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AUSSEN/568: Offene Türen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 7. November 2016
(german-foreign-policy.com)

Offene Türen


BERLIN/ANKARA - Ungeachtet der voranschreitenden Ausschaltung der Opposition in der Türkei und der Orientierung des Landes in Richtung Präsidialdiktatur setzt Berlin die Zusammenarbeit mit Ankara fort. Mit der Inhaftierung des Spitzenpersonals der Partei HDP hat die türkische Führung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan der kurdischsprachigen Opposition einen schweren Schlag versetzt. Zuvor hatte sie bereits mit Repressalien gegen die Tageszeitung Cumhuriyet, die als bedeutendstes Sprachrohr der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) gilt, die nichtkurdische Opposition empfindlich geschwächt. Eine Änderung der Verfassung soll nun die Stellung des Staatspräsidenten in aller Form stärken. Trotz des offen antidemokratischen Kurses Ankaras hält Berlin an der Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr fest und rüstet die türkischen Streitkräfte, die mit mörderischer Gewalt Proteste im Südosten des Landes niederschlagen, auf: Im ersten Halbjahr 2016 war die Türkei der achtgrößte Käufer deutschen Kriegsgeräts überhaupt. "Unsere Türen" müssten "offen bleiben", heißt es in Berlin.


Die Ausschaltung der Opposition

Die türkische Führung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beschleunigt ihren Kurs hin zur Etablierung einer Präsidialdiktatur. Im Rahmen seines Gegenputschs gegen den Putschversuch vom 15./16. Juli hat Erdogan mittlerweile die Entlassung von mehr als 110.000 Beamten verfügt, darunter Justiz- und Polizeipersonal, Lehrer und Hochschullehrer, Mitarbeiter zahlreicher Ministerien, Verwaltungsbehörden und des Gesundheitssystems sowie hochrangige Militärs. Von bislang um die 40.000 Festnahmen unter fadenscheinigem Vorwand ist die Rede, darunter gewählte Bürgermeister südosttürkischer Städte bis hin zur Millionenstadt Diyarbakir. Mehr als 160 Zeitungen, Zeitschriften, Internetperiodika und TV-Sender sind geschlossen worden, mindestens 140 Journalisten sind inhaftiert, andere sind geflohen. Die Pressefreiheit ist faktisch aufgehoben; wie die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) urteilt, genügt "ab jetzt das, was der Staatsanwalt in einen Text oder eine Äußerung hineinlesen will, für Festnahme, Verhaftung auf unbestimmte Zeit und Kontaktsperre". Der jüngste "Polizeiüberfall auf die Zeitung Cumhuriyet" ist, wie die SWP konstatiert, "ein Frontalangriff der Regierung auf die Oppositionsführerin im Parlament, die säkulare Republikanische Volkspartei (CHP), deren Sprachrohr die Zeitung ist".[1] Ende vergangener Woche ist nun zudem mit der HDP, der größten Partei des kurdischsprachigen Bevölkerungsteils, auch die zweite bedeutende Kraft der türkischen Opposition durch die Festnahme ihres Spitzenpersonals dramatisch geschwächt worden.


Das Ende der Republik

Gleichzeitig bereitet Ankara mit hoher Geschwindigkeit den Umbau der staatlichen Strukturen vor. Die Verfassungsänderung, die Erdogans Regierungspartei AKP gemeinsam mit der extrem rechten MHP verabschieden will, sieht eine umfassende Stärkung des Staatspräsidenten vor. Dieser werde "künftig nicht nur Regierungschef und Oberbefehlshaber des Militärs sein" sowie "'bei Gefahr im Verzug' das Land alleine in den Krieg führen" können, berichtet die SWP. Der Staatspräsident solle darüber hinaus "die Hälfte der Richter des Verfassungsgerichts und der anderen hohen Gerichte" sowie "den Generalstaatsanwalt und die Rektoren aller Universitäten" persönlich bestimmen können. Darüber hinaus werde er "das Recht zur Auflösung des Parlaments, zur Ausrufung des Ausnahmezustandes und zum Erlass von Notverordnungen" erhalten. Minister könne er in Zukunft "von außerhalb des Parlaments" ernennen; dies entledige ihn sogar "jeglichen Einflusses seiner eigenen Partei auf die Regierungsführung".[2] "Wir erleben das Ende der kemalistischen Republik, wie wir sie kennen", konstatiert die SWP: "Der Umbau des parlamentarischen Systems zur Alleinregierung Tayyip Erdogans" schreite "zügig voran".


