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DISKURS/132: Solidarität - Plädoyer für eine Renaissance (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018

Solidarität - ein Thema von gestern?
Plädoyer für eine Renaissance

von Thomas Meyer


Die politischen Grundwerte der demokratischen Parteien basieren auf der Parole der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Diese Wörter sind, solange die Begriffe nicht wirklich geklärt sind, verwirrend zahlreichen Deutungen zugänglich. Worin genau unterscheidet sich das Gerechtigkeitsverständnis unserer Parteien voneinander? Die jüngste Bundestagswahl ging für die SPD auch deshalb verloren, weil die Partei den Begriff im Wahlkampf versanden ließ. Nun versucht Andrea Nahles, das Grundwerteverständnis der Sozialdemokratie zu schärfen. Dass ein linkes Gerechtigkeitsverständnis auf Gleichheit bezogen ist, nämlich die gleiche Freiheit aller, rechtlich-förmlich und sozial-materiell, ist oft diskutiert werden (mit begrenztem Erfolg). Nun verweist Nahles zur Erläuterung und Ergänzung auf den ur-sozialdemokratischen Grundwert der "Solidarität", etwa in der Neuschöpfung "solidarische Marktwirtschaft". Trägt das zur Schärfung der ermatteten sozialdemokratischen Identität bei?

Dafür spricht dreierlei: Zum einen hat in der Geschichte der europäischen Sozialdemokratie kein Begriff eine solch mobilisierende Rolle gespielt; zum anderen ist dieser politisch-soziale Grundwert in den Jahrzehnten der neoliberalen Hegemonie in Europa (80er Jahre bis 2008) schwer beschädigt und zynisch entsorgt werden. Und, last not least, die durch Globalisierung, Individualisierung, die Jahre des neoliberalen Ego-Wahns und nun die große Migration verunsicherte Gesellschaft braucht keinen anderen sozialen Lebenswert dringlicher als den der Solidarität - nicht als hohle Predigt, sondern als praktikable Lebenshaltung, der auf die Sprünge geholfen werden kann. In der aktuellen Denkschrift der Grundwertekommission "Ein neues Jahrhundert Sozialer Demokratie" spielt dieses Thema daher eine Schlüsselrolle.

Die europäische Arbeiterbewegung verstand Solidarität immer als das Bewusstsein der Verbundenheit der Interessen aller Menschen und deren Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe über das hinaus, was Recht und Gesetze von uns verlangen. Solidarität trägt zur Gerechtigkeit bei, aber sie ist mehr. Sie zielt auf die wechselseitige Verantwortung der Menschen füreinander in der unmittelbaren Praxis ihres alltäglichen Zusammenlebens, eine Haltung der zwischenmenschlichen Anerkennung als Lebensform.

Ursprünglich hatte Solidarität in der europäischen Arbeiterbewegung zwei verbundene Bedeutungen: eine universalistische und eine kollektive. Das Ziel der Bewegung war (und ist) eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Da aber der Weg zu ihr unter großen Opfern erkämpft werden musste, trat der universalistische Gehalt der Solidarität zunächst hinter ihrer kollektiven Bedeutung für die Tagespraxis zurück. Das eigentliche Ziel der Bewegung war aber stets die allgemeine menschliche Solidarität. August Bebel sah es so: "Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff: ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus".

Solidarität als Praxis fand massive Stützen in vier alltäglichen Erfahrungsbereichen: dem gemeinsamen Arbeiten in den großen und kleinen Fabriken und seine täglich zu bestehenden Konflikte, dem Wohnen in geteilten Quartieren mit seiner engen lebensweltlichen Milieuverbundenheit; den häufigen Arbeitskämpfen; dem gemeinsamen Handeln in den gewerkschaftlichen, politischen und vor allem lebenskulturellen Organisationen der Arbeiterbewegung.

Der Wert der Solidarität wurde erfahrbar: der Wert des scheinbar selbstlosen Mit- und Füreinanders, des menschlichen Gebens und Nehmens ohne individualistisches Nutzenkalkül für alle. Solidarität wurde wie selbstverständlich erlebt und begriffen als eine doppelseitige Verpflichtung: als Pflicht der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen und als Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Im Berliner Grundsatzprogramm der SPD ist dieses traditionsreiche Verständnis aktualisiert: "Solidarität bedeutet wechselseitige Verbundenheit, Zusammengehörigkeit und Hilfe. Sie ist die Bereitschaft der Menschen, füreinander einzustehen und sich gegenseitig zu helfen. Sie gilt zwischen Starken und Schwachen, zwischen Generationen, zwischen den Völkern. Solidarität schafft Macht zur Veränderung, das ist die Erfahrung der Arbeiterbewegung. Solidarität ist eine starke Kraft, die unsere Gesellschaft zusammenhält - in spontaner und individueller Hilfsbereitschaft, mit gemeinsamen Regeln und Organisationen, im Sozialstaat als politisch verbürgte und organisierter Solidarität."

