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GAZA/067: Waffengang und Widerstand - im Würgegriff Gaza ..., der Arzt Dr. Basem Naim im Gespräch (Martin Lejeune)


Grund- und Menschenrechte - nicht für uns?

Interview eines Journalisten aus Gaza-Stadt mit Dr. Basem Naim am 6. August 2014

von Martin Lejeune



Der Arzt und Chirurg Dr. Basem Naim gehörte für die Hamas sieben Jahre lang der palästinensischen Regierung an und war während dieser Zeit zudem etwa vier Jahre Minister für Jugend und Sport. Martin Lejeune sprach mit ihm in Gaza-Stadt.

Im Gespräch mit Martin Lejeune - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Dr. Basem Naim
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune: Darf ich Sie bitten, sich vorzustellen und kurz auf Ihre politische Laufbahn einzugehen?

Basem Naim: Vielen Dank. Meine Name ist Basem Naim. Ich bin Arzt und ausgebildeter Chirurg. Ich war ungefähr sieben Jahre lang Gesundheitsminister der palästinensischen Regierung und während dieser Zeit etwa vier Jahre auch Minister für Jugend und Sport. Neben anderen Funktionen war ich zuletzt Berater für Internationale Angelegenheiten des Premierministers.

ML: Könnten Sie aus Ihrer Perspektive kommentieren, was seit Beginn des jüngsten Angriffs auf den Gazastreifen geschehen ist?

BN: Wir sprechen hier über eine eindeutige Aggression gegen unser Volk - die Palästinenser im allgemeinen und Gaza im besonderen. Wir befinden uns in einem besetzten Gebiet. Nach internationalem Recht sollte die Besatzungsmacht die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur schützen. Die Angriffe begannen am 6. Juli auf Grundlage einer fabrizierten Erklärung: Im Westjordanland wurden drei Siedler entführt und später getötet. Daraufhin wurden mehr als tausend Palästinenser verhaftet, wobei die meisten von ihnen Führungspositionen in der Hamas bekleideten. Tausende Häuser wurden durchsucht, und wie wir aus verschiedenen Berichten, darunter auch dem eines bekannten deutschen Journalisten, der diese Vorfälle recherchiert hat, wissen, handelte es sich um eine fabrizierte Geschichte, da die drei Siedler in Wirklichkeit bei einer privaten Auseinandersetzung getötet wurden.

Dennoch griffen die Israelis den Gazastreifen an und zerstörten am 6. Juli zunächst einen Tunnel, wobei sechs Palästinenser getötet wurden, bei denen es sich überwiegend um Unterstützer der Hamas handelte. Wir haben wiederholt offen und über Mediatoren klar zum Ausdruck gebracht, daß wir an dieser Konfrontation nicht interessiert sind. Wir haben versucht, sie zu vermeiden. Vor dem Angriff hat die Regierung von Gaza alles Erdenkliche unternommen, um die Grenze ruhigzuhalten.

Israel hat diesen Angriff seit Monaten geplant. Wir haben vielfach erlebt, daß die Israelis gezielt Zivilisten und zivile Infrastruktur angriffen: Sie haben 74 Familien vollständig ausgelöscht, sie haben Krankenhäuser und Schulen angegriffen, darunter sogar solche, die von der UNO als Schutzräume eingerichtet worden waren.

ML: Liegen Ihnen genaue Zahlen vor, wie viele Häuser und Schulen zerstört wurden?

BN: Wir sprechen von über 30.000 Häusern, die angegriffen, und 10.000 von ihnen, die vollständig zerstört wurden. Wir sprechen von über 120 betroffenen Schulen, wovon sieben direktes Angriffsziel waren. Dabei wurden Massaker verübt, bei denen jeweils zwischen zehn und zwanzig oder teilweise sogar zwischen 50 und 70 Menschen getötet wurden. Sie haben das einzige Kraftwerk zur Stromversorgung im Gazastreifen wie auch die Infrastruktur zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung angegriffen. Sie haben Familien angegriffen, wenn diese sich zu bestimmten Gelegenheiten am Ende des Ramadan versammelten. Wir haben klar gesehen, daß sich alle Soldaten in Panzern befanden, die unsere Leute angriffen.

