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DISKURS/081: Rechtsstaat und Revolution (spw)


spw - Ausgabe 3/2009 - Heft 171
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Rechtsstaat und Revolution

Von Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke und Paul Schäfer


Die Enteignung nach Artikel 14,15 GG ist jetzt in aller Munde. Hingegen: die bisherigen Enteignungen von Kleinunternehmen (ca.25.000 Insolvenzen p.a.), Kleinaktienbesitzern, Häuslebauern wurden ebenso selten öffentlich verhandelt, wie die Enteignung der Arbeitskräfte. Die Expropriation der Expropriateure ist zwar ein kluger Kalauer, verrät aber nichts über künftige Eigentumsformen und vor allem auch nichts über den Charakter seines Eigentumsüberträgers: den Staat. Was sagen denn wir, wenn sich die gegenwärtige Kapitalkrise in ein paar Monaten in eine Superstagflation oder Währungsreform entlädt? Eine handlungsfähige LINKE muss Staat neu konzipieren lernen. Und dies vom Standpunkt des privaten Handwerks, der Ökolandwirte, der aufgeklärten Citoyens, aber vor allem der Opelianer, der Nokia-Belegschaft, der Kolleginnen und Kollegen bei Conti, bei Commerz- und Deutscher Bank, jedoch nur bei Entfaltung des sozialpartnerschaftlich konditionierten Tradeunismus hin zum Bewusstsein der Klasse an und für sich.


Seit "Staat und Revolution" haben die Leninisten in Deutschland einen wirren Staatsbegriff verbreitet. Einerseits sollte der Staat absterben. In Wahrheit, andererseits, wuchs er mit der regierenden Partei zum Monstrum. Gegen Levi und Luxemburg stimmten sie, fixiert auf schnelle Rätemacht, gegen die Teilnahme an der Nationalversammlung. Dann setzten sie auf Sowjetdeutschland statt auf einen deutschen Weg zur Wirtschaftsdemokratie; gegen Abendroth und Bloch auf eine alles beherrschende Partei statt auf Gewaltenteilung.

Alle bisherigen Sozialismen entströmten direkt Krieg und Bürgerkrieg, deren Verrohung auch vor Kriegsgegnern nicht halt macht. Und was lag da näher? Der Griff nach demokratischer Gewaltenteilung? Oder nach einer überstarken Partei, die die Macht nicht wieder an die altbekannten Gewalttäter verliert? Was war von ihnen zu erwarten? Und zwar von den 1917 von der Entente brutal überfallenen Russen? Den Familienangehörigen der von den Faschisten ermordeten 20 Millionen Sowjetmenschen? Oder anders gefragt: wie ist einem Buchenwald-Häftling gegenüber SS-Leuten und NS-Financiers die Unschuldsvermutung abzuverlangen - jenes Kernstück aufgeklärter Rechtssprechung? Diese Tragik schwingt durch Brechts "An die Nachgeborenen": "auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge ... . wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein". Antikommunistische Geschichtsbetrachtung zerschneidet Zusammenhänge, echauffiert sich über "Mauer, Stasi-Terror, Zwangsvereinigung" der Kriegssozialisten - und verschweigt den bestialischen Kapitalterror, der diese zuvor durchprägte. Es ist an der Zeit zu einer ganzheitlichen Geschichtssicht: auch Guillotine und Terreur sind nicht ohne das Jahrhundert der Schreckensherrschaft von Sonnenkönigen gegen die Mehrheit ihrer Untertanen zu verstehn.

Aber unsere Wirkungsbedingungen sind qualitativ andere: seit 60 Jahren existiert die Bundesrepublik mit dem Grundgesetz und die Linke ohne politische Massenmorde. Notstandsgesetze, Berufsverbote und Asylrechtsbeschneidungen haben die Verfassung beschädigt. Die legale NPD und die 200 rassistischen Morde sind Terror gegen die Demokratie. Die Übermacht der Konzernmedien ist schlimm. Aber selbst dies, plus 5-Prozent-Hürde, Geheimdienst-Überwachung Linker u.a. reicht nicht hin, uns jüngeren Marxisten mit jener "Nachsicht" zu begegnen, die Brecht für die Kriegssozialisten reklamiert.


Ein demokratischer Staat, besonders wenn er von oben nach unten umverteilt, enteignet und schließlich die Brüche vollzieht zum "geschäftsführenden Ausschuss" (Engels) der Monopolbourgeoisie, braucht für Putschresistenz eher nicht Geheimdienste, Militär und andere Repressionen, sondern zu allererst aktivierbares Vertrauen breiter Mehrheiten. Der armen Sau nämlich, die, bevor sie zu Michael Kohlhaas wird, gegen Hartz IV oder anders die Würde des Menschen einklagt, ist es egal, ob das Urteil von einem SED-Parteisekretär oder von Kapital und Arbeitergebermedien manipuliert wurde: sie will eine unabhängige Rechtsprechung! Sonst ist es nicht mehr ihr Staat!


