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DISKURS/134: Identitätspolitik - worum es geht (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2018

Identitätspolitik - worum es geht

von Thomas Meyer


Die Karriere des Begriffs "Identitätspolitik" fast aus dem Nichts an die Spitze der politischen Tagesordnung war kurz und steil. Sie hat drei Quellen, die weiterhin die drei hauptsächlichen Bedeutungen speisen, die der Begriff heute hat. Sie alle eint das Konzept einer Politik, die auf der kulturellen Zugehörigkeit zu speziellen Gruppen besteht und nur deren Interessen vertritt. Da der Begriff sowohl auf die Politik kultureller Identitätsgruppen zielt, die die Vorherrschaft gegenüber anderen Gruppen erstreben, besonders eindeutig im Fall der rechten, ethnisch basierten Identitätspolitik, wie aber auch auf die Bestrebung der Gleichstellung kultureller Minderheiten (etwa Homosexuelle) haftet ihm eine grundlegende Mehrdeutigkeit an, die sich immer erst im Verwendungskontext selbst auflöst. Sein herausragendes Profil gewinnt der Begriff aber in allen Zusammenhängen durch die Akzentsetzung auf kulturelle statt auf ökonomische oder politische Interessen. Daher stellen sich identitätspolitische Konflikte vorranging als Anerkennungs- und nicht als Verteilungskämpfe dar, obwohl diese drei Dimensionen in der Realität häufig verschmelzen. Da Identitäten nicht teilbar (wenn auch kombinierbar) sind, neigt Identitätspolitik in allen Varianten zur Polarisierung und Kompromisslosigkeit.

Eine der drei Quellen des Konzepts der Identitätspolitik ist die nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus 1989 plötzlich und intensiv einsetzende Debatte darüber, was an die Stelle der globalen Ideologien, die nun erloschen waren, als große Konfliktachse eigentlich treten würde. Es erwies sich sofort, dass die berühmt gewordene Situationsdeutung des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, nun sei das "Ende der Geschichte" erreicht und der liberale Kapitalismus habe sich als das gelöste Rätsel der Geschichte erwiesen, keinen Bestand haben würde. Stattdessen reüssierte rasch und durchschlagend sein Kollege Samuel Huntington mit der bis heute von vielen vertretenen oder zumindest benutzten Theorie, dass nun das Zeitalter der Identitätspolitik, der Konflikte der Weltkulturen (clash of civilizations) angebrochen sei, in dem deren unversöhnlichen religiös imprägnierte Identitätsansprüche zur zentralen Ursache aller großen politischen Konflikte werden, primär zwischen den durch sie bestimmten Ländern und davon abgeleitet zwischen den ihnen zugehörigen Gruppen innerhalb der meisten anderen Länder.

Das politische 21. Jahrhundert werde das Zeitalter eines unausweichlichen Zusammenstoßes der Kulturen der Welt sein, weil sie sich über die Schranken ihrer divergenten Weltdeutungen hinweg in den Kernfragen, um die es beim Zusammenleben der Menschen letztlich immer geht, prinzipiell nicht verständigen können. Für die Menschen aber, die sie einschließen, seien sie nun die letzte Möglichkeit für eine stark empfundene, sinnstiftende Identifikation. Sie geraten nach dieser Deutung erst am Ende unseres Jahrhunderts in eine solch aussichtslose Lage, weil sie sich nun - nach dem Zusammenbruch der großen, kulturüberwölbenden Ideologien - einander erstmals ganz nackt gegenüberstehen, so lautete Huntingtons Diagnose im Jahre 1993. Stimmungen, Irritationen, Befürchtungen und die Hoffnung auf günstige Gelegenheiten, das Prophezeite zum eigenen Vorteil zu nutzen, sind ihr in beträchtlichem Ausmaß entgegengekommen.

Das 21. Jahrhundert wird nach dieser Sicht zur Arena von Kulturkämpfen werden, bis hin zum keineswegs unwahrscheinlichen Kulminationspunkt eines großen Weltkriegs als Entscheidungsschlacht zwischen kulturellen Herrschaftsansprüchen, denen ihrem Wesen nach die Chance zur Verständigung auf immer verwehrt sei (Huntington 1996). Die Welt wird zur Beute eines in allen Kulturen die Macht ergreifenden Fundamentalismus, dem mächtigsten Paradigma der neuen Identitätspolitik. Die Kulturen können sich in dieser Sicht einander umso weniger verstehen und verständigen, je mehr sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit erkennen, frei von allen Überresten ideologischer Schminke und dem Schutz geografischer Distanz. Dem Krieg der Ideologien folgt nun der Krieg der Kulturen, auch er ein kalter zu Beginn, der aber schneller in einen heißen übergeben könnte, als die ahnungslose Welt erwartet.

