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DISKURS/136: Politischer Protest im Internet und auf der Straße (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2019

Politischer Protest im Internet und auf der Straße

von Lisa Villioth


Eine digitale Unterschrift unter eine Onlinepetition setzen, das Verteilen von Flyern auf einer Protestkundgebung, das Weiterleiten einer E-Mail mit dem Aufruf zu einer Straßendemonstration oder das Twittern währenddessen: Protest fügt sich heutzutage aus diversen Online- und Offlineaktivitäten zusammen; reine Online- oder Offlinemobilisierungen sind hingegen selten.

So kann online eine geplante Offlineprotestaktion vorbereitet (zum Beispiel dafür mobilisiert) werden. Sie kann aber auch währenddessen online begleitet werden, indem zeitgleich darüber getwittert wird und Fotos davon auf Facebook geteilt werden. Ein Protest vor Ort kann aber auch im Nachhinein online aufbereitet werden, indem in einem Blog Berichte darüber und Fotos davon hochgeladen werden. Andersherum kann auch offline als Ergänzung zu einer Onlineprotestaktion verstanden werden, wenn beispielsweise die Übergabe einer Unterschriftenliste von einer abgeschlossenen Onlinepetition medienwirksam vor dem Bundestag an den Adressaten/die Adressatin der Petition übergeben wird.

Hier kommen neben der Onlinesphäre und der Straße die Massenmedien ins Spiel. Denn die Hoffnung der Protestorganisator/innen ist, dass am Ort der Aktion die Berichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen über das entsprechende Thema angestoßen wird und dieses eine möglichst breite Öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Schauen wir uns das Zusammenspiel von Internet, Straße und Massenmedien genauer an. Welche Möglichkeiten haben einzelne Personen heute, wenn sie sich politisch einbringen möchten? Welche verschiedenen Formen der politischen Partizipation online und offline gibt es, welche Vor- und Nachteile haben sie, wie funktioniert das Zusammenspiel der verschiedenen Kanäle und welche Wirksamkeit haben sie?

Warum die Straße wichtig ist - und bleibt

Wer gegen Massentierhaltung und genmanipulierten Mais ist, läuft in jedem Jahr im Januar in Berlin bei der "Wir haben es satt!"-Demo mit. Diese ist gegenwärtig eine der größten Straßendemonstrationen in Deutschland, bekannt für Traktorenumzüge, witzige Kostüme und Plakate sowie eine grundsätzlich ausgelassene Stimmung. Straßendemonstrationen wie diese werden nicht von vermeintlichen Onlineversionen abgelöst. Bis heute ist die Straßendemo mit die wichtigste Form des politischen Protestes, denn dort können sich Teilnehmer/innen vergewissern, dass sie mit ihrer Meinung nicht allein sind, sondern viele andere für die gleiche Ansicht oder gegen die gleichen Missstände auf die Straße gehen und gehört werden wollen. Gleichzeitig können sich hier die Demonstrant/innen bei Musik und mit kreativen Plakaten, zusammen mit Freunden oder der Familie in entspannter Atmosphäre für ihre Sache einsetzen. Wenn das Wetter nicht mitspielt oder der Veranstaltungsort sehr weit vom Wohnort entfernt ist, muss abgewogen werden: Wie wichtig ist mir dieses Anliegen? Meist lohnt sich der Aufwand, denn bis heute ist der Straßenprotest (vor allem, wenn die Zahl der Teilnehmenden hoch ist) noch immer die Protestform, die von Politiker/innen am meisten beachtet wird. 100.000 Demonstrant/innen in den Straßen von Berlin üben auf Politiker/innen mehr Handlungsdruck aus als 100.000 Unterschriften unter einer Onlinepetition. Denn auch Politiker/innen wissen: Die Teilnahme an einer Straßendemo erfordert mehr Ressourcen und ist ein höherer Aufwand. Das wiederum verleiht dem Anliegen eine größere Dringlichkeit. Außerdem sind es weiterhin die Massenproteste der Straße, die es abends in die Fernsehnachrichten und am Folgetag in die Printmedien schaffen. Berichterstattung durch Massenmedien ist und bleibt (neben der Bildung einer kollektiven Identität) eines der Kernziele von Straßenprotest. Denn bunte Plakate, prominente Redner/innen und eine hohe Zahl an Teilnehmenden liefern anschaulichere Bilder.

Doch großen Offlineprotestaktionen wie Straßendemos geht häufig viel Arbeit voraus, die nicht immer auf den ersten Blick sichtbar ist. Klassische mitgliedergestützte Organisationen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) arbeiten stetig im Hintergrund und werden nicht nur bei Demos oder Onlinepetitionen aktiv. Ständige Lobby- und Aufklärungsarbeit sowie (häufig lokalere) kleinere Straßenaktionen erfordern einen "harten Kern" von Aktiven, die sich für die Anliegen der entsprechenden Organisation kontinuierlich einbringen. Von einem sogenannten "fluiden Mitgliedschaftsverständnis" profitieren hingegen Organisationen wie die 2004 gegründete Kampagnenorganisation Campact, bei denen sich Interessierte sporadisch und je nach Lust, Zeit oder auch Thema einbringen können. Hier wird ein Großteil der Arbeit jedoch von Mitarbeiter/innen der Organisation erledigt und interessierte Unterstützer/innen können sich insbesondere online durch die Unterzeichnung von Petitionen einbringen.

