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SYRIEN/109: Dominostein Damaskus - das falsche Pferd ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. August 2016 (german-foreign-policy.com)

Ordnungsmacht im Krisengürtel


ALEPPO/BERLIN - Mit neuen diplomatischen Vorstößen zur Beendigung der Schlacht um Aleppo sucht Außenminister Frank-Walter Steinmeier den deutschen Einfluss im Nahen Osten zu stärken. Seine Bemühungen, Russland zu einer Waffenruhe zu drängen und eine Luftbrücke zur Versorgung eingekesselter Stadtteile zu errichten, erfolgen zu einer Zeit, zu der Berlin offiziell ankündigt, "die globale Ordnung aktiv mitzugestalten". Sie geben sich humanitär, fordern - in einer Phase des Krieges, in der ein Sieg der Regierungstruppen möglich schien - eine Einstellung der Gewalt; ganz im Gegensatz dazu hatte Berlin in früheren Kriegsphasen, als die Aufständischen sich in der Offensive befanden, den Konflikt etwa mit der Entwicklung großer Aufbaupläne für Syrien nach Assads Sturz befeuert. Während Steinmeier offiziell für Waffenruhe wirbt, weiten enge Verbündete der Bundesrepublik die Aufrüstung jihadistischer Milizen für die gegenwärtige Schlacht um Aleppo aus. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International lässt die Folgen der Unterstützung für Jihadisten, die enge Verbündete Berlins schon seit Jahren mit stillschweigender Zustimmung der Bundesregierung leisten, deutlich erkennen: In den von ihnen kontrollierten Teilen Syriens sichern die Milizen ihre Herrschaft mit Körperstrafen bis hin zu Amputation und Steinigung, mit willkürlichen Verschleppungen, Folter und Mord.


"Führung übernehmen"

Hintergrund der jüngsten diplomatischen Initiative von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Beendigung der Schlacht um Aleppo sind die Bestrebungen Berlins, den deutschen Einfluss im Nahen und Mittleren Osten systematisch zu stärken. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten gleich mehrmals offiziell bekräftigt, ihre weltpolitischen Aktivitäten ausweiten zu wollen. So heißt es im neuen Bundeswehr-"Weißbuch", Deutschland sei "bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen ... und Führung zu übernehmen": Man verfolge das Ziel, "die globale Ordnung aktiv mitzugestalten".[1] Steinmeier ist im Juni mit einem Namensartikel in der US-Zeitschrift "Foreign Affairs" hervorgetreten, in dem er der Bundesrepublik eine "globale Rolle" zuschrieb und sie als "zentralen Spieler" in der Weltpolitik einstufte.[2] In einem Strategiepapier hat er gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault erklärt, die EU verfolge einen "Gestaltungsanspruch" nicht nur in ihrer "direkten Nachbarschaft", sondern "weltweit".[3] Als Probe aufs Exempel dafür, ob der offen erklärte deutsch-europäische Machtanspruch sich einlösen lässt, gilt dabei die Frage, ob es Berlin gelingt, in den Krisen und Kriegen rings um die EU - häufig ist von einem "Krisengürtel" die Rede [4] - zur führenden Ordnungsmacht zu werden. Im Ukraine-Konflikt dient diesem Vorhaben das sogenannte Minsker Format, dem die USA nicht angehören. Im Libyen-Krieg sucht die Bundesregierung ihre Stellung über führende Positionen im Rahmen der UNO zu stärken. Von maßgeblichem Einfluss ist sie dort freilich noch weit entfernt.


Steinmeiers diplomatische Offensive

Dasselbe gilt erst recht für den Syrien-Krieg, für dessen Lösung nach verbreiteter Auffassung der Schlüssel bei den Vereinigten Staaten und Russland liegt. Außenminister Steinmeier bemüht sich in diesen Tagen, mit einer Initiative zur humanitären Hilfe für die Bevölkerung Aleppos diplomatisch in die Offensive zu kommen. Berlin verhandle mit Washington, Moskau und der UNO darüber, wie "humanitäre Zugänge" zu der umkämpften nordsyrischen Stadt geschaffen werden könnten, teilte das Auswärtige Amt am Sonntag mit.[5] Notfalls könne "eine Versorgung aus der Luft in Erwägung gezogen werden", "vor allem bei medizinischen Gütern"; das sei ein schon in der Stadt Deir ez-Zor erprobtes Verfahren. Am gestrigen Montag hat Steinmeier bei Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Jekaterinburg erneut auf eine Waffenruhe in Aleppo gedrungen, ist damit allerdings nicht erfolgreich gewesen. Als "positive Nachricht" werte er, dass "die USA und Russland über eine humanitäre Aktion für Aleppo" berieten [6], teilte Steinmeier anschließend mit - ein Eingeständnis, im Syrien-Krieg weiterhin von maßgeblichem Einfluss ein ganzes Stück entfernt zu sein. Zuvor hatte er Lawrow angeboten, nach einem möglichen Ende des Krieges in Syrien eng mit Moskau zu kooperieren: "Wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten".[7] Das Lockmittel verfehlte zumindest kurzfristig das Ziel, russische Zugeständnisse in der Schlacht um Aleppo zu erreichen.


