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INTERNATIONAL/056: Pakistan - Stift statt Bettelstab, Schulprojekt hilft Straßenkindern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2015

Pakistan: Stift statt Bettelstab - Schulprojekt hilft Straßenkindern

Von Zofeen Ebrahim


Bild: © Zofeen Ebrahim/IPS

In Pakistan tragen hunderttausende Kinder mit ein paar Rupien zum kargen Lebensunterhalt ihrer Eltern bei
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KARACHI (IPS) - Der zwölfjährige Khalil Ahmed hat sich mächtig verändert. Abgesehen davon, dass er gewachsen ist, steckt er in einer sauberen und frisch gebügelten Schuluniform, an den Füßen trägt er Schuhe. Seine Haare sind gekämmt und gegelt, die Fingernägel geschnitten.

Niemand aus Gambat, einem kleinen Nest 500 Kilometer von der pakistanischen Hafenstadt Karachi entfernt, würde in dem Jungen das dürre, zerlumpte und verschmutzte Kerlchen erkennen, dass er vor vier Jahren war, als er an der Hand der Großmutter Almosen von Passanten erbettelte.

Doch diese Zeiten sind vorbei, und inzwischen besucht er die vierte Klasse der Schule des Behram-Rustomji-Campus in Pipri. Das kleine Dorf liegt 45 Kilometer von Sukkur entfernt, der drittgrößten Stadt der Provinz Sindh. Seinen Lehrern zufolge gehört Ahmed zu den Besten seiner Klasse aus 13 Mädchen und sieben Jungen. In Pipri schlagen sich mehr als 95 Prozent der 1.000 Haushalte mit Betteln durch.

Die internationale Hilfsorganisation 'Oxfam' hat in einem jüngsten Bericht auf die in Pakistan vorherrschende 'Bildungsapartheid' hingewiesen. Demnach gehen 82 Prozent der reichsten aber nur 50 Prozent der ärmsten pakistanischen Kinder in die Schule. Die Folgen sind gravierend. So hat Pakistan die regionalen Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Initiative 'Bildung für alle' (EFA) getrübt.


Hoher Anteil an Kinderanalphabeten

Aus einer diesjährigen Untersuchung des Weltkinderhilfswerks UNICEF geht hervor, dass mehr als 40 Prozent aller Kinder weltweit, die nicht die Schule besuchen, in Südasien leben, davon die Hälfte in Pakistan. Experten würdigen zwar die Bemühungen unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen, die traurige Realität zu ändern, sehen aber ohne ein weitreichendes staatliches Engagement keine Chancen, spürbar Abhilfe zu schaffen.

Nach Aussagen von Mosharraf Zaidi, dem Leiter der Alif-Ailaan-Bildungskampagne, "haben die heroischen Anstrengungen der privaten Organisationen tatsächlich bemerkenswerte Erfolgsgeschichten hervorgebracht [...], doch sind sie angesichts des immensen Bildungsbedarfs nur Tropfen auf dem heißen Stein."

Der Staat lasse seine Kinder auch weiterhin im Stich, erklärt er gegenüber IPS. Solange die Regierung ihrer Verpflichtung, die Voraussetzungen für den Schulbesuch zu schaffen, nicht nachkomme, würden "selbst die begabtesten Kinder ihr volles Entwicklungspotenzial nicht ausschöpfen können". Seiner Meinung nach wird es höchste Zeit, das Bildungssystem umzukrempeln.

Pervez Hoodbhoy, ein prominenter Bildungsexperte, geht einen Schritt weiter. Er stimmt zwar darin überein, dass der Abschluss der zehnten Klasse Kindern bessere Chancen im Leben garantiert. Doch seiner Meinung nach ist die Grundschulbildung nur ein Schritt auf dem langen Weg, die Kluft zwischen Reich und Arm zu verringern. Wie er erläutert, hängt ein halbwegs erträgliches Leben von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählt er auch familiären Wohlstand und beste Verbindungen zu einflussreichen Gruppen und Personen.

Die Schule, die Ahmed besucht, wird von der 1995 gegründeten Nichtregierungsorganisation 'The Citizens Foundation' (TCF) geleitet. Heute betreibt die TCF landesweit 1.060 solcher Bildungseinrichtungen, die überwiegend Kinder aus marginalisierten Gemeinschaften aufnehmen.

22 Prozent der 180 Millionen Pakistaner sind arm. Hinzu kommen die gravierenden Einkommensunterschiede, die der Entwicklung Pakistans im Wege stehen. So wird es dem Land aller Voraussicht nach nicht gelingen, die Millenniumsentwicklungsziele zur Armutsbekämpfung bis zum Ende des Jahres zu erreichen.