Ich muß zu meinem Bedauern sagen, daß die Palästinenser insgesamt sehr frustriert, betroffen und aufgebracht sind, und das nicht nur, was die israelische Aggression betrifft, sondern auch wegen der Position der internationalen Gemeinschaft inklusive der Institutionen der UNO. Sie haben den Israelis grünes Licht gegeben, diese Aggression loszutreten und Verbrechen zu verüben, indem sie die israelische Begründung der drei getöteten Siedler als Fakt akzeptiert haben, obgleich sie später widerlegt worden ist. Während des Angriffs auf Gaza haben sie die Geschichte von Rafah akzeptiert, wonach ein israelischer Soldat entführt worden sein soll. Barack Obama, John Kerry und selbst Ban Ki-moon haben erklärt, daß das nicht hinzunehmen sei und die Hamas diesen Soldaten freilassen solle. Später stellte sich jedoch heraus, daß der Soldat auf israelischer Seite getötet worden war. Dennoch wurden daraufhin mehr als 300 Palästinenser in Rafah getötet.

Was die Palästinenser fordern, bedarf zu seiner Erfüllung keines Kriegs und keiner Aggression. Wir fordern die Aufhebung des Belagerungszustands und die Öffnung der Grenzen, damit die Palästinenser die Chance haben, sich wie jeder andere Mensch frei in aller Welt zu bewegen und Lebensmittel und Medikamente zu bekommen. Es muß keinen Krieg mit mehr als 2000 getöteten und über 10.000 verwundeten Palästinensern geben. Wir sprechen nicht von einem unabhängigen Staat oder anderen weitreichenden Forderungen, wir sprechen über einfache, grundlegende Rechte, zu leben wie Menschen anderswo auf der Welt.

ML: Wie ich hier erfahren habe, standen bei diesem Krieg auf palästinensischer Seite Menschen in vorderster Front, die dem alltäglichen Leben entstammen: Lehrer, Schüler, Ingenieure, die mitten aus der Bevölkerung kommen. Trifft es zu, daß es sich um Menschen verschiedenster Herkünfte und gesellschaftlicher Schichten handelte?

BN: Auf politischer Ebene unterstützen alle Menschen, die hier leben, das Recht der Palästinenser, gegen die Okkupation Widerstand zu leisten und sich für das Recht auf einen unabhängigen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt einzusetzen. Diese Übereinkunft findet man in allen Fraktionen und sozialen Verhältnissen. Das ist das eine. Zum zweiten könnte es durchaus zutreffen, daß Menschen aus sehr verschiedenen Berufen am Widerstand teilnehmen. Aber wir sprechen davon, daß sie vor den Panzern kämpfen. Ich weiß nicht, wie lange Sie schon hier sind, aber wenn es zwei oder drei Wochen sind, haben Sie mit Sicherheit keinen bewaffneten Mann gesehen.

ML: Ich bin seit dieser Zeit hier und habe währenddessen keinen einzigen bewaffneten Palästinenser gesehen.

BN: Das heißt, daß sich die Kämpfer nicht unter der Bevölkerung, nicht in den Häusern oder in der Nähe von Schulen und Moscheen aufhalten. Selbst wir haben sie nicht gesehen. Sie halten sich an der Front auf und kämpfen dort gegen die Israelis, wobei es eine Ehre für uns ist, daß unsere Kämpfer genau wissen, was, wo und wann sie etwas tun.

ML: Sie fügen Zivilisten keinen Schaden zu?

BN: Niemals. Sie können hier Menschen aus allen sozialen Schichten, Berufen und politischen Fraktionen fragen und werden eine klare Botschaft der Unterstützung des Widerstands und des Kampfs für unsere Rechte bekommen. Wir sprechen über grundlegende Rechte. Warum ist es Palästinensern jeglicher Berufe verboten, sich dem Widerstand anzuschließen, aber zugleich erlaubt, 70.000 Israelis zu mobilisieren, die gleichermaßen Ingenieure, Ärzte, etc. sind, um sie an die Grenze von Gaza zu schicken und unsere Leute zu töten? Auch sie sind Zivilisten, oder etwa nicht? Überall auf der Welt, in Deutschland, Frankreich, den USA unterstützen Menschen aller Lebensbereiche den Widerstand gegen eine Diktatur oder Okkupation. Ebenso ist es für alle Palästinenser eine Ehre, das zu tun.

