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BERICHT/020: Einkommen und Bildung beeinflussen die Chancen politischer Teilhabe (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 134/Dezember 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die soziale Frage der Demokratie

Einkommen und Bildung beeinflussen die Chancen politischer Teilhabe

von Sebastian Bödeker


Die Chancen, aktiv an der politischen Willensbildung teilzunehmen, sind unterschiedlich verteilt: Wer einen niedrigen oder gar keinen Bildungsabschluss und wer ein niedriges Einkommen hat, beteiligt sich deutlich weniger an demokratischen Prozessen als gut Ausgebildete und Menschen mit höherem Einkommen. Dies gilt für Beteiligung an Wahlen und Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen wie für die Bekundung des politischen Willens mittels Unterschriftenlisten oder Online-Initiativen. Bei der Debatte um eine Stärkung der Demokratie muss die soziale Dimension daher stärker berücksichtigt werden.


Es wird in Deutschland wieder über die Krise der Demokratie debattiert, zuletzt besonders heftig während der Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Sommer 2010. Dabei geht es um Politikverdrossenheit, Lobbyismus und die Übermacht wirtschaftlicher und politischer Eliten. Viele der vorgebrachten Lösungsvorschläge für die Misere der parlamentarischen Demokratie sind institutioneller Art: Volksentscheide und andere Formen direkter Bürgerbeteiligung sollten eingeführt bzw. verstärkt genutzt werden. Es gilt aber auch, über die sozialen Grundlagen demokratischer Willensbildung und Beteiligung nachzudenken. Bietet unsere Gesellschaft wirklich allen Bürgern die gleichen Chancen, sich einzubringen und die eigenen Interessen zu artikulieren?

Politische Gleichheit ist ein fundamentales Prinzip demokratischer Herrschaft. Gleichheit erschöpft sich hierbei nicht in einem Rechtsanspruch auf freie Wahlen und dem Grundsatz der gleichen Gewichtung jeder einzelnen Stimme; sie ist vielmehr auf komplexe Weise mit der Input- und Output-Seite demokratischen Regierens verknüpft. Politische Gleichheit ist in einem substanziellen Sinne als gleiche Berücksichtigung von Interessen der Bevölkerung zu verstehen. Wer diesen Anspruch als Kernidee von Demokratie akzeptiert, muss sich der hohen Anforderungen bewusst sein, die sich daraus für demokratisches Regieren ergeben. Aus dem Grundsatz politischer Gleichheit lässt sich eine Reihe notwendiger Bedingungen ableiten, von deren Erfüllung politische Gleichheit abhängt.

1. Jeder Bürger muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen so autonom wie möglich zu erkennen und sich ein Urteil über mögliche Alternativen zu bilden. Ein politisches System muss dafür die Bedingungen schaffen. Hierzu zählen insbesondere Freiheitsrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, und der Zugang zu Bildung, die es ermöglicht, Argumente abzuwägen und Interessen zu artikulieren.

2. Jeder Bürger muss die Möglichkeit haben, seine Interessen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen oder seine Interessen von anderen vertreten zu lassen. Unterschiedliche Interessen müssen dabei die gleiche Chance haben, im politischen Entscheidungsprozess Gehör zu finden.

3. Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen politischer Entscheidungen müssen die Interessen der Bevölkerung im gleichen Maße berücksichtigt werden. Diese Frage der Gewichtung ist jedoch höchst umstritten; es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine gleiche Berücksichtigung von Interessen genau beinhaltet. John Rawls etwa vertritt das sogenannte Differenzprinzip: Entscheidungen sollten so getroffen werden, dass sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Anders als das utilitaristische Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens ist das Differenzprinzip geeignet, die Bedingung der gleichen Berücksichtigung von Interessen zu erfüllen. Denn der Maßstab für politische Entscheidungen sind nach dieser Idee die Interessen der von einer Entscheidung am wenigsten Begünstigten.

