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WESTSAHARA/039: Marokko, Westsahara - Dissidenten im Gefängnis, keine fairen Gerichtsverfahren (HRW)


Human Rights Watch - 24. Januar 2011

Marokko/Westsahara - Dissidenten im Gefängnis, keine fairen Gerichtsverfahren

Ein gemischtes Bild der Menschenrechte im Königreich


Marokko hat eine lebendige Zivilgesellschaft und erfreut sich bei vielen Themen der Meinungsfreiheit, aber der Reformprozeß stockt insgesamt gesehen und besonders in Bezug auf die gerichtliche Unabhängigkeit.

Sarah Leah Whitson, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch

(New York) - Marokko hat 2010 trotz seines Rufs, regional führend bei den Menschenrechten zu sein, Regierungskritiker und Dissidenten aufgrund friedlicher Äußerungen ins Gefängnis gesteckt, erklärte Human Rights Watch heute anläßlich der Veröffentlichung ihres Weltberichts 2011.

Der 649 Seiten umfassende Weltbericht, die 21. Jahresübersicht der Organisation über die weltweite Menschenrechtspraxis, faßt die wichtigsten Menschenrechtsthemen in über 90 Ländern der ganzen Welt zusammen, darunter 16 im Nahen Osten und in Nordafrika. Das Kapitel über Marokko/Westsahara legt dar, daß mehrere saharauische Unabhängigkeitsaktivisten, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten 2010 eine Zeit hinter Gittern verbringen mußten, weil sie auf friedliche Weise ihre Meinung zum Ausdruck gebracht hatten. Darüber hinaus verurteilten marokkanische Gerichte Angeklagte in unfairen Verfahren, da sie ihnen nicht das Recht einräumten, Beweise vorzulegen, und Geständnisse zuließen, die nach illegaler Inhaftierung oder Folter erpreßt worden waren.

"Marokko hat eine lebendige Zivilgesellschaft und erfreut sich bei vielen Themen der Meinungsfreiheit, aber der Reformprozeß stockt insgesamt gesehen und besonders in Bezug auf die gerichtliche Unabhängigkeit", kommentierte Sarah Leah Whitson, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch.

Verhaftungen unter den Antiterrorgesetzen des Landes wurden routinemäßig von Beamten in Zivil durchgeführt, die sich nicht identifizierten. Die Gefangenen brachte man an geheime Haftorte, wo man sie scharf verhörte und zur Unterschrift unter Geständnisse zwang, die sie oft nicht lesen durften. Darüber hinaus bestätigte ein Berufungsgericht den Schuldspruch aller 35 Angeklagten im sogenannten Belliraj-Fall von 2008; darunter sind sechs politische Schlüsselfiguren, deren Verbindung zu der angeblichen terroristischen Verschwörung besonders dubios erscheint und die nun eine zehnjährige Haftstrafe absitzen.

Am 8. November 2010 kochte die Situation in der umstrittenen Westsahara-Region über, als marokkanische Sicherheitskräfte in ein provisorisches Zeltlager einfielen, das Saharauis einen Monat zuvor außerhalb der Stadt Al-Aaiun errichtet hatten. Die Protestierenden töteten an dem Tag, an dem diese das Lager niederrissen, mehrere Mitglieder der Sicherheitskräfte. Die Unruhen griffen auf die Stadt Al-Aaiun über, in der Protestierende öffentliche Gebäude in Brand steckten und Sicherheitskräfte zahllose Verdächtige verhafteten. Die Sicherheitskräfte verschafften sich Zutritt zu zahlreichen Wohnungen und prügelten schwer auf Saharauis ein, insbesondere auf jene, die sie in Gewahrsam nahmen. Über 150 verbleiben in Haft und warten auf die Gerichtsverhandlung über ihre angebliche Rolle in den gewaltsamen Auseinandersetzungen; 20 von ihnen kommen vor ein Militärgericht.

Gegen Polizisten, die beschuldigt werden, Verdächtige gefoltert oder mißhandelt zu haben, wird selten ermittelt; selten werden sie zur Verantwortung gezogen, auch wenn Bürger eine förmliche Beschwerde einreichen oder Angeklagte ihre Beschwerden vor Gericht zu Protokoll geben, erklärte Human Rights Watch.

Auch die Pressefreiheit erlitt 2010 Einbrüche, da Marokko sich in mehreren Fällen weigerte, Journalisten zu akkreditieren, die mit ausländischen Medien zusammenarbeiten, sowie die Tätigkeit von Al Jazeera in Marokko mit der Begründung stoppte, er schade den "höheren Interessen" des Königreichs. Das Land verlor darüber hinaus drei seiner mutigsten unabhängigen Publikationen - Al Jarida al-Oula [1], le Journal Hebdomadaire [2] und Nichan [3], die sowohl finanziellen Schwierigkeiten als auch politischem Druck zum Opfer fielen.

