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LIBYEN/013: Die NATO zerstört ein weiteres Land (Pakistan Observer)


Pakistan Observer - 26. August 2011

Die NATO zerstört ein weiteres Land
Geopolitische Anmerkungen aus Indien

Von M. D. Nalapat (*)


Vor einigen Jahren schrieb dieser Kolumnist auf der indischen Internetseite www.bharat-rakshak.com über die NATO-Armeen, sie ähnelten einer Horde Affen. Eine solche Streitmacht könne - auf ein umgrenztes Gebiet losgelassen - enormen Schaden anrichten, sei aber nicht in der Lage, wieder Ordnung in die angerichtete Zerstörung zu bringen.

Genau das hat die Welt im Irak erlebt. Trotz der über ein Jahrzehnt währenden Sanktionen, die auf direktem Wege fast eine Million zusätzliche Menschenleben in diesem Zeitraum kosteten (aufgrund des Mangels, der durch die von der UNO abgesegneten Maßnahmen entstand), war das Regime von Saddam Hussein in der Lage, die Menschen im Irak mit Nahrungsmitteln, Energie und Wohnraum zu versorgen, wohingegen das Land und seine Bevölkerung acht Jahre nach der "Befreiung" durch führende NATO-Mitglieder schlechter dran sind als vor der Invasion von 2003, die zur Hinrichtung Saddam Husseins führte.

Was Afghanistan angeht, befindet sich, nachdem die modernste Militärmacht der Welt ein Jahrzehnt lang gegen einen zusammengewürfelten Haufen Aufständischer gekämpft hat, über ein Drittel des Landes wieder in Händen der Taliban, während ein Fünftel des verbliebenen an der Schwelle des gleichen Schicksals steht. Aufgrund ihres Unvermögens, diese Macht zu unterwerfen, klammert sich die NATO verzweifelt an Pläne, die "gemäßigten Taliban" einzuspannen - der Begriff ist schon ein Widerspruch in sich.

Serbien muß sich noch von seiner kurzen Schlacht mit der NATO erholen, und nun gesellt sich Libyen der wachsenden Liste der Staaten zu, die durch die Beachtung der NATO zerstört wurden.

Offensichtlich zögerten die hohen Tiere einer Militärallianz, die zu dem Zweck geschaffen worden war, in Europa gegen die UdSSR zu kämpfen, den Laden zu schließen. Deshalb wurde die NATO von ihnen neu als militärisches Instrument für eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten gestaltet, insbesondere gegen "asymmetrische Bedrohungen" - ein Begriff, mit dem Länder bezeichnet werden, die über eine schlecht aufgestellte Armee verfügen.

Sowohl Saddam Hussein als auch Muammar Ghaddafi leisteten dem Diktat der NATO-Mächte Folge und verzichteten auf mögliche in ihrem Besitz befindliche Massenvernichtungswaffen - im Gegensatz zu Syrien und Nordkorea, zwei Ländern, die infolge dessen von der NATO unbehelligt blieben. Offenkundig sind die Militärstrategen der Allianz nur gegen jene Gegner zu handeln bereit, die ihre konventionelle Schlagkraft soweit abgebaut haben, daß sie keine ernstzunehmende Gefahr mehr für die Allianz darstellen. Wären George W. Bush und Tony Blair wirklich von den eigenen Behauptungen überzeugt gewesen, daß Saddam Hussein im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei, hätten sie niemals ihre Streitkräfte so in den Irak geschickt, wie sie es taten.

Wie in diesen Kolumnen angemerkt, war Ghaddafis Schicksal besiegelt, als er dem Rat seiner von Europa geblendeten Söhne folgte, abzurüsten und das Überleben seines Regimes in die Hände der NATO zu legen. Seit 2003 baute Muammar Ghaddafi sein MVW-Programm ab, stimmte seine Geheimdienste mit denen der NATO ab und akzeptierte im allgemeinen jede der ihm gemachten Vorschriften.

Wäre die NATO ein Bündnispartner gewesen, der Gegenseitigkeit respektiert, hätte all das dazu führen müssen, daß die NATO seinen Konflikt mit Teilen der Bevölkerung ignoriert, so wie es im Fall Bahrains zu sehen war. Dort ließ man der Familie zur Klärung der Situation freie Hand.

