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DISKURS/130: Digitaler Kapitalismus - Revolution oder Hype? (spw)


spw - Ausgabe 6/2017 - Heft 223
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Kongressbericht:
Digitaler Kapitalismus - Revolution oder Hype?

von Arno Brandt[1]


Es passiert nicht allzu oft, dass ein Kongress zu den politischen und ökonomischen Implikationen des technologischen Wandels eine solche Resonanz findet. Rund 1000 Gäste kamen auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem Kongress nach Berlin, der sich mit den Potenzialen und Herausforderungen des digitalen Kapitalismus auseinandersetzte. Neben der FES hatten auch die drei sozialdemokratischen Zeitschriften spw, Berliner Republik und Neue Gesellschaft sowie die Blätter für deutsche und internationale Politik und das Institut für Geschichte der Zukunft der Arbeit den Kongress vorbereitet. Dass der Kongress genau zum richtigen Zeitpunkt stattfand, lässt sich auch daran ablesen, dass Martin Schulz in seinem geistigen Umfeld erklärt hatte, die SPD müsse wieder lernen, über den Kapitalismus zu sprechen, Andrea Nahles hatte dazu auffordert, den digitalen Kapitalismus mit seinen Monopolisierungstendenzen auf die politische Agenda der Sozialdemokratie zu setzen.

In der Auftaktveranstaltung am 2. November 2017 war es dann auch Andrea Nahles, die die Monopolbildung in der Internetwirtschaft (Apple, Google, Amazon, Facebook etc.) zum Anlass nahm, eine weiterreichende Regulierung einzufordern, um die Bürgerinnen und Bürger vor den nicht legitimierten Praktiken der Internetkonzerne[2] zu schützen. Für die neue Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion steckt "hinter den Internetmonopolen eine Weltverbesserungsideologie, die sich disruptiv aufstellt und neues Recht schaffen will." DGB-Chef Rainer Hoffmann konstatierte eine neue Phase des Kapitalismus, die politisch dazu herausfordere, die digitale Ökonomie neu einzubetten und damit den Entgrenzungstendenzen des digitalen Kapitalismus entgegenzuwirken. Vorher hatte Frank Pasqualle[3] in seiner einführenden Keynote analysiert, wie die durch Marktversagen (Pfadabhängigkeiten, Lock-in-Effekte etc.) und Lobbying getriebenen Internetkonzerne längst einen Wechsel von ihrer Funktion als Marktteilnehmer zu ihrer Funktion als marktbeherrschende Monopole vollzogen haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich die enge Wechselwirkung von wirtschaftlicher und politischer Macht beobachten. Die Konzerne dringen mit zunehmender Marktmacht auch in Lebensbereiche (Mobilität, Vermietung, Ver- und Entsorgung etc.) ein, die vormals der demokratischen Willensbildung und Steuerung öffentlicher Institutionen vorbehalten waren. Pasqualle warf damit die Frage auf, wie der digitale Kapitalismus gestaltet werden kann, um nicht von ihm dominiert zu werden.

Der zweite Kongresstag wurde durch ein Streitgespräch zwischen Florian Butollo[4] und Joachim Bühler[5] zur Frage der Wohlstandseffekte des digitalen Kapitalismus eingeleitet. Dabei stellte Florian Butollo überzeugend die Argumentation Joachim Bühlers infrage, wonach die (von ihm vertretene) digitale Wirtschaft als Wachstums- und Beschäftigungstreiber zu enormen Wohlstandsgewinnen beigetragen habe. Einerseits könne gesamtwirtschaftlich nicht von starken Produktivitätseffekten gesprochen werden (Produktivitätsparadoxon) während andererseits die effektive Nachfrage ausbleibe, so dass sich am Ende das Wohlfahrtsversprechen nicht materialisiere. Überdies handele es sich bei einem Großteil der Arbeitsplätze (Amazon) keineswegs um gute Arbeit, sondern vielfach um prekäre und hochgradig taylorisierte Arbeitsplätze.

