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DISKURS/103: Die Gründe für praktisch wirksamen Linksreformismus sind brennend aktuell (spw)


spw - Ausgabe 4/2014 - Heft 203
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Kratzer im halbvollen Glas
Die Gründe für praktisch wirksamen Linksreformismus sind brennend aktuell. Doch der Stand der rot-rot-grünen Beziehungen macht skeptisch

von Tom Strohschneider



Crossover

Soll eine sozial-ökologische Kräftekonstellation im Jahr 2017 keine Wunschvorstellung bleiben, muss sie durch intensive Debatten zwischen den linken Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Bewegungen vorbereitet werden. Aus Sicht der SPD-Linken hat der Öffnungsbeschluss von Leipzig Möglichkeiten für eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit auf Bundesebene eröffnet, die vorher SPD-intern blockiert waren. Andererseits erschwert die Einbindung der Partei in die große Koalition zugleich die langfristige und glaubwürdige Suche nach neuen Bündnissen. Es gilt, nicht nur auf bekannte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verweisen, sondern Brücken über die unterschiedlichen programmatischen Ansätze und Vertrauen zwischen den Akteuren zu bilden. Wird dieser Prozess allein machttaktisch und nicht als politisches Projekt verstanden, entsteht weder unter den beteiligten Akteuren noch in den jeweiligen Wählerklientelen Vertrauen. Mit der neuen Artikelserie crossover versucht spw, die diskursiven Schnittmengen zwischen progressiven Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu vergrößern und gemeinsame politische Gestaltungsperspektiven zu entwickeln. In dieser Ausgabe kommen Susanne Hennig-Wellsow, Thüringer Landesvorsitzende der Partei Die Linke, sowie Tom Strohschneider, Chefredakteur der Zeitung "neues Deutschland", zu Wort.


Ob man ein Glas als halb voll oder als halb leer betrachtet, hängt meist von der Perspektive ab, aus der geblickt wird.

Wer zum Beispiel einen Politikwechsel, der diesen Namen auch verdient, für eine Angelegenheit hält, die unter einem bundespolitischen Bündnis aus SPD, Linkspartei und Grünen ins Werk gesetzt werden könnte, wird auf die laufenden Debatten und Treffen von Vertretern der drei Parteien verweisen - und von einem halb vollen Glas sprechen: Es gibt viele Schwierigkeiten - Außenpolitik! Schuldenbremse! - aber auch einen hinreichenden Vorrat an gemeinsamen Zielen und Vorstellungen.

Wer aber gegen eine rot-rot-grüne Koalition ist, wofür es Gründe gibt, die sich links oder rechts dieser Option positionieren können, findet in der öffentlichen Debatte ausreichend Belege, um das Glas als halbleer zu beschreiben - oder sogar als zersprungen, als mutwillig ausgeschüttet, als eine Illusion.

Es gibt in diesen Wochen in der Tat eher Anlass zur Skepsis, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob 2017 eine parlamentarische Mehrheit links der Union aus SPD, Grünen und Linken praktisch wirksam werden könnte. Es hat sich in der (medialen) Diskussion über ein bundespolitisches Rot-Rot-Grün, so könnte man es sagen, eine Art negativer Gleichgewichtszustand eingestellt. In diesem stoßen erwartbare Vorhaltungen aus der einen Ecke auf erwartbare Reaktionen aus der anderen Ecke - und zwischendrin durchbricht einmal die freundliche Mahnung das Reiz-Reaktions-Schema, es gehe doch um viel zu Wichtiges, da sei kurzsichtiges parteipolitisches Taktieren fehl am Platz.

Jedes Plädoyer, über den parteipolitischen Rahmen hinauszudenken und vor allem die inhaltlichen Bestimmungsmomente ins Visier zu nehmen, ist dabei so richtig, wie die Enttäuschung der handelnden Personen über Akteure in den jeweils anderen Parteien immer größer zu werden scheint.

Ist das zu pessimistisch betrachtet? Zumindest nicht für den Zeitungsleser. Gern laufen führende Vertreter von SPD, Grünen und Linkspartei in den ausgelatschten Trampelpfaden eines politisch-medialen Betriebs im Kreis herum, der genau das zum Stoff der kommenden Schlagzeile machen kann und will. Die Unterkomplexität aktueller Berichterstattung ist dabei aber keineswegs nur "die Schuld" von Medien, die sich der Logik der Warenförmigkeit von Neuigkeiten zu gern unterwerfen und also auch dann News produzieren müssen, wenn diese nicht mehr als die variante Wiederholung des Immergleichen sind.

Es wird von politischer Seite zudem diszipliniert über alle hingehaltenen Stöckchen gesprungen - und sei es aus Rücksicht auf innerparteiliche oder parteiegoistische Überlegungen.

Etwa wenn der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Toni Hofreiter, in einem Interview auf die Frage zur Oppositionsarbeit seiner Partei mit einer Breitseite auf jene der Linken antwortet, dabei von der Formenkritik (Grad der Empörungsrhetorik) auf bizarre inhaltliche Unterstellungen (Verelendungstheorie) kommt, um schließlich zu erklären, weil unter anderem die Grünen sich auf die Linkspartei zubewegt hätten, seien nun "auch die Angriffe der Linken auf uns so heftig".