Dieses Modell einer zur immerwährenden Friedlosigkeit verurteilten Welt der Moderne, einer neuen Epoche der globalen Identitätspolitik, hatte alle Aussicht, die Wirklichkeit zu prägen, und zwar auch dann, wenn sein sachlicher Kern empirisch unzutreffend ist. Es wird rasch und gern von den religiösen, kulturellen und politischen Identitätsunternehmern zur Rechtfertigung ihrer Praxis übernommen. Und viele andere beginnen zu handeln, als träfe das Modell zu, weil jeder sich gut beraten glaubt, wenn er mit einer entsprechenden Praxis der anderen rechnet. Daher hatte dieses Modell von Anfang an beste Chancen, überall auf der Welt zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Es hatte das Potenzial, sozialökomische Klassenkonflikte und andere Verteilungskonflikte durch die von ihm forcierten Anerkennungskonflikte zu überlagern oder zu verdrängen. Das ist exemplarisch am religiös-politischen Fundamentalismus aller Schattierungen zu sehen, am sichtbarsten im islamischen Fundamentalismus, aber ebenso am protestantischen Fundamentalismus, der in den USA zur stärksten politischen Einflussgruppe geworden ist. Bei all diesen identitätspolitischen Bewegungen auf religiös-kultureller Grundlage geht es immer um die politische Benutzung einer religiösen Tradition für machtpolitische Zwecke, das bedeutet ihrer Umwandlung aus einer Glaubenspraxis in eine politische Ideologie. Die weltweite vergleichende Forschung hat gezeigt, dass jede der bekannten Religionen auf diese Weise politisch instrumentalisiert und keine einzige von ihnen von Hause aus unentrinnbar fundamentalistisch ist.

Die zweite anhaltend einflussreiche Quelle des Begriffs Identitätspolitik ist die Neue Rechte mit ihrem intellektuellen Taktgeber, dem französischen Intellektuellen und Aktivisten Alain de Benoist. Auf ihn geht das Konzept der identitären Bewegung und Politik zurück, eine völkische Konzeption, die das Ziel ethnisch reiner, unvermischter politischer Gemeinschaften verfolgt. Ethnopluralismus ist eine überall in Europa verbreitete rechtspopulistische Ideologie, die das Gebot der Reinheit der Rassen als ethnisch bestimmter Kulturen in leicht modernisierter Form wieder auferstehen lässt. Die "Vermischung" von Ethnien oder Völkern sei die Ursache des Niedergangs ihrer Kultur und ihres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Aufnahme von Migrant/innen aus anderen Kulturen in die Länder Europas verletze nicht nur deren Naturrecht auf ethnisch-kulturelle Selbstbehauptung, sondern ebenso das der Immigranten selbst auf ihre eigene ethnisch-kulturelle Identität.

Frappierend erscheint schon auf den ersten Blick die Nähe der Theorie Huntingtons vom Zusammenstoß der Kulturen zum chauvinistischen Konzept des "Ethnopluralismus", das die Neue Rechte als "Identitäre Bewegung" zu ihrem politischen Leitbild in Europa gemacht hat. Die politischen Überzeugungen und Absichten mögen in beiden Fällen gänzlich verschieden sein. Die Konvergenz der Ergebnisse und damit der Gleichklang der politischen Effekte sind aber kein Zufall. Sie ergeben sich aus dem essenzialistischen bzw. naturalistischen Kulturbegriff, den beide aus ähnlichen Erwägungen zugrunde legen, mit denselben Konsequenzen für den praktisch-politischen Gebrauch der Konzepte, unabhängig von dem, was die einzelnen Autoren selbst in dieser Hinsicht für politisch wünschenswert halten.

Zunächst werden die unterschiedlichen Kulturen aus den in den rechten Denktraditionen alter Prägung üblichen Hierarchisierungen von Höher- und Minderwertigkeit scheinbar herausgelöst. Das ist ein Akt der demonstrativen Modernisierung rechtsextremer Denkbestände. Die Kulturen seien als solche durchaus gleichwertig, was immer ihre Inhalte auch sein mögen. Sodann wird der Kulturbegriff naturalisiert, sodass die Vielfalt der menschlichen Kulturen im Lichte natürlich gegebener und fest abgegrenzter Identitäten und Differenzen erscheint wie die Vielfalt der Gattungen und Arten in der Natur selbst. Die menschliche Kultur nimmt als Ergebnis dieser Operation ihrerseits biologische Züge an, sodass sich der Rückgriff auf den in der postfaschistischen Epoche verpönten Biologismus erübrigt, ohne dass seine Prämissen, Absichten und Auswirkungen dementiert werden müssten. Durch Naturalisierung und Ethnisierung ergibt sich die den Ethnopluralismus kennzeichnende Absolutsetzung der Differenz zwischen den Kulturen wie von selbst, und jeder Versuch ihrer Vermischung, ihrer substanziellen Veränderung erscheint als lebensbedrohlicher Verfall der kulturellen Lebensbedingungen menschlicher Gemeinschaften.