Das Mobilisierungspotenzial des Internets

Ist also das Engagement offline wichtiger und ergiebiger? Nicht zwangsläufig. Auch das Internet bietet viele Möglichkeiten des Protests und hat seine Vorteile gegenüber dem klassischen Straßenprotest. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich über das Internet in kurzer Zeit mit sehr geringen Kosten eine Vielzahl von möglichen Unterstützer/innen erreichen lässt. Ein weiterer Vorteil setzt noch früher an. Begonnen beim Zugang zu schier unendlichen Mengen an Informationen, bildet das Internet mittlerweile eine wichtige Grundlage für politische Partizipation: die Möglichkeit, sich über bestimmte Sachverhalte zu informieren, sich Wissen anzueignen und (im besten Fall verschiedene) Meinungen und Standpunkte zu einem Thema einzuholen. Zu vielen Themen lassen sich Hintergrundpapiere, Berichte und zusammengetragene Informationen finden, die es der Leserschaft einfacher machen, sich zu einem Thema eine Meinung zu bilden. Durch das Internet und die dort zur Verfügung stehenden Informationen werden wir auf Themen und Missstände hingewiesen, die uns offline vielleicht nie erreicht hätten. Denn es geschieht doch eher selten, dass wir an einem Straßenstand einer Organisation wirklich stehen bleiben und uns ansprechen lassen. Aus Sicht des individuellen Internetnutzers bzw. der -nutzerin steht uns in der Onlinewelt eine ganz neue Fülle an Informationen zur Verfügung, die dazu führen kann, dass wir uns einbringen und an einer Protestaktion teilnehmen.

Aus Sicht einer Organisation wiederum bietet das Internet ein hohes Mobilisierungspotenzial, das durch Briefe, Infostände, Flugblätter und Co. so nicht zu erreichen wäre. Durch E-Mails, über Social-Media-Kanäle und die eigene Website lassen sich mit geringen Kosten Millionen Menschen erreichen, die (im besten Fall) dann an einer Protestaktion teilnehmen - online, offline oder sogar beides. Und so beinhaltet Onlineaktivismus einerseits Formen wie Netzattacken ("Hacktivism"), das Erstellen und/oder Unterzeichnen von Onlinepetitionen, das Kontaktieren eines Politikers/einer Politikerin per E-Mail oder Social Media, die Onlinegeldspende und das Teilen von politisch relevanten Inhalten, andererseits aber auch die Mobilisierung für Straßenprotest. Große Straßendemos oder kleinere Straßenaktionen wie Flashmobs, die Übergabe von Unterschriftenlisten und Protestaktionen gegen Abschiebungen werden häufig über E-Mails oder soziale Medien organisiert und Unterstützer/innen werden auf diesen genannten Kanälen oder über entsprechende Websites erst auf die Aktionen aufmerksam. In Sachen Mobilisierung kann also auch der Straßenprotest von der Digitalisierung profitieren.

Einer Kritik, der der Netzaktivismus häufig ausgesetzt ist, ist der Hinweis auf den sogenannten "Clicktivism" oder "Slacktivism" - den Faulenzeraktivismus. Demnach würde der Onlineaktivismus Menschen davon abhalten, weiterhin auf die Straße zu gehen oder sich in Organisationen zu engagieren. Möglichkeiten wie das Unterzeichnen von Onlinepetitionen würden dazu führen, dass die Unterzeichner/innen das Gefühl haben, sich schon ausreichend für das entsprechende Thema eingesetzt zu haben und eine weitere Offlinebeteiligung daher nicht mehr nötig sei. Niedrigschwellige Partizipationsangebote lösen in dieser Theorie höherschwellige Partizipationsangebote ab. In der Praxis scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein. Dort verstehen sowohl Organisationen als auch einzelne Aktive den Onlineaktivismus vielmehr als Ergänzung zum Straßenprotest und nutzen die sich dadurch bietenden Möglichkeiten der Partizipation zusätzlich zum Offlineengagement. Wer schon in einer Organisation oder anderweitig auf der Straße aktiv ist, unterschreibt Onlinepetitionen schnell auch noch mit - denn es kostet ja weder Geld noch viel Zeit. Wer früher nicht bis kaum engagiert war, nutzt heutzutage in manchen Fällen jedoch die Möglichkeit, mit wenig Aufwand und ohne Verpflichtung eine Stimme für oder gegen etwas abzugeben - und sei es nur in Form der digitalen Unterschrift. Menschen, deren zeitliche und/oder finanzielle Ressourcen stark beschränkt sind, wird hier eine zeit- und geldsparende Option des Protests geboten. Dass eine zuvor offline aktive Person nun aufgrund des Internets und seinen unverbindlichen Protestangeboten auf Straßenprotest verzichtet, dürfte hingegen eher selten vorkommen. Auch aus Sicht der Organisationen sind Online und Offline keine konkurrierenden Sphären, vielmehr zwei sich sinnvoll ergänzende Aktionskanäle. Eine erfolgreiche Protestkampagne besteht heute in der Regel aus Elementen von Straßen- und Netzprotest.


Lisa Villioth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Medien- und Politikwissenschaft an der Universität Siegen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Zusammenspiel von Straßenprotest und Netzaktivismus in der Umweltschutzbewegung.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2019, S. 23 - 25
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2019

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