ML: Welchem Zweck diente Ihres Erachtens der Angriff auf Zivilisten und die zivile Infrastruktur? Könnte ein Grund die Absicht sein, die Unterstützung und Versorgung des Widerstands zu schwächen oder zu unterbinden?

BN: Ich glaube, diese Vorgehensweise hatte mehrere Gründe. Wenn Sie unsere Geschichte seit 1948 studieren, finden sie fast jedes Jahr und mitunter sogar monatlich Massaker der Israelis an unserem Volk: In Deir Yasin, Chan Yunis, Kafr Quassem, Karantina, Sabra und Schatila - es ist die Ideologie der israelischen Armee und der Israelis im allgemeinen, in ihrer Kriegsführung die größtmögliche Feuerkraft zu entfalten, um Massaker zur Vertreibung von Menschen zu verüben. In früheren Jahren wie 1948, 1956, 1967 und 1973 flohen die angegriffenen Menschen aus dem Norden Palästinas in den Gazastreifen und manchmal nach Jordanien, Ägypten oder vielleicht sogar nach Europa. Diesmal haben wir keinen Zugang zu Rückzugsgebieten.

Zum zweiten versuchen die Israelis jedesmal, wenn sie auf irgendeine Weise vom Widerstand angegriffen werden, sich an Zivilisten zu rächen. Unsere Kämpfer haben Soldaten angegriffen, die Soldaten greifen Zivilisten an. Wenn die Israelis im Feld unterliegen, nehmen sie Rache. Das wissen wir seit jeher. Wenn also gute Nachrichten von der Front eintreffen, erwarten wir jedesmal eine sehr schlimme Nacht. In allen Fällen früherer Massaker war es zuvor zu einer heftigen Schlacht gekommen, in der unsere Kämpfer in der Lage waren, der israelischen Armee Widerstand entgegenzusetzen.

Zum dritten glauben die Israelis, daß sich der Widerstand ohne die Unterstützung der Bevölkerung nicht entfalten kann, zumal unter dem Belagerungszustand, der Schließung der Grenzen und der Isolation. Sie bestrafen alle, die den Widerstand unterstützen. Ich habe von vielen Leuten gehört, daß sie einen Anruf der IDF bekamen, sie müßten ihr Haus verlassen und ihre ganze Familie mitnehmen, weil das Gebäude angegriffen würde. Auf die Frage, warum das Haus angegriffen werde, obgleich man nichts mit der Hamas zu tun habe, erhielten sie zur Antwort, sie hätten es geduldet, im selben Gebäude mit einem "Terroristen" zu wohnen. Ziel dieser Strafmaßnahme war es nicht zuletzt, die Bewohner bei ihrer Rückkehr mit dem zerstörten Haus zu konfrontieren, um den Widerstand zu brechen. Man bestrafte die Menschen und wollte ihre Überzeugungen brechen. Dieses Bild wird wie eingebrannt im Bewußtsein der Menschen in Gaza bleiben.

Leider muß ich sagen, daß die Weitsicht der Israelis zu wünschen übrigläßt. Wir sprechen über ein politisches Problem und nicht einen geographischen Konflikt. Die Okkupation kann nicht durch Bestrafung akzeptabel gemacht werden. Die Menschen sind begierig danach, frei zu werden, sich frei zu bewegen, frei zu sprechen, frei zu essen, frei zu träumen. Etwas anderes wollen wir nicht. Wir fordern nur unsere Freiheit. Die internationale Gemeinschaft, die 1948 den Staat Israel geschaffen hat, schuf bei der Teilung Palästinas zwei Staaten. Warum sorgt sie sich nur um den einen und unterdrückt den anderen? Als wir von einem eigenen Staat sprachen, wurde die Zwei-Staaten-Lösung international als Lösung akzeptiert. Warum kann man nicht auch diesen anderen Staat unterstützen? Fragt man die Palästinenser, wird man stets dieselbe Antwort bekommen: Sie unterstützen den Widerstand, weil es um grundlegende Rechte geht.