Stattdessen änderte sich die Lage, als Nicolas Sarkozy von französischen Banken informiert wurde, daß Oberst Ghaddafi die enormen Einlagen Libyens abziehen und an Institute in China überweisen könnte, und als er erfuhr, daß sich mehrere Verträge, die französische Firmen erwartet hatten, in Luft auflösen könnten, weil Ghaddafi weniger für französische Waffen und andere Spielzeuge und mehr für das Sozialwesen ausgeben wollte. An Libyen mußte ein Exempel statuiert werden, damit nicht andere arabische Regierungen auf die Idee kommen, ihr Geld als Reaktion auf den Verlust allein von 1,3 Billionen US-Dollar des Golf-Kooperationsrats (GKR) und seiner Bevölkerung aufgrund des 2008 von Banken und anderen Finanzinstituten mit Sitz im NATO-Block begangenen Finanzbetrugs an einen anderen Ort als innerhalb des NATO-Blocks zu verlagern.

Heute ist es schwer für Unternehmen mit Sitz auf NATO-Gebiet, das Monopol, dessen sie sich manchmal bereits seit Generationen erfreuten, zu behalten. Insbesondere chinesische Unternehmen machen ihnen auf zahlreichen Märkten Konkurrenz, wie auch Firmen mit Sitz in anderen Gebieten Asiens einschließlich Südkorea und Indien. Als Konsequenz daraus verlassen sie sich jetzt auf ihre militärische Schlagkraft, um sich ihre Vorrechte zu sichern. Das wurde im Fall des Irak und Libyens auf dankenswert leicht zu durchschauende Weise deutlich. Im letzteren Falle, auch wenn die Schlacht noch nicht vorüber ist (und ein Ende auch wenig wahrscheinlich), sind Ölkonzerne wie ENI und Total intensiv damit beschäftigt festzustellen, welche Anteile sie aufgrund der lokalen Siege des von Sarkozy ernannten "Nationalen Übergangsrates" (NR) erwerben können.

Interessanterweise hat die UNO den NR, auch wenn es sich dabei um eine Schöpfung aus Paris handelt, als rechtmäßige Regierung Libyens anerkannt. Tatsächlich sieht es so aus, als habe sich die UNO im 21. Jahrhundert in die Zeit von 1919 bis 1939 zurückentwickelt, als der Völkerbund den dominierenden Staaten "Mandate" erteilte, die ihnen erlaubten, über die schwächeren zu herrschen. Im vergangenen Jahrzehnt wurden im Fall des Irak, des Kosovo und Afghanistans ähnliche Mandate erteilt. Im Fall Libyens legitimierte die UNO Präsident Sarkozys Übernahme des libyschen Staates durch die Gründung des NR auf gleiche Weise unter erstaunlicher Abweichung von ihren Prinzipien.

Wie dem auch sei, genau wie auch anderenorts folgen die Tatsachen vor Ort möglicherweise nicht dem von der NATO bevorzugten Skript. Im Falle Libyens warnt dieser Kolumnist seit fünf Monaten davor, daß die NATO-Intervention nur einen Bürgerkrieg und die fortschreitende Zerstörung einer Infrastruktur nach sich ziehen werde, die Libyen zu einem der reicheren Staaten der Region machte.

All das steht heute auf dem Spiel, während das Chaos in Form bewaffneter Banden hereinbricht, die von der NATO auf das Land losgelassen wurden. Es wird allerdings kaum eine Chance geben, daß die für eine solche Katastrophe Verantwortlichen je von sogenannten "internationalen" Gremien zur Verantwortung gezogen werden, deren Großteil sich so fest unter der Kontrolle der NATO-Mächte befindet, wie ihre eigene Wirtschaft es nicht ist. In den vergangenen zehn Jahren sind durch die NATO-Operationen zehntausende Zivilisten gestorben, ohne den leisesten Protest von seiten des Internationalen Gerichtshofs oder des Menschenrechtsrates. Eine derartige Untätigkeit führt zu dem gleichen Verlust an Respekt vor dem System der UNO, wie es in der Vergangenheit mit dem Völkerbund geschah, von dem man meinte, er würde von einer kleinen Gruppe kontrolliert, um den eigenen Zwecken zu dienen.

Sei es nun Libyen oder irgend ein anderes Land, jedes hat das Recht, seine gesellschaftliche Dynamik auf eigene Weise zu entwickeln. Wenn ein Land nicht eine Bedrohung für andere darstellt, wie es mit dem von den Taliban kontrollierten Afghanistan der Fall war, ist es kein zulässiges Ziel für internationales Handeln.

Im Fall Libyens nahm Oberst Ghaddafi seiner Armee die Massenvernichtungswaffen und kooperierte vollständig mit dem von den USA geführten Krieg gegen den Terrorismus. Sein Schicksal ist zu einer Lektion für andere geworden, die möglicherweise versucht sind, seinem Pfad der Versöhnung mit der NATO zu folgen.