Nützliche Jihadisten

Die Schlacht um Aleppo zeigt unterdessen zum wiederholten Male, wie die NATO-Staaten und ihre engsten mittelöstlichen Verbündeten aus geostrategischen Gründen Jihadisten stärken. Ende Juli schienen Syriens Regierungstruppen und die mit ihnen verbündeten Milizen etwa aus Iran und dem Libanon mit der Einkesselung östlicher Stadtteile Aleppos vor einem womöglich entscheidenden militärischen Erfolg zu stehen; der Fall der Stadt hätte insbesondere die jihadistischen Milizen, die sich in Aleppo festsetzen konnten, auf die ländlichen Gebiete Nordsyriens zurückgeworfen und ihre strategische Stellung empfindlich geschwächt. Anfang August starteten mehrere Milizen, darunter der in Jabhat Fatah al Sham umbenannte Al Qaida-Ableger Jabhat al Nusra, eine Gegenoffensive, die darauf abzielte, den Belagerungsring zu durchbrechen. "Die Wirksamkeit der Gegenoffensive hängt von dem Ausmaß der Hilfe ab, die ihre Unterstützer zu leisten bereit sind", urteilte der Mittelost-Experte Sharif Nashashibi.[8] Wenig später konstatierten Beobachter, der darauf folgende halbwegs erfolgreiche Vorstoß der Jihadisten sei, wie nicht zuletzt zahlreiche online einsehbare Videos belegten, durch "neue Waffen, allen voran Grad-Raketenwerfer und Panzerabwehrraketen ... möglich gemacht" worden [9]; die Lieferungen könnten kaum anders als über das Territorium des NATO-Partners Türkei abgewickelt worden sein. Zudem hat, wie Nashashibi erläutert, die offizielle Trennung der Miliz Jabhat Fatah al Sham von Al Qaida, wenngleich sie nicht mit einer politischen Kurskorrektur verbunden ist, es den saudischen Gönnern der Organisation erleichtert, sie wieder stärker zu unterstützen: Zuletzt hatte es Probleme gegeben, weil Saudi-Arabien im Jemen in einen bewaffneten Konflikt mit Al Qaida geraten ist.[10] Die neue Stärke von Jabhat Fatah al Sham spricht dafür, dass auch saudische Lieferungen an die Jihadisten jetzt wieder umfangreicher fließen. Wie immer wieder im Verlauf des Syrien-Krieges (german-foreign-policy.com berichtete [11]) hat Berlin keine Einwände: Die Aufrüstung der Jihadisten, die in Europa und Nordamerika wegen ihrer Terrorattacken aufs Schärfste bekämpft werden, schwächt, wenn sie in Syrien erfolgt, den Gegner Assad.


Körperstrafen und Exekutionen

Welche Folgen die Kooperation mit Jihadisten hat, die vermittelt über den NATO-Partner Türkei und enge Verbündete wie etwa Saudi-Arabien erfolgt, hat erst kürzlich ein Bericht von Amnesty International gezeigt. Darin dokumentiert die Menschenrechtsorganisation Herrschaftspraktiken, wie sie nicht nur Jabhat al Nusra/Jabhat Fatah al Sham, sondern auch andere, von Staaten wie den USA, Großbritannien oder Frankreich aufgerüstete Milizen an den Tag legen. Demnach haben die Milizen in den von ihnen kontrollierten Teilen der Stadt Aleppo und der angrenzenden ländlichen Region einen Supreme Judicial Council etabliert, der nach einer besonders harten Auslegung der Sharia Recht spricht. Demnach sind Körperstrafen wie Auspeitschen, Amputation und Steinigung vorgesehen; vorläufig werden sie jedoch mit Rücksicht darauf, dass in Syrien Krieg herrscht und unnötige Unruhe vermieden werden soll, nur zurückhaltend angewandt.[12] Berichten zufolge werden Homosexuelle und Frauen, die außerehelichen Geschlechtsverkehr hatten, mit dem Tode bestraft; die Hinrichtung einer Frau ist per Video dokumentiert. Der stellvertretende Leiter des Supreme Judicial Council bestätigte Amnesty International: "Todesurteile werden im Haftzentrum gemäß den Grundsätzen der Sharia vollzogen." Im Gouvernement Idlib wird Amnesty zufolge in den etwa von Jabhat Fatah al Sham und Ahrar al Sham kontrollierten Gebieten genauso verfahren.