Mit der Vorlage ihres Weltberichts 2011 würdigt Human Rights Watch mehrere Menschen, die im Jahr 2010 Zeit im Gefängnis verbracht haben, weil sie auf friedliche Weise ihre Meinung kundtaten:

Chekib el-Khayari, Präsident der Vereinigung für Menschenrechte im Rif (Association of Human Rights in the Rif), verbrachte das ganze Jahr in Haft. Ein Berufungsgericht hatte seine Verurteilung zu drei Jahren wegen geringfügiger Verstöße gegen Devisenbestimmungen und "Beleidigung staatlicher Einrichtungen" bestätigt - eine Anklage, die erfolgte, weil er den laxen Umgang einiger offizieller Vertreter bei der Verfolgung des Drogenhandels in seiner Heimatregion Nador angeprangert hatte.

"Jeder kennt die drei Tabus, die in Marokko die Meinungsfreiheit einschränken: die Monarchie, Marokkos Anspruch auf Westsahara und der Islam. Aber Khayaris Aufenthalt hinter Gittern, weil er den Umgang des Staates mit dem illegalen Drogenhandel gerügt hat, beweist, daß dies nicht die einzigen Roten Linien sind, die in Marokko die Redefreiheit einschränken," kommentierte Whitson.

Ali Salem Tamek, Brahim Dahane und Ahmed Naciri, saharauische Aktivisten, haben ebenfalls das ganze Jahr im Gefängnis verbracht. Sie kamen schließlich zusammen mit vier weiteren Saharauis im Oktober vor Gericht, nachdem sie ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatten. Ihr einziges Vergehen scheint darin zu bestehen, daß sie sich ganz offen mit der Führung der Frente Polisario, der saharauischen Unabhängigkeitsbewegung, in Algerien getroffen haben, die sich gegen eine marokkanische Herrschaft über Westsahara stellt. Ihr Verfahren unter der Anklage "Gefährdung der Inneren Sicherheit [Marokkos]" wurde mehrfach vertagt, das Urteil wird allerdings für die nächsten Tage erwartet.

Moustapha Selma Mouloud, ein Saharaui, wurde von der Frente Polisario in dem von ihr kontrollierten Teil der Westsahara verhaftet, nachdem er öffentlich seine Unterstützung für Marokkos Vorschlag einer Autonomie Westsaharas unter marokkanischer Herrschaft verkündet hatte. Die Polisario ließ ihn zwar wieder frei, jedoch erst nachdem sie ihn für einige Wochen unter dem Vorwurf des "Verrats" und der "Spionage" festgehalten hatte.

"Selmas Inhaftierung zeigt, daß die Polisario genauso wie Marokko eine Rote Linie vorgibt, die entscheidet, was man über die politische Zukunft der Westsahara sagen kann", kommentierte Whitson.


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

[1] Al Jarida al-Oula: allgemeine Tageszeitung, gegründet im Mai 2008, eingestellt 2010
[2] Journal Hebdomadaire: Wochenzeitschrift in französischer Sprache mit arabischsprachiger Entsprechung, gegründet 1997, eingestellt Februar 2010
[3] Nichan - arabischsprachige Wochenzeitschrift, Gegenpart zum französischsprachigen Magazin Tel Quel, gesellschaftspolitsch und satirisch, gegründet 2006, eingestellt März 2010

Link zum englischen Originaltext:
http://www.hrw.org/en/news/2011/01/24/moroccowestern-sahara-dissidents-prison-unfair-trials

Link zum Marokko/Westsahara-Kapitel des HRW-Weltberichts 2011
http://www.hrw.org/en/world-report-2011/moroccowestern-sahara

Link zum Marokko/Westsahara-Kapitel des HRW-Weltberichts 2011 in deutscher Übersetzung des Schattenblick:
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1we0040.html


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Quelle:
HRW-Pressemitteilung vom 24. Januar 2011
Human Rights Watch
350 Fifth Avenue, 34th Floor
New York, NY 10118-3299, USA
Tel: 1-(212) 290-4700
Kontakt in Deutschland:
Poststraße 4-5, 10178 Berlin
Tel.: +49-30-259306-10, Fax: +49-30-259306-29
Internet: www.hrw.org
mit freundlicher Genehmigung von Human Rights Watch
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2011