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ASYL/865: Kinder zweiter Klasse - Junge Flüchtlinge in Bayern (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Kinder zweiter Klasse: Junge Flüchtlinge in Bayern

Von Jürgen Soyer



Erwachsene Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, werden nach dem Asylverfahrensgesetz den Bundesländern zugewiesen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen zunächst in die Obhut der staatlichen Jugendämter. Die Betreuung der Flüchtlinge durch nicht-staatliche Institutionen steht immer vor der Herausforderung, unsichere Lebensumstände zu bewältigen.


Weltweit steigt die Zahl an Flüchtlingen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht für das Jahr 2012 von 45,8 Millionen Flüchtlingen (UNHCR 2013). Besonders erschreckend ist, dass 46 Prozent aller Flüchtlinge weltweit Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind. Allein eine Million Kinder und Jugendliche aus Syrien leben inzwischen auf der Flucht.

Entgegen der häufig geäußerten Meinung ist das Hauptziel der Flüchtlinge nicht Europa - oder sogar Deutschland. Vielmehr flüchtet der Großteil der Vertriebenen innerhalb ihres Heimatlandes und ist dort auf der Suche nach einer sicheren Bleibe. Von denjenigen, die ihr Land verlassen, leben über 80 Prozent in Entwicklungsländern. Für Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten sind zum Beispiel eher die arabischen Länder das Ziel.

Dies hat vermutlich auch mit den lebensgefährlichen Fluchtrouten nach Europa zu tun. Da es in der Regel keine legale Möglichkeit gibt, nach Europa zu flüchten, versuchen die Menschen eine Einreise nach Europa in zumeist überfüllten Booten über das Mittelmeer, über die kaum weniger gefährlichen Grenzzäune (in der spanischen Exklave Ceuta) oder über die EU-Ostgrenzen. Viele Flüchtlinge überleben dies nicht, viele scheitern oder müssen mit ansehen, wie andere sterben. Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die die Flucht nach Deutschland geschafft haben, berichten neben Kriegserlebnissen in ihren Heimatländern auch von anderen traumatischen Erlebnissen, die sie an den Grenzen Europas oder in einem europäischen Land bei ihrer Aufnahme machen mussten. Im Abschlussbericht der vom "Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen" und dem Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) durchgeführten Studie zur "Erkennung psychischer Störungen bei Asylbewerbern" wird eine Traumatisierungsrate unter den erwachsenen Flüchtlingen von über 30 Prozent diagnostiziert (Butollo/Maragkos 2012). Gesicherte Daten für Kinder und Jugendliche liegen bislang nicht vor, aber es ist anzunehmen, dass die Traumatisierungsrate bei Kindern und Jugendlichen auf Grund ihrer besonderen Verletzbarkeit noch höher liegt.

Die bundesweit ansässigen Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind immer nur für bestimmte Herkunftsländer zuständig. Dadurch ergibt sich eine sehr unterschiedliche Verteilung der Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Die Außenstelle des Bundesamtes in München ist zum Beispiel nicht für den Iran zuständig, deswegen bleiben in der Regel keine iranischen Asylbewerberinnen und Asylbewerber in der Erstaufnahme in München, sondern werden auf andere deutsche Städte verteilt. München ist für die Demokratische Republik Kongo zuständig, weshalb hier vergleichsweise viele Kongolesinnen und Kongolesen leben. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden dagegen nicht in andere Bundesländer umverteilt, da sie gleich am Ort ihrer Antragsstellung vom Jugendamt in Obhut genommen werden müssen.

Grundsätzlich werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber durch Bundesgesetze bestimmt. Für erwachsene Asylbewerberinnen und Asylbewerber, aber auch für Kinder und Jugendliche im Asylverfahren, gilt das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), nicht das SGB II, das als "Hartz IV" bekannt ist. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 wurde der Regelsatz des AsylbLG, der bis zu 35 Prozent unter der Grundsicherung nach Hartz IV lag, für verfassungswidrig erklärt. Mittlerweile orientieren sich die Regelsätze an den Hartz-IV-Vorgaben. Auch Ausgaben für Nachhilfe oder für Klassenfahrten werden nun bewilligt.

Die politische Ausgestaltung der Flüchtlingspolitik geschieht im Spannungsfeld zwischen aktiver Flüchtlingshilfe und Abschreckungspolitik. Der Freistaat Bayern hat erst im Jahr 2013 entschieden, dass auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) über 16 Jahren durch die stationäre Jugendhilfe betreut werden. Aktuell leben diese noch in den Unterkünften für die Erstaufnahme, da zu wenig Jugendhilfeplätze vorhanden sind. Je nach Einrichtung kann mehr oder weniger auf die speziellen Bedürfnisse dieser oftmals schwer traumatisierten Kinder und Jugendlichen eingegangen werden. Grundsätzlich gilt, dass jede Form der Unterbringung in der Jugendhilfe ein wichtiger Stabilisierungsfaktor im Vergleich zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften darstellt. Bei einer engmaschigen fachlichen Begleitung und einer guten Vernetzung mit anderen Unterstützern wie Sportvereinen, Schulen, Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten stellt dies eine wichtige Stütze für die jungen Menschen dar. Bis 2013 lebten alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Bayern in speziellen Asylbewerberinnen- und Asylbewerberunterkünften. Der Betreuungsschlüsel wird von jeder Einrichtung selbst festgelegt, wobei natürlich für jeden Jugendlichen der zu erstattende Tagessatz die Berechnungsgrundlage bildet. In Unterkünften, in der nachts keine pädagogische Betreuung angeboten wird, beläuft sich der durchschnittliche Betreuungsschlüssel im Jahr 2013 auf 1:5.