Wie aber soll Verstaatlichung gehen ohne einen neuen Begriff vom Staat? Die Neoliberalen nahmen dessen unternehmerische Behäbigkeit und kameralistische Ineffizienz zum Vorwand für ihren Privatisierungsfeldzug. Sie haben die öffentliche Hand nicht reformiert. Sie haben "outgesourct". Einige Sozialdemokraten schlossen sich ihnen, vor den Insuffizienzen des Staats kapitulierend, an. Nun, da die Privatisierungsfolgen Neoliberalismus und Reformismus ins schwere Wasser ziehen, gelangen wieder Alternativen ans öffentlich-diskursive Tageslicht: Belegschafts-Eigentum (mit dem Risiko neuer Standort-Konkurrenzen und Überproduktion), Genossenschaften, Kommunalisierung (als regionale Verstaatlichung), sowie die öffentlich-rechtliche Anstalt (Sparkassen und Rundfunk). In Bolivien heisst die Änderung: das neue gesellschaftliche Klima muss in die Verfassung - in Deutschland geht es umgekehrt. Kein Betrieb darf mehr grundgesetzfreier Raum bleiben!


Darum müssen wir breit diskursiv werben für den Rechtsakt der Verstaatlichung (statt nebulöser Überbetonung der "Zivilgesellschaft", die in Deutschland ja zuvörderst aus den traditionellen Vereinen besteht!). Auch künftige Aufsichtsorgane müssen ins Visier: bei Banken, Stromkonzernen, Rüstungsbetrieben in konversiver Abrüstung, Verkehrsunternehmen etc. Warum soll die Linke nicht breit darüber zu diskutieren beginnen, wie Greenpeace, attac, amnesty international, Ostermarschkreis und natürlich auch noch mehr Kirchen, Gewerkschaften u. ä. in Aufsichtsorgane kommen? So etwas schafft der Vergesellschaftung neue, aktivierbare Freunde; die europäische "Unidad Popular" muss um den Staat und für neue Eigentumsformationen entstehen!

Das öffentlich-rechtliche Institut hat zum Beispiel bereits im Kapitalismus gegenüber dem privatkapitalistischen zumindest seine Ebenbürtigkeit bewiesen. Die "Bavaria" (Konzerntochter von Bayrischem und Westdeutschem Rundfunk) konkurriert sogar erfolgreich mit privatkapitalistischen Unterhaltungsfirmen in Hollywood um die Gunst der Kino- und Fernsehzuschauer. Und die Sparkassen haben sich im gegenwärtigen Finanz-Tsunami als Kredit-Fels in der Brandung erwiesen.

Eine auf Wirtschaftsdemokratie orientierte Staatsreform wurde bislang von der Linken weitgehend ausgeblendet. Einerseits bestehen Demokratie- und Transparenzdefizite (mit dem auch Landesbanken durch mangelnde Kapitalaufsicht in die Finanzkrise gesogen wurden) und andererseits: mangelnde unternehmerische Kompetenz. Wer kann sich vorstellen, dass gegenwärtige Staatsangestellte einen Konzern kreativ und mit hartem Kostenregime führen könnten? Warum sollen nicht, statt ausser Landes getrieben zu werden, die besten Techniker und Unternehmer gut bezahlt ihren Platz in einer sozialistischen Gesellschaft finden?


Das alte Revolutionskonzept war um den einen einzigen Bruch gebunden: Sturm aufs Winterpalais als Nachfolge-Metapher der Bastille. Daraus resultierten zwei Revolutionen, die der ökonomischen Basis (Verstaatlichung bis zum letzten Handwerksbetrieb) und die von Überbau und Staat (durch eine omnipotente Partei). Ist es nicht an der Zeit, die Kraft auf eine Revolution zu konzentrieren, die aus längerwährenden und vielen Brüchen bestehen kann? So sah Rosa Luxemburg laut Protokoll der KPD-Gründung, dort die Oktoberrevolution "nicht im März 1917", sondern bereits "mit der Revolution von 1905" beginnen! Aus einer Revolution der ökonomischen Basis wüchse dann die Demokratisierung des Staats. Warum sollen nicht dann der neue Staat, der neue Mensch, die neuen Kulturen usw. aus und nach der revolutionär überwundenen Kapitalmacht mit nachholender Demokratisierung wachsen? Sind denn Staatsbürokratie und Eliten heute so demokratiepolitisch unbrauchbar wie 1918 oder 1945?


