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GAZA/033: Mit der Schließung des Karni-Übergangs verschärft sich der Nahrungsmittelengpaß in Gaza (IRIN)


Integrated Regional Information Networks IRIN - 7. März 2011

Besetzte Territorien: Angespannte Nahrungsmittelsituation in Gaza durch Schließung des Karni-Übergangs


RAMALLAH, 7. März 2011 (IRIN) - Die am 2. März angekündigte, vollständige Schließung des Grenzübergangs Karni an der Grenze zwischen Israel und Gaza wird die Lieferung von Lebensmittelhilfen nach Gaza erschweren, erklären UN-Agenturen, die Palästinenser im Gaza-Streifen unterstützen, in dem Schätzungen nach die Ernährungslage von über der Hälfte der Bevölkerung nicht gesichert ist [1].

Die Schließung von Karni wird darüber hinaus die Kosten der Hilfslieferungen um 20 Prozent erhöhen, erklärte Chris Gunness, Sprecher des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) in Jerusalem, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich die UNRWA einem Defizit von über 50 Millionen US-Dollar gegenübersieht.

Etwa 750.000 Palästinenser von rund einer Million Flüchtlingen, die in dem Gebiet leben, erhalten in Gaza Lebensmittelunterstützung.

Der von Israel kontrollierte Grenzübergang Karni [2] ist der einzige kommerzielle Übergang, der die Einfuhr einer großen Zahl von Lastwagenladungen nach Gaza erlaubt. Nachdem er im Juni 2007 für Lastwagen geschlossen wurde, übernahm das Förderband die Funktion des Getreidetransports, bis die israelischen Behörden am 2. März die vollständige Schließung verkündeten.

Kerem Shalom, ein kleinerer kommerzieller Übergang am südlichsten Ende der Grenze zwischen Israel und Gaza, verfügt laut UN-Büro für die Koordination der Humanitären Angelegenheiten (OCHA) nicht über die nötigen Einrichtungen, um einer großen Zahl von Lastwagenfuhren den Transfer nach Gaza zu ermöglichen. Jetzt ist er der einzige Punkt, über den Hilfs- und Warenlieferungen nach Gaza hineinkönnen.

"Der Übergang Kerem Shalom hat nicht die nötigen Kapazitäten, um Gazas Bedürfnisse zu erfüllen, und es muß mehr als einen funktionsfähigen Übergang geben, um Hilfsgüter und Waren für die 1,5 Millionen Menschen in Gaza zu importieren", erklärte UNRWA-Sprecher Gunness. "Daß man humanitäre Organisationen durch den Flaschenhals Kerem Shalom zwingt, wird kaum dazu beitragen, die humanitäre Not der Menschen in Gaza zu lindern."

Er ergänzte, daß sich die Lieferungen nach Gaza noch immer auf dem Niveau von 40% des vor Juni 2007 Gelieferten bewegten.


Förderband wird versetzt

Maj Guy Inbar, der israelische Koordinator der Regierungsaktivitäten in den (palästinensischen) Territorien (COGAT), erklärte IRIN, daß COGAT beschlossen habe, das Förderband von Karni nach Kerem Shalom zu transferieren.

"Das Förderband in Karni arbeitete aufgrund von Sicherheitsbedenken nur an zwei Tagen in der Woche, um Getreide und Betonzuschläge [Baumaterial] hineinzubringen", erklärte Inbar, "wenn wir das Band verlegen, erhöht das die Zahl der Tage, die es pro Woche arbeiten kann, und die Warensorten, die hineinkönnen."

Kerem Shalom hat eine Kapazität von 300 Lastwagen täglich, aber aufgrund der "begrenzten palästinensischen Nachfrage" kommen 170-180 Lastwagen täglich nach Gaza, ergänzte er.

"Wenn Israel den Übergang Karni schließt und das Förderband in Kerem Shalom eingesetzt wird, um die Lieferungen hineinzubringen, ist zu erwarten, daß sie aufgrund der höheren Kosten und der größeren Strecke, die Laster fahren müssen, um den Übergang zu erreichen, teurer sein werden", meinte Jean-Noel Gentile, der Leiter des Welternährungsprogramms (WFP) in Gaza, gegenüber IRIN. Die Agentur unterstützt durchschnittlich 313.000 Empfänger, die keine Flüchtlinge sind, mit Lebensmittelhilfe.

"Die Hauptfaktoren, die zur ungesicherten Ernährungslage in Gaza beitragen, sind der Mangel an Kaufkraft und steigende Lebensmittelpreise sowie eine Wirtschaft, die fast ausschließlich vom öffentlichen Sektor und humanitärer Hilfe abhängt", erklärte Gentile. "Unter den derzeitigen Bedingungen im Gazastreifen gibt es aufgrund der Blockade kein verläßliches Wachstum", ergänzte er.

Aufgrund von Sicherheitsbedenken verschärfte Israel seine Gaza-Blockade, nachdem Hamas 2007 die Macht in dem Territorium übernommen hatte. Durch langanhaltende Grenzschließungen hat Israel die Einfuhr von Treibstoff und Handelswaren sowie der meisten Baumaterialien und Rohstoffe beschränkt, berichtet OCHA [1].

Mittlerweile liegt die Arbeitslosenquote laut dem palästinensischen Zentralbüro für Statistik (PCBS) bei 50 Prozent.


Wenig proteinhaltige Nahrung

Samia Afaneh, ein 40jähriger Flüchtling aus der Gegend Sheikh Radwan in Gaza-Stadt und ihre zehnköpfige Familie, erhalten alle drei Monate Lebensmittelhilfe von der UNWRA - unter anderem Mehl, Speiseöl, Milchpulver und Zucker.