In seiner Keynote zur Frage "Wem gehört der digitale Kapitalismus?" setzte sich Evgeny Morozov[6] kritisch mit vorherrschenden Denkmustern zur Wirkungsweise der digitalen Ökonomie auseinander. Die Tatsache, dass viele Internetdienstleistungen kostenlos angeboten werden, dürfe den Blick nicht dafür versperren, dass auf Dauer ihre Subventionierung durch die mit ihnen gekoppelten Werbeaktivitäten nicht mehr funktional sei. Die kostenlose Bereitstellung von Informationsgütern ist nach Morozov nur der Vorhof zur Etablierung neuer Big-Data-Geschäftsmodelle, die in Zukunft durch die Integration Künstlicher Intelligenz (KI) vermarktet werden und enorme Profite ermöglichen sollen. Gerade in Hinblick auf die mit Big-Data verknüpften Produktinnovationen und Geschäftsmodelle der KI[7] warf Morozov die Frage auf, wem eigentlich die im Kontext von Google- oder Smart-City-Projekten generierten Daten gehören und ob es hinzunehmen sei, dass sich diese von den Internetkonzernen privat angeeignet werden.

In einer abschließenden Panelrunde ging es um die europäischen Perspektiven der Sozialdemokratie im Kontext des digitalen Kapitalismus. Den zentralen Beitrag in dieser Debatte hielt Paul Mason[8], der zunächst das "revolutionäre Potenzial" der Informationstechnologien als Rohstoff für ein sozialdemokratisches Narrativ ausmachte. Dazu zählt er die Null-Grenzkosten-Ökonomie, die Automatisierung mit ihrem Potenzial zur Einsparung notwendiger Arbeitszeit, die Netzwerkeffekte und die Effekte der Informationsasymmetrien[9]. Für Mason sind die konsequente Bekämpfung der Internetmonopole, Projekte zur Bereitstellung öffentlicher Daseinsvorsorge bzw. Dienstleistungen (einschließlich Wohnungswirtschaft), die Stärkung der Informationsrechte der Bürgerinnen und Bürger und schließlich neue Antworten auf die Gestaltung und Flankierung der künstlichen Intelligenz essentielle Stichworte einer sozialdemokratischen Programmatik im digitalen Kapitalismus.

Neben den drei großen Panels fanden am 2. Kongresstag insgesamt 13 Foren statt, deren thematischer Fokus in diesem Kontext nur exemplarisch skizziert werden kann:

Im Forum "Digitalisierung und Produktivität - Wo bleibt der große Wachstumsschub?" diskutierten Kurt Hübner[10], Hagen Krämer[11] und Horst Neumann[12] die Frage, ob mit dem digitalen Kapitalismus nennenswerte Produktivitätsfortschritte und damit eine neue Wachstumsdynamik zu erwarten sei. Kurt Hübner vertrat die Auffassung, dass aufgrund der vorherrschenden Rahmenbedingungen (Monopolisierungseffekte, Finanzierungsbedingungen für KMU, Unsicherheiten etc.) die vorhandenen Produktivitätspotenziale unzureichend ausgeschöpft seien. Bei einer Veränderung dieser Bedingungen sei jedoch prinzipiell mehr Produktivität möglich. Hagen Krämer dagegen konstatierte eine allgemeine Tendenz sinkender Produktivitätsraten. Diese These begründete er einerseits mit den zentralen Argumenten der Theorie der säkularen Stagnation (z.B. Robert Gordon) und andererseits mit inhärenten Grenzen der Rationalisierbarkeit von Dienstleistungen (Baulmolsche Kostenkrankheit). Horst Neumann hielt dem entgegen, dass die aktuellen technischen Entwicklungen einen weiteren Automatisierungsschub der materiellen Produktion ermöglichen und dass auch eine Digitalisierung der für eine Automatisierung bislang unzugänglichen Teile der Dienstleistungen zu erwarten sei.

Im Forum "Digitale Monopole - Alles Google, oder was?" diskutierten Markus Beckedahl[13] und Ulrich Dolata[14] über die Monopolisierungstendenzen im digitalen Kapitalismus. Unstrittig war die Analyse, dass die Monopolbildung durch Netzwerkeffekte von Online-Plattformen und durch exorbitante Aussichten auf Extraprofite getrieben wird. Kontrovers wurden die Stabilität dieser Monopole bzw. Oligopole und damit die langfristigen Perspektiven diskutiert. In der Bedrohung, die sich daraus für eine soziale und demokratische Wirtschaftsentwicklung und letztlich sogar für die Demokratie insgesamt ergeben, waren sich die Diskutanten einig. Unterschiedliche Schwerpunkte wurden bei den Möglichkeiten des Gegensteuerns gesetzt, etwa die europäische Regulierung z.B. über das Kartellrecht, alternative (öffentliche) Plattformangebote, Ausweitung des Datenschutzes, eine erzwungene Interoperationalität von Datensätzen oder auch die Stärkung der Verbraucherrolle.