Dr. Basem Naim - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Langjähriges Regierungsmitglied zur Position der Hamas
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

ML: Die Kämpfer des Widerstands entstammen allen Fraktionen, allen Altersstufen und allen sozialen Schichten. Sie repräsentieren also die Bevölkerung. Warum sollte die Bevölkerung sie nicht unterstützen? Wenn es eine Strategie der Kriegsführung war, diese Unterstützung zu brechen, hat sie offensichtlich ihr Ziel verfehlt.

BN: Sie verfehlt ihr Ziel, weil sie ein politisches Problem mit militärischer Gewalt lösen will. Es handelt sich ja nicht um die erste derartige Aggression, denn wir sprechen über 66 Jahre dieses Konflikts. Es ist nicht nur das Problem der Hamas, die noch gar nicht so alt ist.

ML: Dieser Konflikt existierte ja sogar schon vor 1948.

BN: So ist es. Wir sollten uns daher nicht auf die Hamas und den islamischen Widerstand konzentrieren. Unsere Botschaft ist klar: Wir sind ein Volk unter Besatzung und haben ein Recht auf Widerstand.

ML: Haben die Palästinenser überhaupt eine andere Wahl, wenn sie angegriffen werden, als sich zu verteidigen? Sie sind ja die schwächere Seite in diesem Konflikt. Haben sie eine Chance, nicht nur zu reagieren, sondern eine politische Lösung herbeizuführen, oder ist das der israelischen Seite vorbehalten, weil sie die stärkere ist?

BN: Überlegene Waffentechnologie ist nicht der einzige Faktor in diesem höchst komplizierten Konflikt.

ML: Israel ist auch ökonomisch überlegen und wird von den USA und den europäischen Staaten unterstützt.

BN: Wir stellen nicht in Abrede, daß Israel insgesamt stärker ist und die überlegene Waffengewalt ins Feld führen kann. Die Geschichte lehrt jedoch, daß nirgendwo auf der Welt militärische Gewalt auf Dauer ausreichte, um Menschen zu besiegen, die für ihre Freiheit kämpfen: Vietnam, Korea, der französische Widerstand gegen die Nazis, Spanien gegen die Faschisten, die Algerier gegen Frankreich. Israels Stärke ruht auf zwei Pfeilern, nämlich auf der militärischen Gewalt und dem Image in Europa und den USA. Das Image eines demokratischen Staates, der die Menschenrechte respektiert, der ein Teil des Westens ist, hat diesmal schweren Schaden genommen. Wenn man Meinungsumfragen durchführt, wird man feststellen, daß Israels heutiges Ansehen nicht mehr mit dem vor 20 Jahren zu vergleichen ist. Heute demonstrieren die Menschen selbst vor dem Weißen Haus, in New York, London und deutschen Städten gingen Tausende auf die Straße.

Und selbst wenn Israel militärisch überlegen ist, hat auch diese Übermacht ihre Grenzen. Man hat Tausende Häuser zerstört, ganze Familien, Kinder getötet. Das läßt sich nur noch mit Chemiewaffen oder der Atombombe steigern. Aber sie können Gaza nicht mit Bodentruppen einnehmen. Sie haben das nahe der Grenze versucht, aber dabei hohe Verluste davongetragen. Sie können die Städte angreifen, aber sie nicht erobern und so den Sieg erringen. Es gab Zeiten, in denen Israel den ganzen Gazastreifen mit zwei Jeeps und acht Soldaten kontrollieren konnte. Heute kann ein Jeep nach Ramallah fahren, einen Menschen festnehmen und wieder verschwinden. Doch letzten Endes hat jede militärische Gewalt ihre Grenzen. Die Amerikaner haben Afghanistan vierzehn Jahre lang besetzt, doch am Ende nichts erreicht. Nun versuchen sie, wieder abzuziehen, da sie jeden Tag Soldaten verlieren, zuletzt einen ihrer ranghöchsten Offiziere, der von einem Afghanen getötet wurde, den sie selbst ausgebildet haben. Sie haben den Irak okkupiert und mußten wieder abziehen. Man kann militärische Übermacht nicht immer auf Bodenkämpfe übertragen.