In der neoliberalen Ära ist ein alter Einwand gegen diese Vorstellungen neu belebt worden. Er ist noch oft zu hören: Solidarität gehöre zur Welt eines lebensfremden Idealismus. In der modernen, individualisierten Gesellschaft könnten wir uns, sobald es darauf ankommt, allein noch auf den handfesten Egoismus der Menschen verlassen, das allein sei Realismus - im Leben und in der Politik. Der Blick in die heutige wissenschaftliche Forschung enthüllt jedoch, dass dieser neoliberale Versuch einer Beerdigung des sozialen Grundwerts seinerseits nicht mehr ist als ein ideologisches Schutzschild und eine politische Illusion: Die praktische Philosophie definiert Solidarität als eine moralische Handlungspflicht, die auf der Gegenseitigkeit von Hilfsbereitschaft innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft von Menschen beruht, die alle zu gegebener Zeit auf vergleichbare Weise in eine Situation gelangen können, in der sie auf diese Hilfsbereitschaft angewiesen sind. Sie verpflichtet den Einzelnen über das hinaus, was Gerechtigkeit institutionell gewährleisten kann - ist aber keine Rechtspflicht. Sie unterscheidet sich darin von der Philanthropie oder Nächstenliebe, die zwar moralisch verdienstlich, jedoch über-obligatorisch ist.

Die empirische Anthropologie hat in jüngerer Zeit immer wieder gezeigt, dass der Glaube, Solidarität sei den meisten Menschen im Grunde fremd, nur eine (gefährliche) Illusion ist. Es sind vor allem drei Forschungsfelder, die dabei aufschlussreiche Erkenntnisse zutage gefördert haben. Die empirische politische Diskursforschung hat gezeigt, dass die politischen Präferenzen, insbesondere im Hinblick auf Wahlen, von den meisten Menschen keineswegs vor allem auf der Basis egoistischer Nutzenerwägungen kalkuliert werden, sondern sich erst unter dem Einfluss der öffentlichen Diskussionen und der in ihnen angebotenen Argumente und Gemeinwohlvorstellungen ausbilden, häufig in klarer Abweichung von den jeweiligen wirtschaftlichen oder sozialen Positionsinteressen der Bürgerinnen und Bürger. Das tatsächliche Handeln erweist sich in aller Regel als eine jeweils spezifische Mischung aus rationalen Nutzenerwägungen auf der Basis individueller Präferenzen und normativen kollektiven Orientierungen. In der Praxis des sozialen Handelns kommen darum so gut wie immer gleichzeitig unterschiedliche Rationalitätsmodelle ins Spiel. Für gut begründete Solidarität besteht fast immer ein Spielraum. Solide ist auch die Annahme, dass fast alle Menschen von einem starken Streben nach Anerkennung im Sinne "sozialer Wertschätzung" geprägt sind. Dabei geht es sowohl um die Anerkennung als Person überhaupt wie um die Anerkennung ihrer Leistungen für andere und für die Gesellschaft. Die sozialen Bedingungen, unter denen dieses anthropologische Grundbedürfnis vom einzelnen Menschen als befriedigt erfahren wird, hängen von den jeweiligen kulturellen Deutungen der Gesellschaft ab, in der er lebt und zu deren Leben er beiträgt. Der Kampf um die vorherrschende Deutung ist seinerseits Teil des Kampfes um Anerkennung, freilich nicht losgelöst von den Gegebenheiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den Verteilungskämpfen der politischen Ökonomie. Die Spannweite der höchst unterschiedlichen Erfahrung zwischen den USA mit ihren individualistisch konkurrenzorientierten Verhaltensnormen und den skandinavischen Ländern mit ihren gewohnheitsmäßigen Erwartungen an Bürgersolidarität illustrieren die Bedingungen für soziale Anerkennung in sehr unterschiedlicher Weise.

