere. Das Ziel der Humboldtschen Bildungsreform kann man als taktische Maßnahme für einen langfristig angelegten Widerstand gegen die Besetzung Preußens durch die Franzosen ansehen. Napoleon konnte traditionell geschlagen werden. Humboldt war schon zwei Jahre nach seinem Dienstantritt im Bildungsbereich von Preußen wieder raus aus der Diskussion. Die Humboldtschen Bildungsideale wenden sich schließlich in den Revolutionsjahren 1848/49 gegen die fürstlichen Erfinder. Die Bevölkerung wusste damals, wem sie die Paulskirche zu verdanken hatten: So entstand das erste deutsche Parlament in der Paulskirche aus lauter Intellektuellen - und wurde wegen seiner mangelnden Durchsetzungsfähigkeit als "Professoren-Parlament" verhöhnt. Die "Ware" der Bildung, das Bürgertum hatte sich neue "Kunden" gesucht - die intellektuelle und demokratische Führungsschicht. Humboldts Humanismus hat uns so in Mitteleuropa die Demokratie ermöglicht.


Von der wahren Bildung zur Ware Bildung

In den zehn Jahren seit Beginn der Bachelor-Master-Reform ist nun etwas ganz anderes geschehen: Die neuen Kunden sind entmachtet, die Ware selbst wird zum Kunden ernannt. Und noch tragischer: Die ursprünglichen Abnehmer der gebildeten Studierenden (Staat und Politik) ziehen sich aus der Verantwortung für die Ausbildung und für die Abnahme der fertigen Studierenden zurück. Überspitzt formuliert:

Die Studierenden sollen ihre Ausbilder, ihre Ausbildung selbst kontrollieren und steuern. Ich übertrage jetzt die Begriffe der Output-Orientierung auf meine Schlussfolgerungen:

- Die Ware soll ihre eigene Abnahme und Vermarktung steuern.
- Die Ware wird dadurch ihr eigener Kunde.

Im Ineinanderfallen von Ware und Kunde steckt das Problem: Kunde bedeutet, kundig zu sein. Ein Kunde wählt seine Ware nach seinen Bedürfnissen und Interessen aus. Früher war die Justizverwaltung, die Schulbehörde oder das Gesundheitsamt Kunde. Sie wussten, worum es geht, wenn nach Nachwuchsware gerufen wurde - sie waren kundig in ihrem Fach.

Woher soll ein Studierender kundig sein, um sich selbst eine gute Ausbildung zu verschaffen? Er soll ja gerade im Studium Kunde erhalten von den Anforderungen. Professoren des Mittelalters, die von den Machthabern Freiheit in Lehre und Forschung zugestanden bekamen, wären wahrscheinlich sehr erstaunt. Wir heutigen Professoren haben aber noch nicht einmal verstanden, worum es geht. Wir bemühen uns, den neuen Modellen gerecht zu werden. Aber:

Es sind weniger Stellen zur Verfügung.
Forschungsgelder werden zum überwiegenden Teil nicht mehr von den Universitäten verteilt.
Freie Forschung wird ersetzt durch anwendungsorientierte Forschung.
Ein ausgeklügeltes System von Fachgruppenvertretern kontrolliert die Vergabe von gering zugemessenen Forschungsgeldern über die zentrale Organisation der DFG.
Man beginnt sich daran zu gewöhnen, dass nur ca. 50% der Professorenanträge auf Forschung noch bewilligt werden.
Nur wenige besonders ausgelesene Fachvertreter erhalten die Rechte und Ausstattung, die früher der normale Ordinarius in der staatlichen Universität hatte: Die Max-Planck-Institute haben sich zum Träger deutscher Wissenschaft entwickeln können.

Warum stehen nun die Studierenden auf der Straße oder besetzen Hörsäle? Ich glaube, sie haben erkannt, dass man das Rad der Geschichte um Hunderte von Jahren zurückgedreht hat. Es geht wieder um Ausbildung für eng definierte Aufgaben. Der Bildungsaspekt ist verschwunden.

Was machen wir jetzt? Wir feiern zehn Jahre Bildungsreform? Ja, wir haben überlebt. Aber feiern können in der Uni nur die Bildungsverwalter, die schon lange daran arbeiten, die ihrer Ansicht nach ungeordnete Hochschule zu regeln. Im Moment ist alles dominiert von festgezurrten Konzepten, die weismachen wollen, man wüsste, was man tut. - Das Feiern fallt schwer.

Herbert Bruhn (*1948) ist Professor für Musik und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.
bruhn@uni-flensburg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010, S. 34-36
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2010