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AUSSEN/604: Colonia Dignidad - Merkel und Piñera für Aufarbeitung der Verbrechen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile / Deutschland
Colonia Dignidad: Merkel und Piñera für Aufarbeitung der Verbrechen

Von Ute Löhning


(Berlin, 13. Oktober 2018, npl) - Bundeskanzlerin Merkel und der chilenische Präsident Piñera bekennen sich zur gemeinsamen Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad und zur Einrichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte in der heutigen Villa Baviera. Die Gemeinsame Kommission zur Umsetzung des Hilfskonzepts für die Opfer der Colonia Dignidad konstituiert sich.

Über eines waren Angela Merkel und der chilenische Präsident Sebastián Piñera sich einig, nämlich "dass wir die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen kategorisch verurteilen", so der rechtskonservative Piñera am Mittwoch im Rahmen seines Staatsbesuchs in Deutschland. Merkel betonte, "dass wir die Aufarbeitung dieser Verbrechen gerade im Hinblick auch der überlebenden Opfer für außerordentlich wichtig erachten". Währenddessen demonstrierten auf der Straße vor dem Bundeskanzleramt in Berlin Menschen gegen Piñeras Politik in Chile und für die Rechte der indigenen Mapuche. Im Rahmen des Staatsbesuchs hatten beide Regierungschefs über Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des Freihandels gesprochen. Und eben auch über das düstere Kapitel der deutsch-chilenischen Geschichte: die Sekte, deren Namen übersetzt "Kolonie der Würde" bedeutet.


Zustände in der Colonia Dignidad waren bekannt

In der deutschen Sekte im Süden Chiles waren seit ihrer Gründung durch den Ex-Wehrmachts-Sanitäter und Laienprediger Paul Schäfer 1961 schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen worden. Der Alltag war geprägt von Freiheitsentzug, sklavenartigen Arbeitsverhältnissen und systematischem sexuellen Missbrauch an deutschen Bewohner*innen und Chilen*innen aus der Umgebung. Während der Pinochet-Diktatur ab 1973 kooperierte die Sektenführung mit dem chilenischen Geheimdienst DINA. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, nach Zeugenaussagen etwa einhundert ermordet. Bei der deutschen Regierung und der Botschaft waren die Zustände in der Colonia Dignidad bekannt. Sie sind aber nicht dagegen vorgegangen, haben Sektenbewohner*innen, denen die Flucht gelungen war, in mehreren Fällen keinen Schutz geboten und viele Menschenrechtsverletzungen zumindest toleriert.

"Wir arbeiten an einer Übereinkunft zur Einrichtung eines Dokumentationszentrums und vielleicht einer Gedenkstätte an dem Ort, an dem diese Verbrechen begangen wurden", erklärte Piñera. Sie hätten nicht im Detail darüber gesprochen, so Merkel, aber die Einrichtung eines Lernortes stehe im Raum. Darüber müsse weiter gesprochen werden, aber sie sehe das "vom Grundsatz her positiv".


Gedenkstätte, Dokumentations- und Lernort auf ehemaligem Sekten-Gelände geplant

Im Juni 2017 hatte der deutschen Bundestag einen einstimmigen Beschluss zur "Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad" gefasst. Darin fordert das Parlament die Bundesregierung auf, zusammen mit der chilenischen Regierung eine Gedenkstätte und einen Dokumentations- und Lernort in der deutschen Siedlung einzurichten. Das ist nicht leicht. Denn heute leben auf dem Gelände der Colonia Dignidad, die sich seit 1988 Villa Baviera - Bayerisches Dorf - nennt, noch über hundert Menschen und betreiben ein Tourismusunternehmen mit Hotel und Restaurant, manchmal auch mit großen Hochzeitsfeiern. Wenn die Regierungen beider Staaten sich einigen, sollen deutsche und chilenische Expert*innen nun endlich einen konkreten Entwurf für eine Gedenkstätte erstellen. Nach Einschätzung von Elke Gryglewski von der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz ist das "gut machbar, indem man in den fünf Hauptgebäuden, die wirklich historisch bedeutsam sind für die Geschichte von Unterdrückung, Ausstellungen bauen kann. Es müsste einen Ort geben, wo eine übergreifende Ausstellung gemacht wird, die die Gesamtgeschichte der Colonia Dignidad bis hin in die Villa Baviera hinein erzählt".

Im Bundestagsbeschluss vom letzten Jahr wird die Bundesregierung auch zur historischen Aufarbeitung, zur Aufklärung der Vermögensverhältnisse der Villa Baviera und zur Entwicklung eines Hilfskonzepts für Opfer der deutschen Sekte aufgefordert. Letzteres ging im ersten Anlauf allerdings ziemlich schief. Ein vom Auswärtigen Amt vorgelegter Entwurf für Hilfsmaßnahmen stieß auf breite Ablehnung bei Betroffenen und Abgeordneten. Im Kern konzentrierten sich die vorgeschlagenen Hilfen auf eine Unterstützung der Infrastruktur der Villa Baviera. - Zu Lasten aller derjenigen, die die Siedlung verlassen haben.


Bisherige Hilfskonzepte gescheitert

Der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU, Michael Brand, kritisiert in diesem Zusammenhang eine "strukturelle Fixierung des deutschen Staates insbesondere des Auswärtigen Amtes auf die Villa Baviera" und sagt: "Es gibt Opfer in Deutschland und es gibt Opfer, die die heutige Villa Baviera bewusst verlassen haben, weil sie nicht mit Tätern zusammenleben wollten oder einfach sagen, ich kann den Geruch nicht ertragen da, wo ich gefoltert oder misshandelt worden bin. Auch die müssen in dieses Konzept einbezogen werden."

Am Mittwochabend traf sich die Gemeinsame Kommission zur Umsetzung des Hilfskonzepts für die Opfer der Colonia Dignidad zu ihrer konstituierenden Sitzung. Abgeordnete aller Fraktionen tagen hier zusammen mit Vertreter*innen aus Bundeskanzleramt, Auswärtigem Amt, Finanz-, Gesundheits- und Arbeitsministerium. Sie sollen Kriterien definieren, nach denen Hilfsleistungen an Opfer der Sekte vergeben werden. Doch die Abgeordneten fordern zuerst einen neuen Vorschlag für ein Hilfskonzept. "Als Parlament erwarten wir von der Bundesregierung, insbesondere vom Auswärtigen Amt, eine aktive und ergebnisorientierte Unterstützung", sagte Michael Brand von der CDU.

Zur Abstimmung ihrer Vorgehensweise wollen die Abgeordneten sich zunächst untereinander treffen und auch Expert*innen anhören. Friedrich Straetmanns von der LINKEN erklärte nach der Sitzung der Kommission: "Über alle Parteigrenzen hinweg beschäftigt uns der Wunsch nach einer zügigen und menschlich fairen Lösung dieser Frage. Wir wollen den Opfern signalisieren, dass wir sie nicht alleine lassen, und dass wir als Parlamentarier jetzt verstärkt Druck machen."


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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2018

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