Bild: © Zofeen Ebrahim/IPS

Millionen Kinder in Pakistan brechen die Schule vor Abschluss der Grundschule ab
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Wie aus dem nationalen Revisionsbericht zu den Fortschritten bei der Initiative 'Bildung für alle' hervorgeht, den die UNESCO veröffentlicht hat, gehen etwa 6,7 Millionen Kinder nicht zur Schule, zu 62 Prozent sind Mädchen betroffen. Von den rund 21,4 Millionen Kinder im schulfähigen Alter, die die Grundschule besuchen, werden es nur 66 Prozent bis zum Abschluss der fünften Klasse schaffen. 33,2 Prozent werden schon vor dem Ende der ersten Klasse das Handtuch werfen.


In der Armutsfalle

Am schlimmsten ist die Lage der Straßenkinder. Die Gesellschaft zum Schutz der Rechte des Kindes (SPARC) schätzt die Zahl der Mädchen und Jungen, die auf Pakistans Straßen leben und arbeiten, auf 1,5 Millionen. Nur die wenigsten von ihnen werden jemals ein Klassenzimmer betreten. Die meisten sind zu einem Leben in Armut verurteilt. Schon jetzt müssen 22 Millionen Pakistaner mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zurechtkommen, wie die Weltbank berichtet.

Experten sind sich einig, dass Kinder aus armen Familien aufgrund der Abwesenheit eines anständigen Bildungswesens nur äußerst geringe Chancen haben, die sozioökonomische Leiter hochzuklettern. Arme Eltern, die ihren Nachwuchs an den TCF-Schulen unterrichten lassen, dürfen die Höhe der dort ohnehin niedrigen Schulgebühren selbst bestimmen. "Unsere monatliche Mindestgebühr liegt bei zehn Rupien (umgerechnet 0,09 US-Dollar). Mit dem symbolischen Betrag wollen wir lediglich sicherstellen, dass Eltern den Wert von Schulbildung zu schätzen wissen", meint Ayesha Khatib von TCF. Die Obergrenze liegt bei durchschnittlich 30 Rupien (0,29 Dollar).

Auch wenn für arme Familien jede Rupie zählt, ihre Kinder bekommen sehr viel zurück, wie Ahmed betont. "Betteln zu müssen, fand ich schrecklich. Es hat mir weh getan, wenn man mir hässliche Dinge zugerufen hat", sagt der der Junge über sein altes Leben. Heute nutzt er den Großteil seiner Zeit zum Lernen. Seine Mutter ist für ihn 'eingesprungen', das heißt, sie geht jetzt mit dem Vater betteln. Dazu meint Rabail Abbas Phulpoto, die 25-jährige Schulleiterin, dass 85 Prozent ihrer Schüler aus Familien kämen, die vom Betteln lebten. Dieser Umstand erklärt auch den Widerstand vieler Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Denn das bedeutet geringere Almosen.

"Ich habe vor drei Jahren damit begonnen, mich in der Gemeinde zu engagieren", berichtet Phulpoto. "Erst gab es Widerstand, doch nach acht Monaten fortgesetzter Gespräche hatte ich die Eltern soweit. Einige schickten zunächst ausschließlich ihre Söhne, von denen viele nach der Schule weiter betteln gingen."

Heute sind 235 der 350 Schüler ehemalige Straßenkinder. "Die Bedeutung von Bildung ist endlich in den Köpfen angekommen", sagt sie. Keines der Kinder geht inzwischen mehr betteln. Sie helfen ihren Eltern, indem sie nach dem Unterricht einige Stunden lang in Geschäften aushelfen. Ahmed hat eine Zeitlang für ein Mobiltelefonunternehmen gearbeitet. Seit er weiß, wie man Telefone repariert, will er Computeringenieur werden.

Eine weitere gute Nachricht ist, dass sich die sozialen Barrieren zwischen den besser und weniger gut gestellten TCF-Schülern auflösen. Wo sich einst Kinder aus privilegierten Familien geweigert hatten, neben Kindern aus ärmeren Verhältnissen zu sitzen, hat sich das Verhältnis nach Aussagen von Phulpoto deutlich entspannt.


Auch Eltern profitieren

Laut Baela Raza Jamil, Programmleiterin am Zentrum für Bildung und Bewusstsein ('Idara-e-Taleem-o-Aagahi' oder ITA) und Koordinatorin des Südasiatischen Zentrums für Bildungsentwicklung, profitieren Eltern und Kinder gleichermaßen von der TCF-Initiative. "Jeden Tag kommen die Kinder mit neuen Ideen nach Hause", sagt sie. "Sie lernen rechnen und können dadurch ihre Eltern bei der Buchhaltung unterstützen."

Ahmed hat besondere ehrgeizigere Pläne für seine Eltern. "Ich möchte schnell groß werden", sagt er zu IPS. "Und dann werde ich dafür sorgen, dass auch sie nicht mehr betteln müssen." (Ende/IPS/kb/22.05.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/05/pakistans-streets-kids-drop-the-begging-bowl-opt-for-pencils-instead/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2015

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