"Eskalation vermeiden"

Berlin reagiert auf die diktatoriale Entwicklung seines türkischen NATO-Verbündeten mit der Fortsetzung der zuletzt immer engeren Kooperation. Bereits am Freitag Abend hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim vereinbart, "Beratungen" zwischen der Regierung in Ankara und dem Europaparlament einzuleiten. Es gehe darum, eine "Eskalation" zu vermeiden und die Lage zu entspannen, verlautete aus Schulz' Umfeld.[3] Berlin und Brüssel bestehen ausdrücklich auf einer weiteren Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsabwehr, die unter anderem die Massenabschiebung von Flüchtlingen in die Türkei vorsieht. Forderungen, auf den antidemokratischen Kurs mit einer Einschränkung der Kooperation zu reagieren, weisen deutsche Außenpolitiker aller Regierungsparteien zurück. Zwar müssten, falls die Türkei die Todesstrafe wieder einführe, "die Beitrittsverhandlungen" mit der EU "ausgesetzt werden", erklärt der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen; doch müssten unabhängig davon "unsere Türen offen bleiben".[4] Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordert ebenfalls, Berlin solle "alle Gesprächskanäle offen halten". Der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernd Siebert warnt davor, "übermäßig zu reagieren". Es handelt sich um die üblichen Formeln, die regelmäßig Anwendung finden, wenn die Zusammenarbeit mit einem repressiven Regime legitimiert werden soll.


"Nicht im Stich lassen"

Hintergrund sind strategische Interessen, die weit über die Flüchtlingsabwehr hinausreichen. Die Türkei ist ein bedeutender Investitionsstandort deutscher Unternehmen und deren viertgrößter Absatzmarkt außerhalb der EU; zudem gilt sie - insbesondere für Erdöl- und Erdgastransporte - als unverzichtbare Landbrücke aus dem Kaspischen Becken und Mittelost nach Europa (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Vor allem aber besitzt sie als NATO-Partner zentrale Bedeutung für die Operationen des westlichen Kriegsbündnisses im Nahen und Mittleren Osten. Die Bundeswehr hat die Flugzeuge, mit denen sie sich am Krieg gegen den IS beteiligt, im türkischen Incirlik stationiert und baut dort einen festen Stützpunkt aus, der langfristig genutzt werden soll. Der Bundestag soll das Mandat für die Stationierung laut ursprünglicher Planung an diesem Donnerstag verlängern. Forderungen, die Bundeswehr aus Incirlik abzuziehen, weisen Politiker der Regierungsparteien klar zurück: Man dürfe "die internationale Allianz" gegen den IS "nicht im Stich lassen" und könne "jetzt nicht Incirlik räumen", erklärt Franz Josef Jung, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.[6] Allenfalls eine kosmetische Verschiebung der Mandatsverlängerung ist im Gespräch. Tatsächlich geht die Kooperation mit dem türkischen Militär weit über die Truppenstationierung in Incirlik hinaus. Im ersten Halbjahr 2016 waren die türkischen Streitkräfte, die im Südosten des Landes Massenproteste mit mörderischer Gewalt niederschlagen, achtgrößter Empfänger deutschen Kriegsgeräts; Berlin genehmigte ihnen etwa die Lieferung von Flugzeugteilen sowie von militärischer Kommunikations- und Navigationsausrüstung in einem Gesamtwert von mehr als 76 Millionen Euro.


Berliner Arbeitsteilung

Zur Abwehr öffentlichen Protests setzt Berlin einmal mehr den Bundespräsidenten ein. "Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich", wird Joachim Gauck zitiert, der außerhalb des täglichen Regierungsgeschäfts steht und deshalb qua Amt für kritische, das empörte Publikum beruhigende Worte optimal geeignet ist.[7] Gauck wird sich zudem am heutigen Montag mit dem ehemaligen Chefredakteur der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, treffen, der vor der türkischen Repression ins deutsche Exil geflohen ist. Mit praktischen Folgen des Treffens, das Unmutsbekundungen gegenüber der deutschen Kooperation mit der Türkei dämpfen soll, ist nicht zu rechnen.


Anmerkungen:

[1], [2] Günter Seufert: Die Ohnmacht Deutschlands gegenüber der Türkei. www.swp-berlin.org 04.11.2016.

[3] Martin Schulz vereinbart Gespräche mit Yildirim. www.zeit.de 05.11.2016.

[4] Steven Geyer, Markus Decker: Türkei: Europa wendet sich ab. www.berliner-zeitung.de 06.11.2016.

[5] S. dazu Operationsstützpunkt Türkei
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59372
und Operationsstützpunkt Türkei (II).
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59413

[6] Steven Geyer, Markus Decker: Türkei: Europa wendet sich ab. www.berliner-zeitung.de 06.11.2016.

[7] Florian Gathmann, Florian Harms, Roland Nelles: Gauck kritisiert die Türkei. www.spiegel.de 04.11.2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2016

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