Um die Herausforderungen der Digitalisierung für die kollektive Mitbestimmung ging es im Forum "Digitalisierung im Betrieb - Mitbestimmung unter Druck". Constanze Kurz[15], Welf Schröter[16] und Bianca Prietl[17] sondierten das betriebliche Terrain einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt. Constanze Kurz diagnostizierte, dass die Gewerkschaften in den Betrieben im Zuge des technologischen Wandels vor allem dort an Boden verlieren, wo traditionell ihre Kampfkraft verortet ist. Welf Schröter konstatierte, dass sich eine Zäsur in den Industriebetrieben abzeichnet, in der die betriebliche Handlungsfähigkeit auf selbstlernende autonome Systeme übertragen werden kann. Autonome Systeme seien aber nach ihrer Einführung nicht mehr gestaltbar, wodurch sich die Notwendigkeit einer vorausschauenden Arbeitsgestaltung ergäbe. Damit würden sich völlig neue Anforderungen an die Betriebsräte und an die Systeme der Mitbestimmung stellen, die bis hin zu einer betriebsübergreifenden Mitbestimmung entlang horizontaler Wertschöpfungsketten reichen.

Im Forum "Revolutioniert die Digitalisierung die Geschlechterverhältnisse?" ging es um die Frage, inwieweit im technischen Fortschritt auch das Potenzial, die Geschlechterverhältnisse in Bewegung zu bringen, verborgen ist. Doch was muss passieren, damit "4.0" seine Versprechen auch in dieser Hinsicht einlöst? Daran knüpfen viele Fragen an: Sind es tatsächlich hauptsächlich "Männerjobs", die durch Automatisierung verloren gehen? Löst mobiles Arbeiten wirklich alle Vereinbarkeitsprobleme? Können Algorithmen sexistisch sein? Im Forum waren sich Kira Marrs[18] und Tanja Carstensen[19] einig: Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen sind ambivalent - sie können Geschlechterverhältnisse ebenso aufbrechen als auch zementieren. Es kommt darauf an, wie Politik, Gewerkschaften und betriebliche Akteurinnen und Akteure den Prozess gestalten - und ob sie die Geschlechterfrage im Blick haben.

Im Forum "Digitalisierung des Finanzsektors - Keine Chance für Nachhaltigkeit" ging es u. a. um die mehrdimensionalen Probleme der Finanzialisierung, der Akkumulation und der Digitalisierung, die sich als technologische Komponente in den unterschiedlichen derivativen Instrumenten, stochastischen Handels- und Risikomodellen sowie dem Phänomen des Hochfrequenzhandels ausdrückt. Dabei führt Disruption zu unkontrollierter Volatilität mit den Gefahren spekulativer Verselbständigungen und unkontrollierbarer Crashs. Auch konkret macht sich die Digitalisierung im Finanzsektor bemerkbar durch FinTechs, die die Vermittlungsfunktion von Banken und Kapitalmärkten infrage stellen. Die Ordnung der Finanzmärkte (Regulation) ist nach der Finanzkrise aus Sicht von Torsten Windels[20] immer noch suchend, nachlaufend, widersprüchlich und teilweise krisenverschärfend.

Im Forum "Smart Cities oder Social Cities" diskutierten Dieter Läpple[21], Stefan Gärtner[22] und Natalie Pfau-Weller[23] über die Strategien der Internetkonzerne, ihre Big-Data-Geschäftsmodelle im Rahmen von Smart City-Strategien zu platzieren und unterschiedliche urbane Strategien zur demokratischen Gestaltung der mit Digitalisierung verbundenen Veränderungsprozesse. Dieter Läpple verwies auf drei Narrative der Smart City-Ideologie: (1) ein normativ urbanistisches Narrativ, dass an die Konzeption nachhaltiger Stadtentwicklung anknüpft, (2) eine technizistische Version, die die Smart City als Systemplattform begreift und (3) die Smart City der Big-Data-Konzerne. Vor dem Hintergrund dieser differenzierten Sichtweise wurden mögliche Strategien einer progressiven Stadtentwicklung diskutiert. Vor allem durch eine urbane Kultur der Experimente sind Gegenbewegungen und alternative Problemlösungen zu den Zumutungen der Internetkonzerne zu entwickeln.