Da wird dann mit Pathologisierungen nicht gespart - und in der nächsten Runde mit gleicher Münze heimgezahlt. In diesem Falle von Linksfraktionsvize Klaus Ernst, der Hofreiter attestierte, "einfach nur noch wirr" zu sein beziehungsweise "Schwachsinn" zu behaupten und überhaupt "ein Irrlicht" darzustellen. Dass hier als Beispiel ein Grüner und ein Linker genannt sind, darf keineswegs so verstanden werden, dass Sozialdemokraten vor derlei Gebaren gefeit sind. Fortsetzung folgt mit Sicherheit - und mit Sicherheit ist dann auch wieder jemand von der SPD dabei.

Es ist ein Dilemma: So "normal" diese Form der "parteipolitischen Auseinandersetzung" für den Parlamentsbetrieb und seine Konkurrenz- sowie Institutionenlogik ist, so wenig scheint sie den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen. Dies gilt für die Arbeit der großen Koalition zwar auch - abgesehen vom Mindestlohn ist kein "Reformprojekt" erkennbar, dass entsprechendes Gewicht auf die Waage bringt. Stattdessen werden Debatten wie jene über die Maut oder die Kalte Progression zu Großkonflikten aufgebauscht. Aber die große Koalition, die im Lichte der realen Wählerzahlen gar keine ist, lässt sich nicht als Maßstab dulden. Sie ist die parlamentarische Not-Form einer blockierten Gesellschaft.

Nötig sind weiterhin: sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft, neuer planetarer Ausgleich zwischen Rohstoff- und Ökosystembesitzern auf der einen sowie industriellen Produzenten auf der anderen Seite; Neuverteilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit sowie der Einkommen; Entfesselung anderer gesellschaftlicher Innovationsmechanismen als denen der privaten Warenproduktion, radikale Erneuerung der Demokratie in Gesellschaft und Betrieb. Und noch viel mehr. Der Bedarf an Reformen ist "groß und geht über Maßnahmen zur Bewältigung allein der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise weit hinaus. Mehr noch, er geht über die Krisensituation selbst hinaus, denn auch das, was als normal gilt, ist in vielerlei Hinsicht reformbedürftig", so hat es Alex Demrovic einmal formuliert.

In der Frage der Dringlichkeit tiefgreifender Veränderungen könnte sich die politische und soziale Linke bis hinein in die SPD wohl im Grunde einig werden. Deutliche Unterschiede gibt es natürlich: in der Theorie, in der Analyse, bei der Wahl der Mittel, in der Rhetorik. Deshalb wird man eine Strategie der Veränderung verfolgen müssen, die Kooperation zwischen Parteien unter den Bedingungen komplexer Interessenlagen, starker Machtgruppen und parlamentarischer Mechaniken zu praktizieren im Stande ist. Zugleich braucht es ein Wechselspiel mit nicht parteiförmigen und parlamentarischen Bewegungen; muss die Langfristigkeit von herrschenden, das heißt auch in uns selbst eingeschriebenen Diskursen, Wertvorstellungen usw. berücksichtigt, müssen neue Formen praktizierter Gegen-Politik erprobt - und ausgehalten werden.

Natürlich: Wie sich die Diskussion in den kommenden Jahren entwickeln wird, ist kaum abzusehen. Schon die Landtagswahlen im Osten im Spätsommer dieses Jahres könnten zu ganz anderen Bedingungen führen - so oder so. Und was noch an Herausforderungen auf die Tagesordnung rückt, macht keine Glaskugel sichtbar. Die Diskussion wird dennoch weitergehen, es wäre wünschenswert, sie schöpfte dabei manchmal stärker als bisher aus den bereits gemachten Erfahrungen.

Erstens Nötig scheint immer wieder eine ehrliche Bestandsaufnahme darüber, was unter dem Rubrum "Crossover" läuft, wie gut die begonnene Vernetzung tatsächlich funktioniert, welche reale gesellschaftliche Wirkung entfaltet wird. Dazu gehört auch zu sagen, was Crossover nicht ist, wo es seine Begrenzungen hat. Es gibt nicht "den" Crossover, sondern viele, teils sehr unterschiedliche, teils sogar konkurrierende Ansätze. Zwischen sowie innerhalb der Parteien gibt es tiefe Widersprüche - diese gehören politisiert, weil sie auch in der Zukunft nicht verschwinden, sondern bearbeitet werden müssen. Wie steht es denn tatsächlich um die Transformationslinke in den drei Parteien und jenseits davon in Gewerkschaften, Kultur, Wissenschaft? Darüber nachzudenken erscheint sinnvoller, als immer mal wieder einen "völlig neuen Crossover" auszurufen, der doch nur darauf hinausläuft, die gegenwärtigen Probleme auf anderer Stufe zu reproduzieren.

