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AKTUELL/084: Nach der Berlin-Wahl - "Koal-O-Mat" zeigt Chancen und Probleme der Regierungsbildung (idw)


Universität Mannheim - 20.09.2016

Nach der Berlin-Wahl: "Koal-O-Mat" zeigt Chancen und Probleme der Regierungsbildung


Die Mannheimer Politikwissenschaftler Dr. Christian Stecker und Dr. Thomas Däubler analysieren auf Basis der Wahl-O-Mat-Thesen, wo Konflikte und Gemeinsamkeiten möglicher Koalitionen liegen - und warum wechselnde Mehrheiten eine Überlegung wert sind.

Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus scheint eine Rot-Rot-Grüne Koalition wahrscheinlich. Doch auch SPD, CDU und FDP hätten eine Mehrheit. Welches Bündnis hätte die beste Gestaltungsperspektive? Wo liegen die größten Konfliktfelder? Um diese Fragen zu beantworten, verwenden die Politikwissenschaftler Dr. Christian Stecker und Dr. Thomas Däubler, beide Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim, die bekannte Online-Anwendung Wahl-O-Mat als Datenbasis zur Analyse der möglichen Koalitionen.

Der Wahl-O-Mat ist seit Jahren eine wichtige Orientierungshilfe für Wählerinnen und Wähler. Er gleicht die persönliche Position zu 38 politischen Themen mit den entsprechenden Positionen der Parteien ab und zeigt so, welcher Partei man in diesen Fragen am nächsten steht. Die Antworten der Parteien auf die Wahl-O-Mat-Fragen geben aber auch Hinweise darauf, wie gut verschiedene Parteien miteinander in einer Koalition regieren könnten. "Wir haben die Antworten der Berliner Parteien auf die 38 Wahl-O-Mat-Fragen verglichen. So erhalten wir die Anzahl der Gemeinsamkeiten und Widersprüche innerhalb möglicher Koalitionen. Der Wahl-O-Mat kann also auch als 'Koal-O-Mat' genutzt werden", erklärt Christian Stecker das Modell, das bereits im Frühjahr bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt erprobt wurde. Für Berlin gelangen die beiden Politikwissenschaftler zu den folgenden Ergebnissen:

Rot-Rot-Grün: 14 Konflikte bei 38 Themen

Die wahrscheinlichen Koalitionspartner SPD, Grüne und Linke sehen einer schwierigen Zusammenarbeit entgegen: Bei insgesamt 14 von 38 Themen bestehen unterschiedliche Meinungen. "Das ist eine recht hohe Zahl von Konfliktfeldern. Gleichzeitig muss man sehen, dass auch eine theoretische Neuauflage der großen Koalition immerhin 13 Gegensätze zu verzeichnen hätte", relativiert Stecker. "Große Koalition und Rot-Rot-Grün unterscheiden sich also weniger stark in der Zahl strittiger Fragen, sondern primär hinsichtlich der Themenbereiche, die konfliktträchtig sind. So gibt es in der Immigrationspolitik beispielsweise keine Unstimmigkeiten zwischen rot-rot-grün." Zu den großen Konfliktfeldern zähle dagegen die Verlängerung der Berliner Stadtautobahn A100. "An dieser Frage war eine mögliche rot-grüne Koalition bereits vor fünf Jahren gescheitert. Da sowohl Linke als auch Grüne dem Vorhaben ablehnend gegenüberstehen, wird die SPD das Vorhaben kaum durchsetzen können", sagt Stecker.

SPD, CDU und FDP: Nur 15 Gemeinsamkeiten

Rechnerisch möglich ist in Berlin auch ein Bündnis aus SPD, CDU und FDP. Allerdings stünden hier sogar 21 Gegensätze und nur 15 Gemeinsamkeiten zu Buche. "Insbesondere in der Wohnungspolitik, einem Kernthema für viele Berliner, nehmen die drei Parteien gegensätzliche Positionen ein. Einig sind sie sich allerdings bei der weiteren Verlängerung der Stadtautobahn A100", fasst Thomas Däubler zusammen.

Wechselnde Mehrheiten als Ausweg?

Das Berliner Wahlergebnis verdeutlicht nach Ansicht von Däubler und Stecker, dass die fortschreitende Zersplitterung des Parteiensystems die übliche Koalitionspolitik in Deutschland an ihre Grenzen führt. Da die traditionellen Wunschkonstellationen nur noch selten Mehrheiten erringen, sind häufig Große Koalitionen oder, wie in Berlin, gar komplexe Dreierbündnisse zur Regierungsbildung nötig. Diese zeichnen sich in der Regel durch relativ geringe Handlungsspielräume und zahlreiche Konfliktfelder aus. Stecker schlägt den Koalitionspartnern daher vor, bestimmte Themen vom Einungszwang auszunehmen und es den Parteien freizustellen, sich in diesen Bereichen Mehrheiten jenseits der Grenzen von Regierung und Opposition zu suchen. Mit derartigen "agree-to-disagree"-Klauseln mache man in Neuseeland und Skandinavien seit langer Zeit gute Erfahrungen, so der Politikwissenschaftler. "Dass eine Regierungspartei gegen den Koalitionspartner und lieber mit der Opposition stimmt, mag für deutsche Ohren ungewohnt klingen. Es stünde aber keiner demokratischen Partei schlecht zu Gesicht, sich einer Parlamentsmehrheit zu beugen, hinter der oft auch eine Mehrheit der Bevölkerung steht."


Die ausführliche Koal-O-Mat-Analyse von Dr. Christian Stecker und Dr. Thomas Däubler einschließlich grafischer Darstellung finden Sie unter:
http://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/papers/koalomat_be.pdf

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution61

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Mannheim, Katja Bär, 20.09.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2016

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