So soll gerade die Gleichheit der Kulturen, ihre ethnisch naturalistische Verdinglichung vorausgesetzt, die radikale Forderung begründen - und das ist natürlich auch bei der Neuen Rechten des Pudels Kern -, dass sich "fremde" Kulturen im Westen nicht niederlassen und entfalten sollen. Ihre Repräsentanten sollen dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind, nun aber nicht mehr nur um der Interessen der "Hiesigen" willen, das Fremde fernzuhalten, sondern eben auch im Interesse und nach dem Recht ihrer eigenen Kultur: eine anscheinend konsequent egalitäre Begründung für eine Trennung, die sich bei Lichte betrachtet rasch als der alte rassistische Chauvinismus zu erkennen gibt.

Der Ethnopluralismus nimmt im Denken der Neuen Rechten in Europa haargenau den Platz ein, den der offen biologistische Rassismus im rechten Extremismus traditioneller Prägung innehatte. Die neo-rassistische Doktrin des Ethnopluralismus will aber durch ihre Forderung einer bloßen Trennung der Ethno-Kulturen voneinander, anstelle von Beherrschung oder Auslöschung, den Eindruck erwecken, mit Demokratie- und Menschenrechten verträglich zu sein. Das Grundprinzip dieser rechten Variante der Identitätspolitik ist folglich die Apartheid. Der Aufstieg einer ethnisch-kulturell akzentuierten Identitätspolitik in einer Reihe osteuropäischer Länder, voran Polen und Ungarn, folgt in leichter Abschwächung genau diesem Muster.

Die dritte Quelle des Konzepts der Identitätspolitik sprudelt im Gegensatz zu den anderen beiden am kräftigsten in den linken Regionen der politischen Landschaft, am Anfang am ergiebigsten in den USA, mittlerweile nahezu weltweit. Bei ihr geht es nicht um Exklusion, sondern um Inklusion. Als Leuchtfeuer dieser identitätspolitischen Variante gelten die afroamerikanische Gleichstellungsbewegung seit Martin Luther King Jr. in den 60er Jahren, soweit es um die Einbeziehung dieser diskriminierten großen "ethnischen" Gruppe in den Mainstream der amerikanischen Gesellschaft geht. Die Identitätspolitik des Selbstbewusstseins und der gleichberechtigten Anerkennung einer wachsenden Zahl ausgegrenzter kultureller Minderheiten in den gesellschaftlichen und politischen Mainstream in allen Teilen der Welt verdankt der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler wesentliche Impulse und große Aufmerksamkeit durch ein sehr wirksames internationales Engagement.

Bei den kulturellen Minderheiten, für deren Anerkennung und Rechte sich die linke bzw. liberale Identitätsbewegung jeweils einsetzt, handelt es sich um sehr unterschiedliche, aber stets primär kulturell und nicht sozial definierte Gruppen. Zu ihnen gehören gegenwärtig je nach dem Entwicklungsstand und der speziellen Situation in den jeweiligen Ländern unter anderem: ethnische Minderheiten wie die Indianer, die Afroamerikaner und die Hispanics in den USA, Frauen, Schwule und Lesben, Trans- und Intersexuelle, Alte, Obdachlose, Ex-Psychiatriepatienten und Behinderte. Ein besonderes Kennzeichen dieser linken Identitätspolitik, deren Hauptstoßrichtung erkennbar auf die Gleichstellung und Emanzipation benachteiligter Gruppen zielt, ist ihre prinzipielle Unabschließbarkeit, denn jeder gelungene Gleichstellungsfortschritt offenbart unvermeidlich immer noch einen Rest unbewältigter Anerkennungsansprüche. Nach der scheinbar gelungenen Domestizierung des Kapitalismus in der westlichen Welt im Verlauf der ersten Nachkriegsjahrzehnte schienen in den USA und dann auch in einigen europäischen Ländern die Themen und die bewegenden Kräfte der linken Identitätspolitik als Kampf um Anerkennung den klassisch linken sozio-ökonomischen Verteilungskonflikten den Rang abzulaufen. Die Homo-Ehe und sofort danach das Adoptionsrecht für Homosexuelle schienen in der öffentlichen Debatte bedeutender als soziale Ungleichheit und die Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Die Frage, inwieweit eine übertriebene Fixierung der Linken auf immer neue Themen der Identitätspolitik die Ursache für ihre eigene Schwächung und zugleich der Stärkung der populistischen Rechten war, ist gegenwärtig Streitpunkt einer heftigen Debatte innerhalb der liberalen und linken Milieus.


Thomas Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. 2015 erschien in der edition suhrkamp: Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2018, S. 20 - 23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2018

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