Wir sind die schwächere Seite in diesem Konflikt, doch wir haben das Recht als Volk unter Besatzung, uns zu verteidigen. Wir werden von Millionen Menschen in aller Welt unterstützt, nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Europa und selbst in Lateinamerika. Zudem haben die Israelis ihre Schwächen auch im eigenen Land.

ML: Welche Möglichkeiten stehen der Hamas als politische Partei offen, dieses politische Problem zu lösen?

BN: Die Hamas hat im Jahr 2006 akzeptiert, Teil des politischen Prozesses zu werden. Sie hat an den Wahlen teilgenommen und sie gewonnen. Das Wahlergebnis wurde jedoch nicht akzeptiert. Das ist nicht unser Fehler. Zweitens haben wir durchweg gesagt, daß wir unter einer Besatzung leben und Freiheit und Unabhängigkeit fordern. Wir haben zwei politische Optionen: Abbas verhandelt seit 20 Jahren ohne Ergebnis mit den Israelis. Wenn er ein unabhängiges Palästina in den Grenzen von 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt und das Rückkehrrecht erreichen könnte, würde ihm die Hamas keinen Knüppel zwischen die Beine werfen und zustimmen. Oder wir können mit Israel einen Waffenstillstand für zehn oder zwanzig Jahre vereinbaren, wenn wir im Gegenzug ein Territorium in den Grenzen von 1967, Freiheit und Unabhängigkeit bekommen, wie dies von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert worden ist. Nach 20 Jahren haben wir dann eine neue Generation.

Man kann von einem Volk nicht verlangen, aufzugeben und die weiße Flagge zu hissen, während man seine Familien und Kinder tötet, seine Häuser zerstört. Gib dem Volk eine Chance, sich in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren wieder aufzurichten, eine neue Vision zu entwerfen, die Wirtschaft zu entwickeln, in Freiheit zu leben. Wir haben nichts zu verlieren. Wenn wir ein richtiges Leben hier in Gaza und im Westjordanland führen können, uns frei bewegen, frei sprechen und frei arbeiten können, verfügen wir über etwas, das uns von jeder Form von Gewalt fernhält.

ML: Kann ich Sie mit der Aussage zitieren, daß die Hamas Israel unter bestimmten Bedingungen einen zwanzigjährigen Waffenstillstand anbietet?

BN: Wir können einen Waffenstillstand von zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren akzeptieren, ohne gegenseitige Anerkennung und mindestens in den Grenzen von 1967, in Freiheit und unter Wahrung des Rückkehrrechts.

ML: Seit Juni gibt es eine neue Einheitsregierung von Fatah und Hamas. Welche Prioritäten setzt die Hamas in dieser Regierung?

BN: Wir fühlen uns der Einheitsregierung verpflichtet. Es war eines der Ziele des Widerstands, dieser Regierung eine Chance zu geben, in Gaza und im Westjordanland frei zu arbeiten. Die Situation vor dem Angriff auf den Gazastreifen war jedoch eine andere als die hinterher. Jetzt sind 30.000 Häuser, die meisten Schulen und Krankenhäuser zerstört. Das erste Ziel der Regierung wird daher der Wiederaufbau des Gazastreifens und die Unterbringung der rund 700.000 Menschen sein, die jetzt auf der Straße, in Notunterkünften oder bei Verwandten leben.

ML: Abdallah Frangi sprach gestern mir gegenüber von 600.000 obdachlosen Menschen.

BN: Es ist nicht möglich, genaue Zahlen zu nennen. Beispielsweise hat mein Bruder vier Familien in seinem Haus aufgenommen. Das geschieht auf informellen Wegen über Nachbarn. Es mögen insgesamt 600.000, 700.000 oder noch mehr Menschen ohne eigene Wohnung sein. Die Unterbringung dieser Menschen, der Wiederaufbau von Häusern und Schulen, die Wiederherstellung der Infrastruktur wie Strom, Wasser und Abwasser sind die vordringlichsten Ziele.

ML: Sind diese Ziele zu erreichen, solange die Blockade fortbesteht?