In Asylbewerberunterkünften kann das Kindeswohl nicht angemessen berücksichtigt werden

Alle Kinder aus Asylbewerberunterkünften sollten in Obhut genommen werden, da das Kindeswohl in solchen Unterkünften nur unzureichend berücksichtigt wird. Begründen lässt sich dies mit Leistungseinschränkungen vor allem in der gesundheitlichen Versorgung, aber auch mit den Zuständen in den Unterkünften. Kinder, die mit ihren Eltern als Flüchtlinge in Deutschland ankommen, leben oft mehrere Jahre in einer solchen Unterkunft. Sie müssen sich dann oft ein Zimmer mit ihren Eltern teilen, in dem sie den Tag verbringen, schlafen und auch essen. Da diese Heime oft dicht belegt - manchmal auch überbelegt - sind, ist es eng und laut. Kinder und Jugendliche haben keinen Rückzugsraum zum Spielen oder um Hausaufgaben zu machen. Viele dieser Kinder berichten, dass sie sich dafür schämen, wie sie wohnen. Deswegen nehmen sie beispielsweise Einladungen ihrer Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht an, weil sie fürchten, dass sie diese dann auch in ihr Zuhause einladen müssten. Die Gemeinschaftstoiletten in den Unterkünften sind oft weit von den Zimmern entfernt. Die Kinder trauen sich nachts nicht alleine auf die Toilette. Auch dass die Gemeinschaftsduschen oft frei zugänglich sind, wirkt für viele Bewohnerinnen und Bewohner beängstigend. Nur in Unterkünften mit abgeschlossenen Wohneinheiten, die Bad und Toilette beinhalten, fühlen sich Kinder und Jugendliche sicher. Leider sind solche Unterkünfte in Bayern in der Minderzahl.

Die Leistungseinschränkungen rufen bundesweit viele Hilfsorganisationen mit Eigenmitteln auf den Plan, um die Hilfe für Flüchtlinge zu verbessern. Zusätzlich zu den Eigenmitteln gilt es, öffentliche Zuschüsse sowie Stiftungs- und Spendengelder zu akquirieren. Für die Sozialberatung übernimmt der Freistaat Bayern derzeit rund 70 Prozent der dafür anfallenden Personalkosten. Dies ist eine freiwillige Leistung, die deshalb auch wieder zurückgenommen werden kann. Die restlichen 30 Prozent der Personalkosten und alle anderen Verwaltungskosten müssen die Vereine, Verbände oder Kirchen selbst aufbringen. Die Landeshauptstadt München engagiert sich finanziell aus politischer Überzeugung seit Jahren freiwillig und überdurchschnittlich stark, indem sie zum Beispiel ein Programm zur beruflichen Weiterentwicklung für Flüchtlinge, Sprachkurse oder auch die Arbeit des psychologischen Behandlungszentrums REFUGIO (der Begriff kommt aus dem Spanischen und bedeutet "Zuflucht") maßgeblich finanziert.

Oft werden Flüchtlinge in kleine Dörfer in der Provinz verteilt. Die örtliche Sozialberatung - sofern vorhanden - fühlt sich wegen der Sprachbarrieren und des sehr speziellen Wissens, das die Arbeit im Asylbereich erfordert, nicht zuständig. Für Flüchtlinge, die in der Provinz leben, ist die Kontaktaufnahme zu den zentralen städtischen Beratungsstellen aber wegen der Fahrtkosten und wegen des Zeitaufwands oft nur schwer möglich. Deswegen liegt es dann an örtlichen Ehrenamtlichengruppen, diese Hilfe in irgendeiner Weise bereitzustellen oder zu ermöglichen.

Die Vielfalt der Hilfsstruktur ermöglicht einerseits ein hohes Maß an zielgerichteten Hilfen, auch durch ehrenamtliches Engagement. Wo keine fest zementierten Strukturen herrschen, können Menschen problemloser aktiv werden. Andererseits wird die Flüchtlingsarbeit durch unsichere Finanzierungsstrukturen beeinflusst. Das hat Auswirkungen sowohl auf die Hilfstätigen als auch auf die Flüchtlinge selbst.

DER AUTOR

Jürgen Soyer, Dipl.-Sozialpädagoge, Dipl.-Theologe, ist Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation REFUGIO München, Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer.
Kontakt: juergen.soyer@refugio-muenchen.de


LITERATUR

BUTOLLO, WILLI/MARAGKOS, MARKOS (2012): Gutachterstelle zur Erkennung psychischer Störungen bei Asylbewerbern. Abschlussbericht. München

UNHCR (2013): Flucht und Vertreibung in 2013 auf Rekordkurs. Im Internet verfügbar unter:
www.unhcr.de/home/artikel/c7b34dcf6b3ceb5ba30b0cfb78a64419/flucht-und-vertreibung-im-ersten-halbjahr-stark-angestiegen.html?L=0


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 -
Nr. 105, S. 7-8
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2014