Es wundert wenig, daß die anderen Regime im Focus der NATO - insbesondere Syrien und der Iran - keine Eile haben, das libysche Beispiel nachzuahmen. Die NATO wäre besser beraten gewesen, Großmut zu beweisen und ihre Bereitschaft, Vereinbarungen guten Glaubens einzuhalten, als zu versuchen, einem Führer das Ende zu bereiten, der öffentlich und vollständig das Kriegsbeil begraben hat.

Es hätte ein Ansporn für Syrien, den Iran und sogar Nordkorea sein können, dem Beispiel zu folgen und damit die Welt zu einen sichereren Ort zu machen. Heute glauben - verständlicherweise - alle drei Staaten absolut nicht an die ehrlichen Absichten der NATO-Mächte und gehen infolgedessen jeder seinen eigenen Weg. Bringt man das in Verbindung mit der trostlosen wirtschaftlichen Lage, die innerhalb der NATO festzustellen ist (wovon ein Großteil auch durch den enormen Anstieg der Militärausgaben infolge der Abenteuer im Ausland verursacht wurde), sind sogar die mittelfristigen Prognosen düster, auch wenn angesichts des Vorrückens der NATO-Stellvertreter in die Stadt Tripolis lächelnd gratuliert wird.

Anders als während des Vietnam-Krieges, als das Pentagon seine Beschaffung umfassend über Asien organisierte, bemühte sich das Team Bush/Cheney, US-Unternehmen das Monopol über die notwendigen Versorgungsgüter zu übertragen, sogar bei Dingen die militärisch so wenig ausschlaggebend sind wie Zahnpasta. Das Ergebnis einer solchen Autarkiepolitik war ein enormer Ausgabenanstieg; die USA gaben allein über eine Billion Dollar für ihre Kriege mit dem Irak und Afghanistan aus.

Diese Art, den Wettbewerb mit Hilfe des Staatsapparates zu blockieren, findet sich allerdings in einigen Bereichen. Die EU beispielsweise hat indische Pharmazeutika trotz der niedrigen Kosten und der hohen Qualität der Medikamente, die in Indien produziert werden, von ihrem Markt ausgeschlossen.

Gerade hat die EU Hochtechnologieprodukte von Samsung verbannt. Es wird eine Zeit kommen, in der Asien wegen des häufigen Verbots asiatischer Produkte aus vorgeschobenen Gründen im Gegenzug deutsche Autos und französische Rüstungsgüter verbietet. Die USA und die EU können ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit Hilfe der Protektion lösen. Statt jeden Grundsatz zu verletzen, den sie seit Jahrzehnten predigen, müssen sie ihren Bürgern den Zugang zu den Vorzügen eines globalen Marktes gewähren.

Was die NATO angeht, so wird sich bald herausstellen, daß sich die Möglichkeit, eine abgewrackte Streitmacht mit massiven Luftschlägen zu besiegen, nicht zwingend in ein monopolistisches Vorrecht über die libyschen Ölreserven ummünzen läßt. Sollten China oder Indien mit besseren Konditionen aufwarten als italienische oder französische Unternehmen, werden die Menschen in Libyen dafür sorgen, daß ihre Regierung auf eine Weise handelt, die eher ihre Interessen schützt statt die der NATO. Der Einsatz von militärischer Macht zum wirtschaftlichen Vorteil hätte mit dem 19. Jahrhundert verschwunden sein müssen. Seine Renaissance im Irak und in Libyen ist ein beunruhigendes Anzeichen dafür, daß die NATO die Lektionen der Geschichte nicht gelernt hat.


(*) Madhav Das Nalapat ist Vizevorsitzender der Spitzenforschungsgruppe, Inhaber des UNESCO-Friedenslehrstuhls und Professor für Geopolitik an der Universität von Manipal, im Staat Harjana, Indien.


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

GKR - Golf-Kooperationsrat (Englisch: GCC - Cooperation Council for the Arab States of the Gulf)
MVW - Massenvernichtungswaffen
NR - Nationaler Übergangsrat (Englisch: NTC National Transitional Council)

UNESCO-Friedenslehrstuhl:
Absatz 1 der Präambel der Satzung der UNESCO:
"Der UNESCO-Lehrstuhl widmet sich den Themen kultureller Vielfalt, kulturellen Erbes sowie dem Nexus Frieden und nachhaltige Entwicklung."

Link zum englischen Originaltext
http://pakobserver.net/detailnews.asp?id=111013
NATO Destroys Yet Another Country


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Quelle:
Pakistan Observer - 26. August 2011
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Mit freundlicher Genehmigung des Pakistan Observer
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2011