Betrachtet man nun die empirischen Befunde der Demokratie- und Partizipationsforschung, zeigt sich, wie wenig die Bedingungen für politische Gleichheit erfüllt sind. Einkommensschwache Teile der Bevölkerung sind bei allen Formen politischer Partizipation unterrepräsentiert. Dies gilt für die Wahlbeteiligung ebenso wie für politische Mitgliedschaften oder nicht organisationsgebundene

Die Betrachtung der politischen Beteiligung je nach dem erreichten Bildungsabschluss ergibt ein ähnliches Bild: Wer Abitur hat, beteiligt sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit am politischen Prozess als der, der nur einen Hauptschul- oder keinen Abschluss hat. Wenn über den insgesamt starken Rückgang der Wahlbeteiligung und den massiven Mitgliederschwund der etablierten Parteien geklagt wird, darf diese spezielle Problematik nicht ausgeklammert werden.

Gelegentlich wird dieser Trend weniger als Ausdruck einer Krise, sondern als kultureller Wandel der demokratischen Praxis interpretiert. Die zurückgehende Wahlbeteiligung etwa werde durch andere Formen des politischen Engagements kompensiert, wird argumentiert. Bürgerinnen und Bürger mischten sich aktiv ein und wollten ihre Interessen außerhalb etablierter Kanäle selbst in die Hand nehmen. Zwar ist es richtig, dass Aktivitäten wie zum Beispiel die Mitarbeit in Bürgerinitiativen oder die Teilnahme an Unterschriftensammlungen zugenommen haben, doch sind diese Formen des politischen Engagements in noch höherem Maße von Bildungsgrad und Einkommen abhängig. Diese Varianten der Beteiligung am politischen Prozess können eine schwächelnde Wahlbeteiligung oder die zurückgehende Mitarbeit in Parteien nicht ersetzen.

Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf politische Partizipation werden auch auf der Ebene handlungsbezogener Einstellungen sichtbar: Das generelle Interesse an politischen Sachverhalten und Prozessen ist in hohem Maß von Einkommen und Bildung abhängig. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass der Glaube daran, dass die eigene politische Betätigung eine Wirkung hat, bei bildungsfernen und einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung äußerst gering ausgeprägt ist. Politik wird von sozial benachteiligten Menschen als eine Veranstaltung politischer Eliten betrachtet. Die eigenen Einflussmöglichkeiten werden gering eingeschätzt. Somit kommt es zu "Mechanismen des Selbstausschlusses", die zu einem noch geringeren politischen Engagement sozial Benachteiligter führen. Das ist insbesondere bei modernen Formen politischer Partizipation der Fall, die auf Eigeninitiative und Flexibilität setzen.

Eine nach sozialer Lage und Bildungsstand differenzierte ungleiche Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen ist nicht nur ein abstraktes Problem, sondern hat unmittelbare Auswirkungen auf politische Inhalte und Politikgestaltung: Wenn ganze gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen weniger zum Ausdruck bringen, wird das fundamentale Prinzip politischer Gleichheit verletzt.

Die soziale Selektivität des politischen Systems ist das eigentliche Problem repräsentativer Demokratie. Erstens sind bildungsferne und ressourcenschwache Bevölkerungsgruppen im geringeren Maße fähig, ihre Interessen zu identifizieren und mögliche Alternativen bei politischen Entscheidungen gegeneinander abzuwägen. Zweitens sind sozial benachteiligte Menschen im politischen System unterrepräsentiert; ihre Interessen finden somit bei politischen Entscheidungen weniger Gehör. Drittens führt die zunehmende soziale Selektivität zu einer verzerrten Berücksichtigung von Interessen bildungsferner und einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen.

