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ASYL/1160: "Im Zweifel für die... Volljährigkeit"? (Flüchtlingsrat Niedersachsen)


Flüchtlingsrat Niedersachsen - Pressemitteilung vom 5. Mai 2017

"Im Zweifel für die... Volljährigkeit"?


Die Forderung der CDU, medizinische Altersfeststellungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Zweifelsfall als Regelverfahren anzuwenden, kritisiert der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. aufs schärfste.

Die Diskussion um die Altersbestimmung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist nicht neu, alle Argumente dazu sind längst ausgetauscht, siehe die Broschüre des Flüchtlingsrats aus dem Jahr 2013 Wenn die CDU das Thema jetzt erneut auf die Tagesordnung setzt, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, das sensible Thema zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren, zumal die Fachwelt sich längst einig ist, dass die von der CDU vorgeschlagene Methode einer medizinischen Altersfestsetzung nicht nur ethisch problematisch und teuer, sondern auch von sehr eingeschränkter Aussagekraft ist. In diesem Kontext den Geflüchteten "Missbrauch" vorzuwerfen und von einem "Geschäftsmodell" zu sprechen, grenzt vor dem Hintergrund der von vielen jungen Flüchtlingen erlittenen Traumata an Zynismus.

Laut einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten Thümler und Nacke wurden von den (seit November 2015) 4.927 in Niedersachsen eingereisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die Altersangaben von 683 Personen angezweifelt. Hiervon sind anschließend 157 einer sogenannten ärztlicher Untersuchung unterzogen worden. Der Flüchtlingsrat hält diese Untersuchungen für fragwürdig und fordert, auf die Expertise der Jugendämter zu setzen, wenn keine Identitätspapiere vorliegen: Die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist längst gesetzlich als Bestandteil der Altersfestsetzung verankert. Diese wird durch geschulte Mitarbeitende der Jugendämter durchgeführt und berücksichtigt nicht nur körperliche Merkmale, sondern u.a. auch Aspekte wie die geistige Entwicklung und Verhaltensweisen der zu untersuchenden Person. Zu diesem Aspekt hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (BAGLJÄ) bereits 2014 Standards herausgearbeitet, die u.A. das Vier-Augenprinzip (bestehend aus Fachpersonal der Jugendhilfe, qualifizierten Dolmetscher_innen, einer klaren Aufklärung der Betroffenen, die Dokumentation der Interviews, die Bescheiderstellung sowie die Aufklärung bezüglich des weiteren Verfahrens) beinhalten. Auch die Zentrale Ethikkommission des Bundesärztekammer (ZEKO) empfiehlt, anstelle einer ärztlichen, eine sozialpädagogische Alterseinschätzung durchzuführen. Für diesen Fall hat der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) einen Handlungsleitfaden zu Verfahrensgarantien für eine kindeswohlgerechte Praxis herausgebracht, angelehnt an grundlegende Menschen- und Kinderrechte.

Die Einschätzung des Alters durch geschulte Mitarbeiter_innen der Jugendämter nach Inaugenscheinnahme führt im Ergebnis in aller Regel zu genaueren Ergebnissen als zweifelhafte medizinische Untersuchungen. Dabei muss auch weiterhin der Grundsatz gelten: Im Zweifel hat das Wohl des Kindes Vorrang vor ordnungspolitischen Interessen.

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Anhang:
Folgende Gründe sprechen gegen medizinische Altersfestsetzungen:
1. Geringe Aussagekraft existierender Methoden

Derzeit stehen eine Reihe von medizinischen Methoden zur Verfügung, mit denen sog. Altersbestimmungen durchgeführt werden. Zu den häufigsten gehören Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen und des Gebisses sowie tomografische Aufnahmen der Schlüsselbeine. In einigen Fällen werden - obwohl dies im Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher explizit untersagt wird - auch die Genitalien auf ihre Entwicklung gemäß festgelegter Pubertätsstadien untersucht.

Trotz ihres Aufwandes lassen alle genannten Verfahren keine exakten Aussagen über das Alter einer Person zu. Vielmehr bieten sie eine Altersspanne an, auf deren Grundlage anschließend ein Alter seitens der involvierten Behörden fiktiv festgesetzt wird. Auch das Niedersächsische Landesjugendamt bestätigt: "Eine wissenschaftliche Methode zur verlässlichen Bestimmung des Alters existiert nicht". So bleiben "ärztliche Untersuchung auf dem Gebiet der Altersdiagnostik [...] lediglich Schätzungen und können Abweichungen von 1-2 Jahren beinhalten" (Landesjugendamt Niedersachsen). Die Bundesärztekammer spricht in einer Stellungnahme zu diesem Thema sogar von einer Abweichung von bis zu drei Jahren. Im Ergebnis ist eine Altersfestsetzung nur vage im Rahmen einer Zeitspanne von 4 - 6 Jahren angebbar.