Direkte Kommunikation ist der Forschung zufolge die wichtigste Quelle der Bereitschaft zur Solidarität. Sobald Menschen in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren, folgen sie in der Regel nicht dem Handlungsmodell der egoistischen Nutzenmaximierung, auch wenn dies eine deutliche, jedoch immer auch begrenzte Rolle in ihrem wirtschaftlichen Verhalten spielt. Sie neigen zu rationaler Verständigung. Die Bereitschaft, solidarischen Handlungsnormen zu folgen und sich mit anderen über kollektive Zwecke gemeinschaftlichen Handelns zu verständigen, ist für die meisten Menschen Alltag. Die wirklichen Menschen sind fast nie bloße ökonomische Nutzenmaximierer, sondern folgen als Sozialwesen je nach Handlungskontext unterschiedlichen Rationalitätskonzepten. In welchem Maße dabei die Bereitschaft zu Solidarität ins Spiel kommt, hängt allerdings deutlich von entgegenkommenden sozialen Bedingungen ab. Die Bereitschaft der meisten Menschen zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, wächst in dem Maße, in dem sie erwarten, dass die Gesellschaft, in der sie leben, in ausreichendem Maße soziale Güter zum Nutzen aller und daher auch zu ihrem eigenen hervorbringt. Daher sind Vertrauen und die Gewissheit der Wirksamkeit von Reziprozitätsnormen eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Menschen solidarisch verhalten und die Kooperation mit anderen suchen. Dafür sind soziale Institutionen, die ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit gewährleisten, die beste Voraussetzung.

Diese empirischen Befunde sind für Theorie und Praxis der Solidarität von weitreichender Bedeutung, lassen sie sich doch in der These zusammenfassen, dass gerechte gesellschaftliche Institutionen ihrerseits solidarisches Handeln wahrscheinlicher machen, während umgekehrt dort, wo auf egoistische Konkurrenz angelegte Verhältnisse institutionalisiert und öffentliche Güter schwach ausgeprägt sind, eine Kultur der rein individualistischen Vorteilssuche gefördert wird. Von der vergleichenden Sozialstaatsforschung ist in diesem Sinne gezeigt worden, dass der universalistische Sozialstaat skandinavischen Typs, der zwar hohe Solidarbereitschaft voraussetzt, an dessen öffentlichen Gütern dann aber auch alle Bürger auf hohem Niveau teilhaben, die Solidargesinnung, die ihn trägt, seinerseits erneuert und stärkt. Im Gegensatz dazu setzt der libertäre, bloß residuale Sozialstaat angelsächsischen Typs, der lediglich eine Armenunterstützung auf niedrigem Niveau bietet, während die soziale Absicherung der Normalbürger von diesen individuell je nach verfügbaren Mitteln selbst organisiert werden muss, eine Abwärtsspirale der Solidarbereitschaft in Gang.

Soziale Erfahrungsorte von Solidarität

Eine entscheidende Rolle für die Erfahrung und Regenration von Solidarität spielt das, was die Kommunitaristen die "moralische Infrastruktur der Gesellschaft" nennen. Denn nur in ihr können die Wirklichkeit und der Nutzen und vor allem auch die vielfältigen Überlappungen von solidarischem Handeln und eigenen Interessen praktisch erfahren werden. Dabei handelt es sich vor allem um zivilgesellschaftliche bzw. gewerkschaftliche Initiativen, Formen der Gemeinschaftsbildung in der Wohn- und Lebenswelt, sowie kulturelle und religiöse Lebensformen des Gemeindelebens. Wichtig dabei ist immer, dass all diese Formen ethnisch, kulturell und religiös offen bleiben, damit sie nicht ausschließlich "bindendes", sondern wie Robert Putnam sagt, "Brücken bauendes" Sozialkapital bilden - übrigens die einzige Form von Kapital, die durch ihre Verausgabung nicht schrumpft, sondern wächst. Womit wir beim Thema Migration und Integration angelangt sind.

Solidarität ist also kein frommer Wunsch, sondern wenn sie ernst gemeint ist ein handfestes politisches Programm. Sie ist ein Stück weit Voraussetzung für die Schaffung der Strukturen einer gerechten Gesellschaft, die soziale Sicherheit, öffentliche Güter und demokratische Entscheidungsteilhabe gewährleistet und sie wird als Handlungsorientierung der Menschen umso wahrscheinlicher und nachhaltiger, je überzeugender solche Verhältnisse realisiert sind. Die Solidaritätspotenziale hängen neben der Art und der Reichweite des Sozialstaats auch davon ab, welche informellen zivilgesellschaftlichen Handlungsstrukturen und welche politischen Institutionen auf der gesellschaftlichen "Angebotsseite" der "Nachfrage" auf der Seite des bürgerschaftlichen Engagements gegenüberstehen. Dass eine Gesellschaft offen ist, ist für die Entstehung von Solidarität nicht genug, sie muss vor allem gerecht sein und partizipativ, also von einer aktiven Zivilgesellschaft geprägt sein, wenn Solidarität in ihr eine Chance haben soll. Sie macht Gesellschaften menschlich, nimmt ihnen die Kälte und vermittelt Sicherheit und Orientierung. Daher gehört sie und vor allem Wege, die zu ihr führen, heute in den Mittelpunkt der politischen Debatte.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018, S. 85 - 88
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2018

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