Samias Ehemann arbeitete früher an einem israelischen Grenzübergang, aber seit der Verschärfung der Blockade ist er arbeitslos. "Auch mit der Unterstützung sind meine Kinder noch immer unterernährt", erzählte sie. "Bei mir wurde Anämie diagnostiziert, als ich schwanger war, und das gleiche ist bei einer meiner Töchter der Fall."

Samia erzählte, ihre Familie könne sich proteinreiche Nahrungsmittel nicht leisten. "Wir können uns nur ein Kilo Fisch oder zwei Hühner im Monat leisten, um zehn Menschen zu ernähren", erzählte sie.

Das WFP sammelt auf Einzelhaushaltsebene Informationen für einen Bericht, der im Mai herauskommen soll, und untersucht, ob Israels Lockerung der Blockade seit Juni 2010 die Preise, die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und die Auskommen in Gaza beeinflußt hat [3].

Seit der Lockerung der Blockade hat Israel eine begrenzte Menge Baumaterial nach Gaza gelassen. Israel hat 43 UNWRA-Projekte bewilligt, die 11 Prozent des Gesamtarbeitsplans umfassen, den die Agentur eingereicht hatte, berichtet OCHA [4].

"Seit der zweiten Jahreshälfte 2010 werden einige Baustoffe über den Übergang Karni nach Gaza hineingelassen, aber die Zahl der Öffnungstage reicht nicht aus, um sowohl die Baustoffe als auch ausreichende Weizen- und Tierfutterlieferungen hineinzubringen," erklärte Gentile vom WFP.


In die Höhe schießende Lebensmittelkosten

Es gibt nicht genügend Weizen in Gaza, und das zieht die Nahrungsmittelunterstützungsleistungen für fast eine Million Empfänger durch UNRWA und WFP in Mitleidenschaft, die das Mehl gewöhnlich von den örtlichen Getreidemühlen kaufen. Die Abhängigkeit der Ärmsten von Lebensmittelhilfen hat in den letzten Monaten aufgrund eines starken Anstiegs des Marktpreises von Weizenmehl (um rund 50 Prozent seit August 2010) zugenommen, berichtet OCHA.

In der zweiten Jahreshälfte 2010 hat der Lebensmittelpreisindex für Verbraucher (CPI) im Westjordanland und in Gaza als Reaktion auf die emporschnellenden Lebensmittelpreise auf dem internationalen Markt stark ausgeschlagen, erklärte die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Es wird erwartet, daß sich dieser Trend 2011 fortsetzt; und während der CPI steigt, gehen die Einkommen und die Kaufkraft in Gaza zurück.

In Anbetracht dessen, daß die Ausgaben für Nahrungsmittel 60 Prozent der kompletten Haushaltsausgaben betragen und das derzeitige Niveau der Ernährungsunsicherheit in Gaza bei 52 Prozent liegt, wird ein Lebensmittelpreisanstieg, der um das aktuelle Maß weiter in die Höhe geht, Hundertausende Palästinenser mehr in Armut und Nahrungsmittelunsicherheit treiben, warnte die PA.

Zwischen 2007 und 2009 gab es einen dramatischen Anstieg bei den Bargeldausgaben für Lebensmittel - 67 Prozent im Gazastreifen - im Verhältnis zu allen Barausgaben, während laut PCBS die Menge der aufgenommenen Kalorien fällt. Zwischen 2007 und 2009 fiel die Pro-Kopf-Kalorienaufnahme in Gaza und in der Westbank um 18 Prozent, erklärte das PCBS.

Abdel Salibi, 70, aus dem Strandlager von Gaza-Stadt und seine fünfköpfige Familie erhalten Nahrungsmittelunterstützung von der UNRWA. "Unsere Familie kann sich nur alle paar Monate leisten, Fleischprodukte zu kaufen", erklärte Abdel.

"Das Dach unseres Haus nahe dem Küstenstrand ist noch durch den Krieg beschädigt [Israels 23-Tage-Offensive in Gaza, die im Januar 2009 endete], in dem israelische Kanonenboote auf das Lager feuerten, erklärte er, weil Baumaterialien auf den lokalen Markt rar sind.

es/eo/cb/bp

[Dieser Bericht spiegelt nicht notwendigerweise die Ansichten der Vereinten Nationen wider]


[1] http://www.wfppal.org/Foodsec/2010%20oPt%20SEFSec.pdf
[2] http://www.irinnews.org/Report.aspx?ReportID=82615
[3] http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_humanitrain_presentation_gaza_jan_2011.ppt
[4] http://www.mfa.gov.il/MFA/Government/Communiques/2010/Prime_Minister_Office_statement_20- Jun-2010.htm
[5] http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_protection_of_civilians_weekly_report_2011_03_04_english.pdf



Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

IRIN (Integrated Regional Information Networks) ist der Informationsdienst des UN-Koordinationsbüros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) mit humanitären Nachrichten und Analysen

Übersetzungsdisclaimer: Redaktion SCHATTENBLICK hat den englischsprachigen Originalartikel von IRIN unabhängig ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung wurde weder von IRIN noch von den Vereinten Nationen geprüft. Redaktion SCHATTENBLICK übernimmt die volle Verantwortung für die Korrektheit und Originalgetreue der Übersetzung. Der Originalartikel kann unter http://www.irinnews.org/Report.aspx?ReportID=92114 eingesehen werden.


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Quelle:
OPT: Gaza food situation tight as Karni crossing closed
© IRIN 2011, 7. März 2011
Kontakt: IRIN Director, E-Mail: feedback@IRINnews.org
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in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2011