Das in der Skelettbewertung festgestellte Knochenalter weicht im Schnitt um 2-3 Jahre vom chronologischen Alter der Person ab. Das Verfahren eignet sich, um bei Personen mit bekanntem Alter festzustellen, ob das Knochenwachstum dem Alter der Person vorauseilt oder hinterherhinkt - nicht umgekehrt. Zudem besteht ab dem 16. Lebensjahr eine 61-prozentige Wahrscheinlichkeit, trotz chronologischer Minderjährigkeit bereits ein ausgereiftes Handskelett zu haben. Ähnlich verhält es sich mit den ebenfalls häufig eingesetzten Schlüsselbeintomografien, bei denen Vergleiche des rechten und linken Schlüsselbeins bei ein und derselben Person bereits Altersschwankungen von bis zu 3 Jahren aufgezeigt haben.[1]


2. Inkaufnahme körperlicher und seelischer Schäden

Darüber hinaus bestehen ernstzunehmende ethische Bedenken.

Zum einen bergen insbesondere Röntgenuntersuchungen ein gewisses Gesundheitsrisiko für die Untersuchten, denn die damit einhergehende Strahlenbelastung kann zu gesundheitlichen Schäden führen. Die unbedachte Anwendung dieser Untersuchungen als Regelverfahren grenzt an Körperverletzung und steht somit in direktem Widerspruch zum Gesetzestext, welches fordert, dass "die ärztliche Untersuchung [...] mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen [ist]". Zwar lassen sich solche Eingriffe vertreten, wenn sie unter Einwilligung der Untersuchten durchgeführt werden und in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel stehen. "Eine Untersuchung mit Röntgenstrahlen und vergleichbaren Methoden stellt jedoch bereits insofern einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar, als die Eignung zur Erreichung des Zwecks - sichere Ermittlung des Alters - nach allen vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zweifelhaft ist".

Auch dürfen besagte medizinische Altersuntersuchung nur nach einer informierten und freiwillig erteilten Zustimmung der Betroffenen stattfinden. Hierfür müssen sie sowohl über das Verfahren und die Methoden, wie auch über die Konsequenzen der Ablehnung einer bestimmten Methode in einer für sie verständlichen Sprache aufgeklärt werden. Inwieweit es den ausführenden Fachkräften möglich ist, im erforderlichen Maße die Betroffenen über den Verlauf einer Röntgenuntersuchungen zu informieren und ihnen die Konsequenzen einer Strahlenbelastung zu erklären, bleibt zu hinterfragen.

Nicht zu unterschätzen sind zudem kulturell bedingte Hemmungen oder Ängste, die sich aus der Fluchtgeschichte der jungen Menschen ergeben. Bei Jugendlichen, die durch Kriegs- und Fluchterlebnisse belastet sind, stellen solche Eingriffe eine zusätzliche Verletzung ihrer psychischen Unversehrtheit dar und können Psychotraumatisierungen hervorrufen oder wiederbeleben.


3. Kosten

Zur Begründung von systematischen medizinischen Altersuntersuchungen wird überwiegend mit dem hohen Kostenfaktor für die Versorgung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe argumentiert.

Die Jugendhilfe ist teuer - zu Recht. Sie umfasst wichtige materielle Dienstleistungen im Bereich der Unterbringung, Verpflegung und Betreuung junger Menschen. In größerem Umfang - und dieser Aspekt sollte im Vordergrund der Debatte stehen - bietet die Jugendhilfe im Rahmen ihres sozialpädagogischen Auftrags eine sichere Umgebung für schutzbedürftige Personen und ermöglicht ihnen einen Raum zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung, der in diesem Umfang nicht durch das herkömmliche Asyl- und Aufenthaltsgesetz geleistet werden kann.

Im Kontext des Kindeswohls dürfen Kosten nicht als Argumentation herangezogen werden. Und eine Aushebelung der Jugendhilfe durch den Einsatz ebenso kostspieliger, unzuverlässiger und vor allem menschenunwürdiger Verfahren zu erzwingen, ist zweifellos der falsche Weg, zumal auch volljährige Jugendliche bei entsprechendem Bedarf einen Anspruch auf Jugendhilfe haben.

Eine Sprecherin des Niedersächsischen Sozialministeriums äußerte sich diesbezüglich kritisch gegenüber der pauschalen Durchführung ärztlicher Untersuchungen: So würde eine routinierte Anwendung dieser "unverhältnismäßige Kosten" verursachen, wenn die Zweifel auch mit anderen Mitteln (wie einer qualifizierten Inaugenscheinnahme) ausgeräumt werden können.


Anmerkung:
[1] Eisenberg, Winfried (2016): "Altersschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF)", In: sozialmagazin "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" (2016), Hrsg. Fischer, Graßhoff

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Quelle:
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Röpkestr. 12, 30173 Hannover
Mo-Fr: 10.00 bis 12.30, Di+Do: 14.00 bis 16.00
Telefon: 0511/98 24 60 30, Fax: 0511/98 24 60 31
E-Mail: nds@nds-fluerat.org
Internet: www.nds-fluerat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2017

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