Zweitens sei davor gewarnt, die Diskussion so zu führen, als sei Rot-Rot-Grün bereits ein Anliegen einer Mehrheit der Gesellschaft. Die bloße Addition von Umfragemehrheiten über Forderungen, Werte oder Parteineigungen macht noch keinen politischen Frühling. Horst Kahrs hat darauf hingewiesen, dass Rot-Rot-Grün derzeit vor allem "eine Spielmarke des politisch-medialen Betriebs" ist. Anders gesagt: Für die Mehrheit in der SPD ist die Dreierkonstellation eine nachrangige machtpolitische Variante, für die Journalisten ein mehr oder weniger schlagzeilenträchtiges Thema, für die Linkspartei ein Schwungrad innerparteilicher Aushandlungsprozesse, für die Grünen eine Hintertür, durch die man gehen könnte, wenn die internen Kursauseinandersetzungen dies möglich machen - oder es mit der Union doch nicht klappt.

Drittens wird man wohl noch stärker als bisher nach den Gründen dafür suchen müssen, wie es bei den Bundestagswahlen 2013 dazu kommen konnte, dass die drei Parteien links von der Union ihr historisch schwächstes Gesamtergebnis ablieferten und die "außerparlamentarische Opposition" nicht nur groß ist, sondern parteipolitisch eher rechts steht. Eine realistische Einschätzung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wird Voraussetzungen und Widerstände einer linksreformerischen Wende kenntlicher machen: von der sozial gespaltenen Demokratie, in der jene, die von einer anderen Politik mit am ehesten profitieren könnten, gar nicht zur Wahl gehen, bis zum widersprüchlichen Krisenbewusstsein, das die Vorzüge auf der prekären "Stabilitätsinsel" Bundesrepublik, so sehr diese selbst Grund für soziale und strukturelle Verwerfungen anderswo in Europa und an den gesellschaftlichen Rändern hierzulande sind, den Unwägbarkeiten einer grundlegenden politischen Veränderung vorzieht.

Viertens wird zu überlegen sein, wie man Crossover aus der Isolation der Hinterzimmer und Bescheidwissernetzwerke hinausbekommt, also die Debatten vertieft und verallgemeinert - oder: wie man aus der "politisch-medialen Spielmarke" einen gesamtgesellschaftlichen Einsatz macht. Podiumsrunden über die Ukraine-Politik sind so wichtig wie Sommerakademien und Gespräche zwischen Parteienvertretern zur Bildung von Vertrauen. Aber um eine gesellschaftlich wirksame Dimension zu erreichen, braucht Crossover weit mehr, wird es ohne einen Sprung von "Rot-Rot-Grün an sich" zu "Rot-Rot-Grün für sich" kaum gelingen, aus einer Parteienkonstellation eine linksreformerische Veränderungsperspektive zu entwickeln. Crossover wird dabei mehr über Diskurspolitik und etwas reden müssen, das man Gegen-Lobbyismus nennen könnte. Hans-Jürgen Urban hat dazu unlängst einen Anstoß gegeben, der den Gewerkschaften die Rolle "eines politischen Sponsors des mosaiklinken Unternehmens" zuweist.

Fünftens scheint mehr "dialektische Gelassenheit" nötig, eine Haltung, die die existierenden Widersprüche zwischen den Crossover-Akteuren in Programm, Herkunft, Strategie etc. nicht als Hindernis, sondern als notwendiges Fundament von Vielfalt begreift. Solange Parteiakteure die Debatte aber im Modus der gegenseitigen Disziplinierung führen, die vom jeweils anderen verlangt, genauso zu werden wie man selbst schon ist, wird dies weder die Bereitschaft zur selbstkritischen Preisgabe eigener Fehlpositionen wachsen lassen noch entspricht es der Komplexität der gesellschaftlichen Austauschbeziehungen, Milieus und Fragestellungen.

Sechstens wäre es wünschenswert, wenn Crossover - bisher trotz einiger landespolitischer Regierungsprojekte vor allem eine Erscheinungsform der Bundespolitik - auf die kommunalpolitischen Tausendfüße gestellt würde. Vielerorts gibt es in den Städten und Gemeinden Erfahrungen der Kooperation auch über das Parteienspektrum hinaus, zu wenig ist darüber bekannt, obwohl die Menschen vor Ort viel direkter jeweilige Antworten auf die entscheidende Frage finden könnten: Was würde mir denn Rot-Rot-Grün bringen?

Warum es weiterhin notwendig ist, das Thema nicht parteipolitischer Konfliktdynamik bei den Akteuren und wachsendem Fatalismus bei den Zuschauern zu überlassen, muss hier nicht lang und breit ausgeführt werden. Die Gründe für die Idee, politische Kräfte links der Union zu einer vorübergehenden Kooperation auf Bundesebene zusammenzubringen, sind so aktuell wie bei den ersten Crossover-Bemühungen in den 1990er Jahren: Es hat sich zwar einiges geändert in der Welt, aber in dem notwendigen Sinne "verändert" hat sie sich nicht.


Tom Strohschneider, Jahrgang 1974, ist Chefredakteur der Tageszeitung "neues deutschland". Von ihm erschien zuletzt: "Linke Mehrheit?" Eine Flugschrift über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie bei VSA: Hamburg.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2014, Heft 203, Seite 59-62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2014