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BERICHT/042: Steh auf, wenn du eine Bäuerin bist (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 323 - Juni 2009,
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Steh auf, wenn du eine Bäuerin bist
1.000 Milchbäuerinnen campieren mitten in Berlin und
demonstrieren vorm Kanzleramt für angemessene Milchpreise

Von Marlene Herzog


Ein Chor bestehend aus zweihundert Milchbäuerinnen steht vor dem Kanzleramt in Berlin. "Schwester Angie, schläfst du noch? Hörst du nicht die Bauern? Milchpreis hoch!" Sie sind gekommen, um der Bundeskanzlerin zu sagen, wie verzweifelt ihre Lage ist. Der Milchpreis ist zu niedrig. Die Betriebe müssen Schulden aufnehmen, um zu überleben. Sie fordern von Angela Merkel einen "Milchgipfel" zur Rettung der Milcherzeuger.

Zu ihrem Gesang tönen mitgebrachte Kuhglocken über den Vorplatz, der jetzt von einigen Polizisten bewacht wird. Die Bäuerinnen tragen Transparente und schwenken Fahnen mit der fairen Milchpreis-Kuh. Die Frauen sind Mitgliederinnen des Bundesverbands deutscher Milchviehhalter (BDM). Sie fordern, dass die Milchquote nicht weiter erhöht wird und neue Rahmenbedingungen für zukünftig gute Milchpreise geschaffen werden.


Kein Spaß

Die Bundeskanzlerin lässt sich nicht blicken und nach mehreren Stunden werden die Frauen von den Ordnungshütern des Platzes verwiesen. Dennoch sind sie entschlossen, in Berlin zu bleiben. Hundert Meter neben dem Kanzleramt, auf einer grünen Wiese zwischen Hecken und Linden richten sie sich ein, für die nächsten sieben Tage, bei Regen, Kälte und Sonne. Nachts schlafen sie bei Temperaturen um 5 Grad unter freiem Himmel in ihren Schlafsäcken, da sie ihre Zelte nicht aufbauen dürfen. Die Bäuerinnen lassen sich davon jedoch nicht entmutigen. Morgens um 6 Uhr hört man schon ihr Lachen. Sie sind es gewohnt, früh aufzustehen, um ihre Kühe zu melken. Das übernehmen in dieser Woche ihre Familien zu Hause auf den Höfen. Trotz ihrer guten Laune und dem Mut, den sie mitbringen, ist diese Aktion kein Spaß für sie. "Einige müssen von hier aus den Betrieb organisieren. Übers Handy". Maike Müller aus dem Nordwesten Deutschlands leitet einen Betrieb mit 160 Milchkühen in Bremerhaven. Welche Arbeit sie tagtäglich verrichtet, ist für viele unvorstellbar. Die Milchbäuerin nennt es einen "24 Stunden-Bereitschaftsdienst". So steht es auch auf ihrem Schild, das sie um den Hals trägt: "Haus und Kinder, Hof und Garten, Kühe und Kälber, Oma und Opa". Immer wieder rollen Busse voller Frauen mit Fahnen, Schlafsäcken und Isomatten an. Die Dazustoßenden werden herzlich begrüßt. Beim Abschied der Zurückfahrenden fließen auch mal ein paar Tränen zum Abschied. Insgesamt sind es etwa 1.000 Milchbäuerinnen, die hier für faire Milchpreise kämpfen. Es ist ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl, das aus dem gemeinsamen Widerstand erwächst. Auch Vertreter aus Belgien und Österreich stoßen zu den Bäuerinnen. "Dies ist nicht nur eine deutsche Bewegung. Der Kampf für faire Milchpreise läuft europaweit", so Ernst Halbmayr von der IG-Milch in Österreich.


Hungerstreik

Als Frau Merkel auch am dritten Tag kein Interesse an den Milchbäuerinnen zeigt, treten sechs von ihnen in den Hungerstreik. Darunter Katharina Forster aus Mittelfranken. Sie sieht müde aus. In eine Wolldecke gehüllt, stellt sie sich geduldig den Fragen der Journalisten, die wissen wollen, was sie jetzt am liebsten essen würde und warum sie in den Hungerstreik tritt. "Wir bekommen kein Gehör von Frau Merkel. Man beachtet uns schlichtweg nicht." Das ändert sich. In den folgenden Tagen erscheinen nicht nur die Medien zahlreich. Auch Vertreter politischer Parteien und viele Berliner kommen, bringen Kaffee und Aufmunterung. Eine Gruppe von Jugendlichen beschließt spontan, sich den Bäuerinnen anzuschließen und bleibt für zwei Nächte bei ihnen. Auch von Verbänden und Organisationen wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) erhalten die Frauen Unterstützung. Die Upländer Bauernmolkerei aus Hessen spendiert kistenweise Milchprodukte. Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) begleitet die Bäuerinnen fast sieben Tage lang. "Unser guter Geist" nennen sie ihn. Der Vorsitzende des BDM, Romuald Schaber, hat mehrere Nächte und Tage mit den Bäuerinnen unter freiem Himmel verbracht. "Mich würde interessieren, ob ein Herr Sonnleitner das auch getan hätte", gibt Christine Schneebichler, Milchbäuerin aus Oberbayern, zu bedenken. Der deutsche Bauernverband hat sich von der Aktion der Milchbäuerinnen derweil öffentlich distanziert.


Verbraucher für Milcherzeuger

Am siebten Tag beenden die Milchbäuerinnen ihre Aktion. Die Bundeskanzlerin hat sich nicht gezeigt. "Die Politik trägt Verantwortung, die sie aber bisher nicht wahrgenommen hat. Wir tragen auch Verantwortung für unsere Höfe, unsere Kinder und unsere Tiere und deswegen beenden wir den Hungerstreik." Christine Schneebichler hat fünf Tage nichts gegessen. Die Milchbäuerin und Mutter von drei Kindern ist trotzdem voller Kampfgeist. In ihrer Abschlussrede wendet sie sich an die verantwortlichen Politiker "Wir wollen von euch Taten sehen und werden euch daran messen!" Bei der anschließenden Menschenkette vom Kanzleramt bis zum Brandenburger Tor wird deutlich, dass auch die Verbraucher auf Seiten der Milcherzeuger stehen. Hunderte von Menschen halten sich an den Händen und bilden eine fast ein Kilometer lange Schlange. Auf dem Pariser Platz singen sie gemeinsam zu der Melodie von "Go West" der "Village People": "Steh auf, wenn du ein Bauer bist, steh auf, wenn du ein Schlauer bist!"


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die unangemeldete Demonstration vor dem Kanzleramt zog viele Verhandlungen mit den um Interessensausgleich bemühten Einsatzkräften nach sich.

Polizeieinsatzleiter: "Herr Janßen, jetzt müssen Sie dafür sorgen, dass ihre Frauen wieder zurückgehen". Janßen: "Erstens sind es nicht meine Frauen und zweitens ist es schwer, Bäuerinnen auf zu halten, das sehen Sie ja selbst.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 323 - Juni 2009, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
Bahnhofstr. 31, 59065 Hamm
Telefon: 02381/49 22 20, Fax: 02381/49 22 21
E-Mail: redaktion@bauernstimme.de
Internet: www.bauernstimme.de

Erscheinungsweise: monatlich (11 x jährlich)
Einzelausgabe: 3,00 Euro
Abonnementpreis: 36,00 Euro jährlich
(verbilligt auf Antrag 26,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009