BN: Mit Sicherheit nicht. Man kann nicht 30.000 Häuser wiederaufbauen, wenn man sich in einem abgeriegelten Territorium befindet. Man braucht Baustoffe und viele andere Dinge für den Wiederaufbau, wobei man ja darüber hinaus auch neue Möbel und andere Einrichtungsgegenstände benötigt.

ML: Auf internationaler Ebene wird die Hamas häufig wegen ihrer Kooperation mit Katar und der Türkei, beides Verbündete der USA, kritisiert. Die USA wiederum sind der engste Verbündete Israels. Warum fokussiert sich die Hamas auf solche Partner? Ich habe diese Kritik auch hier in Gaza gehört, daß man sich damit auf Kräfte einläßt, die den Widerstand nicht langfristig unterstützen, weil sie strategische Partner der USA sind.

BN: Dieser Konflikt ist sehr kompliziert. Es gibt ein breites Spektrum palästinensischer Fraktionen, das von jenen, die zur Zusammenarbeit mit Israel bereit sind, bis zu entschiedenen Gegnern Israels reicht. Vor Jahren kooperierte die Hamas mit der Hisbollah und dem Iran. Auch das wurde kritisiert. Als wir aus Syrien vertrieben wurden, war nur Katar bereit, uns aufzunehmen. Die Palästinenser haben immer versucht, sich in der Region neutral zu verhalten. Wir sind bereit, mit jedem Land, jeder Gesellschaft, jeder Institution, die bereit ist, uns zu unterstützen, ohne Vorbedingungen zu kooperieren. Das bedeutet, daß wir mit Katar zusammenarbeiten. Zuvor hatten wir gute Beziehungen zum Iran, zur Hisbollah, zu Algerien. Wir sind ein Volk unter Besatzung. Wir haben gute Beziehungen zu vielen Ländern Lateinamerikas, von denen wiederum viele gute Beziehungen zu Israel haben. Solange man mit irgendeiner Seite zusammenarbeitet, ohne dafür einen Preis zu zahlen, ist es meines Erachtens keine falsche Strategie.

Wenn sich ein Land wie die Türkei oder Katar bereiterklärt, uns zu unterstützen, damit wir unsere Häuser und unsere Infrastruktur wiederaufbauen und Gehälter auszahlen können, während viele andere Länder nichts dergleichen tun - welche andere Wahl haben wir da? Für dieses Geld zahlen wir keinen politischen Preis. Katar hat zu keinem Zeitpunkt verlangt, daß wir den Widerstand einstellen, keine Raketen mehr abfeuern oder Gesprächskanäle zu Israel öffnen. Wenn ein Land wie die Türkei uns hilft oder der UN-Sicherheitsrat uns diplomatisch unterstützt, sagen wir nicht nein. Es gibt ja auch Fraktionen der PLO, die Israel anerkennen und ausgezeichnete Beziehungen zu den USA haben. Alle Fraktionen der PLO akzeptieren die Position der PLO-Führung.

ML: In der EU und in Deutschland wird die Hamas als terroristische Organisation eingestuft. Hat das negative Folgen für die Hamas und wie ist diese Einstufung aus Ihrer Sicht zu erklären?

BN: Das beeinträchtigt die Hamas natürlich und schränkt unsere Bewegung in Richtung der internationalen Gemeinschaft, Europas und des Westens ein. Wir können die Implikationen dieser Situation nicht bestreiten. Es stellt sich jedoch die Frage, wie Terrorismus definiert wird. Warum ist es kein Terrorismus, die Kämpfer in Syrien mit Waffen zu unterstützen? Warum ist es kein Terrorismus, den Iran mit allen erdenklichen Waffen anzugreifen? Warum ist es kein Terrorismus, Libyen anzugreifen und dort gewaltsam einen Regimewechsel herbeizuführen? Warum ist die Okkupation Afghanistans kein Terrorismus? Ich habe zwischen 1980 und 1985 in Deutschland erlebt, wie dieselben Mudschaheddin in Afghanistan, die man zuvor unterstützte, plötzlich als Terroristen bezeichnet wurden. Warum ist es erlaubt, daß 2000 Amerikaner und viele Europäer nach Israel kamen und als Freiwillige mit der israelischen Armee zusammenarbeiteten, um uns anzugreifen? Warum wird das eine akzeptiert und das andere als Terrorismus bezeichnet?