Die Einführung und vermehrte Nutzung direktdemokratischer Verfahren, die mit der Hoffnung einer unmittelbaren und unverzerrten Berücksichtigung von Bevölkerungsinteressen verbunden ist, wird allein an dem eigentlichen Problem wenig ändern. Die sozialen und institutionellen Dimensionen müssen im Kontext analysiert werden, wie dies auch Alexander Petring und Wolfgang Merkel in diesem Heft tun (siehe Printausgabe S. 30-33). Wird die soziale Dimension vernachlässigt, könnten institutionelle Reformen sogar zu einer weiteren Verschärfung sozialer Selektivität beitragen. Das hat die Abstimmung über die Schulreform in Hamburg im Sommer 2011 eindrucksvoll bewiesen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei lediglich 39,3 Prozent und unterschied sich stark nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In sozial schwächeren Stadtteilen war die Walbeteiligung um ein Vielfaches geringer als in den wohlhabenden Gegenden. Die eindeutigen Gewinner des Volksentscheids waren die einkommensstarken und gut gebildeten Familien der Hamburger Mittelschicht, deren Kinder auch weiterhin einen privilegierten Zugang zu Bildung genießen werden.

Was kann also getan werden, um der Zunahme sozialer Selektivität im politischen System entgegenzuwirken? Prinzipiell lassen sich drei Strategien unterscheiden, die sich im Idealfall gegenseitig verstärken können:

1. Der Abbau sozialer Ungleichheiten durch sozial- und verteilungspolitische Maßnahmen, vor allem aber durch eine aktive Bildungspolitik. Bildungseinrichtungen kommt hierbei nicht nur eine klassische Ausbildungsfunktion zu; sie sollten gleichzeitig als Orte verstanden werden, in denen demokratische Praktiken vermittelt und eingeübt werden. Demokratieerziehung sollte zum zentralen Bestandteil der Bildungspolitik werden.

2. Die Stärkung der Interessenrepräsentation sozial benachteiligter Teile der Bevölkerung. Dies kann durch eine Stärkung oder Neugründung von Organisationen erfolgen, die sich für die Interessen sozial Benachteiligter einsetzen; zudem müssen die Strukturen, in denen solche Organisationen politisch aktiv sind, verbessert werden. Hierzu zählen unter anderem die Begrenzung der Lobbymacht wirtschaftlicher Interessen und eine Verbesserung des Zugangs von kleineren zivilgesellschaftlichen Akteuren zu politischen Entscheidungen. Eine entscheidende Rolle spielen in diesem Kontext auch die politischen Parteien. Um ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, muss es ihnen gelingen, mehr Mitglieder aus sozial benachteiligten Schichten anzusprechen und für eine dauerhafte Mitarbeit zu gewinnen.

3. Die Aktivierung sozial Benachteiligter für eigenes politisches Engagement (empowerment). Eine Stärkung der Strukturen und Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Bereich könnte zu einer Aktivierung sozial benachteiligter Gruppen beitragen. Unter dem Schlagwort community organizing werden Konzepte diskutiert, wie sich bestimmte soziale Gruppen für politisches Engagement in ihrem lokalen Kontext gewinnen lassen.

Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen sind gefordert, wenn es um die Bekämpfung sozialer Selektivität und die Verwirklichung politischer Gleichheit geht. Institutionelle Reformen des politischen Systems können sinnvoll sein - ohne Berücksichtigung der sozialstrukturellen Dimension können sie die Probleme der repräsentativen Demokratie jedoch nicht beseitigen.


Sebastian Bödeker ist seit September 2011 als Doktorand im Programm der Berlin Graduate School for Transnational Studies Mitglied der WZB-Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen. Er hat an der University of Indiana (Bloomington) und der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft studiert und arbeitet zu politischer Partizipation, sozialen Bewegungen und transnationalen Nichtregierungsorganisationen.
boedeker@wzb.eu


Literatur
Bartels, Larry M.: Unequal Democracy. The Political Economy of the New Gilded Age. New York/Princeton: Princeton University Press 2008.

Bödeker, Sebastian: Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland. Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft? Frankfurt a.M.: Otto Brenner Stiftung (im Erscheinen).

Klatt, Johanna/Walter, Franz (Hg.): Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld: transcript 2011.

Schäfer, Armin: "Die Folgen sozialer Ungleicheit für die Demokratie in Westeuropa". In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Jg. 4, Heft 1, 2010, S. 131-156.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 134, Dezember 2011, Seite 26-29
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2012