Im Forum "Open Source, Creative Commons, Blockchain - Risse im digitalen Kapitalismus?" ging es um die Frage, ob das Dezentralisierungs- und Gemeingutpotenzial digitaler Technologien der privatkapitalistischen Durchökonomisierung ein Schippchen schlagen könne. Sabine David[24], Tilman Santarius[25] und Peter Toxler[26] diskutierten die Möglichkeiten eines demokratischen und dezentralen Wirtschaftens, wie sie z.B. in der Wikipedia-Welt aufschimmern. Deutlich wurde aber auch, dass sich die Internetmonopole längst der Open-Source-Technologien bemächtigt haben, um diese in ihre proprietären Geschäftsmodelle einzubauen. Daher müsse es auch darum gehen, verstärkt eine progressive Regulierung des Internets umzusetzen. Vorgeschlagen wurde in diesem Zusammenhang z.B. die Sicherung kommerzfreier Räume im Internet ("Internet als Commons statt als Commerce"), die Förderung einer digitalen Reparaturökonomie ("Internet der Wertschätzung statt der Wegwerfgesellschaft") und eine effektive Bekämpfung der Monopolbildung ("Internet der Teilhabe statt der Monopolisierung").

Die spw-Mitherausgeber Michael Krätke und Uwe Kremer lieferten die Impulse für das Panel zu "Marx reloaded". Krätke legte in Auseinandersetzung mit dem Theorem des anbrechenden "Postkapitalismus" (Mason u.a.) seinen Akzent auf die seines Erachtens auch im "digitalen Kapitalismus" obwaltende Gültigkeit der von Marx analysierten und dargelegten Mechanismen kapitalistischer Ökonomie. Kremer dagegen erklärte, dass im Zeichen einer "Wissensökonomie" die Modalitäten der Generierung von Wert und Mehrwert jenseits der unmittelbaren Produktion von Gütern grundlegend zu überprüfen und zu aktualisieren seien. In der anschließenden Diskussion spielte das Marx'sche "Maschinenfragment" als aktuell inspirierendes Gedankenexperiment eine wichtige Rolle.

Mit dem Fokus auf die polit-ökonomischen Aspekte der Digitalisierung ist es der FES gelungen einen lebendigen und spannenden Kongress zu organisieren, der Mut macht im sozialdemokratischen Spektrum die Debatte über die Zukunft des Kapitalismus und seiner Alternativen fortzuführen. Das Jahr 2018, in dem der 200. Geburtstag von Karl Marx zu begehen ist, bietet dazu vielfältige Gelegenheiten.


ANMERKUNGEN

[1] Dr. Arno Brandt ist Regionalökonom und lebt in Lüneburg.

[2] z.B. Uber

[3] Univerity of Maryland

[4] Universität Basel (Schweiz)

[5] Geschäftsführer des Verbands der Technischen Überwachungsvereine

[6] Publizist

[7] z. B. Autonomes Fahren, Bemessung von Schadensfällen in der Versicherungswirtschaft (Watson), Medizinische Prognosesysteme, intelligente Facilitymanagementsysteme

[8] Britischer Journalist und Berater von Jeremy Corbyn

[9] Diese Argumentation ist nachzulesen in Paul Masons Buch "Postkapitalismus - Grundrisse einer kommenden Ökonomie", Berlin 2016

[10] Vancouver University

[11] Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft

[12] Institut für Geschichte und Zukunft der Arbeit

[13] Gründer und Chefredakteur von netzpolitik.org und Mitbegründer der re:publica

[14] Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart

[15] Referentin Gesamtbetriebsrat des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Robert Bosch GmbH

[16] Forum Soziale Technikgestaltung beim DGB Baden-Württemberg

[17] Institut für Soziologie der TU Darmstadt

[18] Institut für Sozialforschung (ISF) München

[19] LMU München

[20] Chef-Volkswirt der Norddeutschen Landesbank

[21] HafenCity Universität Hamburg

[22] Institut für Arbeit und Technik

[23] Fraunhofer Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation

[24] Wikmedia Deutschland

[25] TU Berlin

[26] University of Applied Sciences Rotterdam

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2017, Heft 223, Seite 82-85
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2018

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