Nach internationalem Recht sind wir ein Volk unter Besatzung und haben das Recht auf Selbstverteidigung. Wenn man Bewegungen wie die Hamas mit einer glaubwürdigen Führung und politischen Zielen isoliert und angreift, um sie zu zerstören, ist die Alternative nicht Fatah, sondern gesteigerter Extremismus. Die Hamas ist eine nationale Befreiungsbewegung und begrenzt ihren Kampf daher auf die Palästinensergebiete. Wir kämpfen gegen Israel, haben aber keine Probleme mit Juden und greifen sie auch nicht irgendwo anders auf der Welt an. Wir sind gemäß internationalem Recht Freiheitskämpfer und keine Terroristen.

ML: Viele Menschen in Deutschland verstehen nicht, warum aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel abgefeuert werden. Können Sie zu den Hintergründen dieser Vorgehensweise Stellung nehmen?

BN: Es ist unser Recht, uns gegen die Besatzungsmacht zu verteidigen. Wir haben 20 Jahre lang politische Verhandlungen geführt, doch das Ergebnis waren noch mehr Siedlungen, Verhaftungen, Landraub. Es waren fruchtlose Verhandlungen. Warum dürfen uns die Israelis von allen Seiten und mit allen erdenklichen Waffen angreifen? Die USA haben erklärt, daß die Zahl der getöteten Zivilisten in Gaza nicht akzeptabel sei. Welche Zahl wäre denn akzeptabel? Der politische Prozeß ist gescheitert. Führer wie Yassir Arafat, die Frieden in der Region herbeiführen wollten, wurden getötet. Welche Wahl haben die Palästinenser noch? Im Westjordanland gibt es mehr Checkpoints, Festnahmen, Konfiszierungen von Land, und die Siedler machen, was sie wollen. Sie bauen weiter, greifen Moscheen an, töten Kinder. Die Israelis wissen, wer das Kind in Bethlehem getötet hat. Es war ein Rabbi mit seinen drei Söhnen. Sie bezeichneten ihn als geisteskrank. Vor zehn Jahren stieg ein Israeli in einen Bus voller Palästinenser und begann, mit einer Pistole auf sie zu schießen. Einige junge Männer überwältigten und töteten ihn. Sie sitzen noch heute im Gefängnis. Das fand in Israel statt.

Die Europäer geben Israel grünes Licht, weiter Massaker und Verbrechen zu verüben. Die Israelis manövrieren sich jedoch in eine Sackgasse. Sie glauben, mit militärischen Mitteln alles kontrollieren zu können. Sie werden scheitern und unser Land früher oder später verlassen. Das ist die Lehre der Geschichte. In Südafrika endete nach 400 Jahren die Apartheid. Sie werden gehen, und wenn sie es heute tun, haben sie eine Chance, friedlich in dieser Region zu leben. Wenn sie es nicht tun, müssen sie womöglich einen Preis für ihre Ideologie zahlen.

Was die deutschen Medien betrifft, möchte ich abschließend sagen, daß wir nicht den Preis für deutsche oder europäische Verbrechen zahlen sollten. Wenn sie Verbrechen an Juden begangen haben, ist das nicht unser Problem. Sie müssen den Preis zahlen und das Problem lösen. Das darf nicht auf unsere Kosten geschehen. Es ist nicht akzeptabel, die heutigen Verbrechen der Israelis damit zu rechtfertigen, daß sie den Holocaust überlebt haben. Es ist nicht akzeptabel, daß heute Massaker verübt und Palästinenser in Ghettos gefangengehalten werden und das damit gerechtfertigt wird, daß Juden vor 70 Jahren Ghettos überlebt haben. Das ist nicht unsere Schuld. Wir können das nicht als Entschuldigung gelten lassen.

ML: Dr. Naim, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Portrait - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für ARD, dpa, Neues Deutschland und taz.

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Quelle:
Martin Lejeune
Freier Journalist, Gaza-Stadt / Berlin
Das Interview mit Dr. Basem Naim erscheint mit der freundlichen Genehmigung von Martin Lejeune
in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2014