Folter und Mord

Auch anderweitig setzen die Milizen ihre Herrschaft mit brutalsten Mitteln durch. Angehörige der kurdischsprachigen Minderheit etwa werden regelmäßig verschleppt, in illegalen Haftzentren festgehalten und bedroht; bei willkürlichem Beschuss des kurdisch geprägten Stadtteils Sheikh Maqsoud in Aleppo durch das Milizenbündnis Fatah Halab kamen von Februar bis April 2016 rund 800 Zivilisten zu Tode. Verschleppt werden regelmäßig auch Rechtsanwälte und Journalisten, die die jeweils herrschenden Milizen kritisieren; Amnesty International zufolge wurden von Anfang 2012 bis Juni 2016 in den Gouvernements Idlib und Aleppo mindestens 367 Medienleute entführt, wobei Amnesty damit rechnet, dass die wirkliche Zahl viel höher liegt - die Betroffenen schweigen jedoch aus Furcht vor Repressalien gegen sie und ihre Familien. Diverse Milizen foltern. "Ich habe von den Foltertechniken der Sicherheitsapparate der Regierung gehört und gelesen", berichtete ein Folteropfer Amnesty International: "Ich dachte, ich wäre sicher davor, da ich nun in einem von der Opposition kontrollierten Gebiet lebe. Ich habe mich geirrt. Ich wurde denselben Foltertechniken ausgesetzt, allerdings von Jabhat al Nusra."[13] Auch Proteste gegen die Milizenherrschaft werden mit brutalen Mitteln niedergeschlagen. Gegner der Milizen müssen damit rechnen, als tatsächliche oder angebliche Spione oder als tatsächliche oder angebliche Parteigänger der Regierung Assad umgebracht zu werden. Dazu bekannt hat sich unter anderem die Miliz Jabhat al Shamiya, die laut Amnesty International auch von NATO-Staaten und ihren Verbündeten unterstützt worden ist. Die Vorwürfe treffen weitere Milizen, die ebenfalls von NATO-Mächten oder mit ihrer Zustimmung aufgerüstet wurden. Für Berlin ist das freilich sekundär: Die Milizen sind die zuverlässigsten Kämpfer gegen die Regierung Assad und damit strategisch von entscheidendem Nutzen.


Anmerkungen:

[1] S. dazu Deutschlands globaler Horizont (I).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59411

[2] S. dazu Auf Weltmachtniveau.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59395

[3] S. dazu Die Europäische Kriegsunion.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59398

[4] S. dazu Die Kriege der nächsten Jahre (I).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59364

[5] Außenminister Steinmeier zur Lage in Syrien.
www.auswaertiges-amt.de 14.08.2016.

[6] Lawrow weist Steinmeier ab.
www.handelsblatt.com 15.08.2016.

[7] Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Ural Federal University Jekaterinburg. 15.08.2016.

[8] Syria war: Rebels vow to intensify offensive in Aleppo.
www.aljazeera.com 03.08.2016.

[9] Inga Rogg: Wie es zum Erfolg der Rebellen in Aleppo kam.
www.nzz.ch 14.08.2016.

[10] Sharif Nashashibi: The ramifications of the Nusra's split from al-Qaeda.
www.aljazeera.com 07.08.2016.

[11] S. dazu Vom Nutzen des Jihad (I),
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59123
Im Bündnis mit Al Qaida
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59343
und Das Al Qaida-Emirat.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59369

[12], [13] Amnesty International: "Torture was my punishment". Abductions, torture and summary killings under armed group rule in Aleppo and Idleb, Syria. London, July 2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2016

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