Der freundliche, weil starke und der starke, weil freundliche Staat der Zukunft wird mit aufgewerteter parlamentarischer Demokratie gestützt auf Massenbewegungen, neue Streik- und Mobilisierungsfähigkeit, flankiert von Volksentscheiden dann zum anderen demokratischen Staatstypus, wenn das ökonomische System des Monopolkapitals überwunden wird. So werden Lobbyisten-Unwesen und sublime Formen der Kapital-Korruption entkräftet. Auch der "Schumpetersche Erfinderunternehmer" blüht doch privat erst auf, wenn die Börsenmacht gebrochen und die KMU-Kreditvergabe dem Allgemeinwohl unterstellt ist. Eine demokratische Revolution hebt unternehmerische Talente im Hegelschen Dreifachsinn bei sich gut auf und wird zum "unternehmerischen Sozialismus", weil auch unternehmerische Kulturtechniken sozialisiert werden.

Die Überwindung der Machtzentren des Monopolkapitals würde doch Rechtsstaatlichkeit überhaupt erst entfalten. Neue Meinungsfreiheit würde von der Papierform aufstehen. Die einseitige ("Spiegel" bis "BILD"-) Bevormundung jener 40-70 Prozent der Bevölkerung, die gegen Tornados, Rentenklau und Finanzkasino sind, würde nicht durch Medien- Verbote, sondern durch lebendige Pluralität beendet werden.


Reichere können dann keine juristischen Privilegien kaufen, aber Ärmere zinslos Kapital bekommen für eigene Medien. So wie die Gewerkschaften einst eingeladen waren, den rheinischen Kapitalismus mitzuprägen, werden Christdemokraten gefragt sein, den zukünftigen Sozialismus christlicher, Liberale ihn freiheitlicher, Grüne ökologischer, Sozialdemokraten langsamer und Linke ihn zügiger zu gestalten.

Mit der Verstaatlichungsdebatte wird ein linker Diskurs der Linken in den drei linken Parteien über Staat und Recht unausweichlich. Engels sah die Arbeiterbewegung auf dem von der Bourgeoisie geschaffenen Gesetzeszustand, pralle Muskeln und rote Backen bekommen[1]. Die vom Grundgesetz ausdrücklich legitimierte Gewaltanwendung (Streik, Massendemonstrationen, Widerstand und Ungehorsam gegen die Aushebelung seiner Artikel 1-20) ist nicht nur von den Repressionsorganen schwerer zu skandalisieren und zu zerschlagen, sie hält die Aufbegehrenden auch von der Inflationierung ihrer Mittel ab, Gewalt nämlich anstelle von Massenaktionen zu praktizieren. Hatten durch Krieg und Bürgerkrieg verhärtete Leninisten noch die überstarke Partei im Sinn, so wird hier und heute rechtsstaatliche Machtkontrolle bindend. Revolutionäre Kräftekonzentration auf die demokratische Enteignung der Monopolmacht braucht zuvor die Hegemonie Gramscis. Das heisst vor allem: Überwindung kleinbürgerlicher Ängste vor Totalstaat und Totalverstaatlichung. Sozialismus wird hegemonial als Glücksentwurf zu verbreiten sein, nicht als neuer Dschungel von Verbotsschildern.


Wir haben hier zwar weder Venezuela, Bolivien, Kuba noch China oberlehrerhafte Vorschriften zu machen, ohne es selbst anders gemacht zu haben. Wir haben auch nicht bisherige Sozialismus-Anläufe zu verdammen oder uns bei der Spiegel-Redaktion dafür zu entschuldigen. Aber die Revolution in unseren Zeiten und Breiten wird demokratisch, unternehmerisch und rechtsstaatlich sein. Wenn sie nicht dem "Untergang in die Barbarei" (R. Luxemburg) weichen will.


Dr. Diether Dehm ist europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke und Landesvorsitzender von DIE LINKE Niedersachsen sowie Bundesvorsitzender des Unternehmerverbands OWUS. Er war einst SPD-MdB und AGS-Bundesvorsitzender, sowie Mitbegründer von SPW.

Wolfgang Gehrcke ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke.

Paul Schäfer ist verteidigungs- und friedenspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke.


[1] Engels wörtlich: "Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die "Revolutionäre", die "Umstürzler", wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen."
[Engels: Einleitung zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich", S. 33, vgl. MEW Bd. 22, S. 525]


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2009, Heft 171, Seite 49-52
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2009