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DISKURS/138: Identität und Solidarität - Das linke Lager, das rechte Lager, die Arbeiterklasse und die Kosmopolit*innen (spw)


spw - Ausgabe 2/2020 - Heft 237
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Das linke Lager, das rechte Lager, die Arbeiterklasse und die Kosmopolit*innen

von Max Reinhardt und Stefan Stache(1)


Identität und Solidarität

In der Linken wird kontrovers über Identität und Identitätspolitik debattiert: ob und in welcher Form Identitätspolitiken solidarische Praxis und Mobilisierung erschweren oder den Blick auf die materiellen Ungleichheiten verstellen. Zuspitzungen erfuhren die Debatten in den Thesen, die SPD und Teile der Linken hätten die Klassenfrage zugunsten von Identitätsfragen vernachlässigt und seien deshalb in Krisen geraten. Wir setzen uns in einer Debattenreihe kritisch damit auseinander und fragen aus unterschiedlichen Perspektiven, ob und in welcher Weise der Identitätsbegriff für eine sozial-integrative Debatte fruchtbar gemacht werden kann.

Das Thema "Identität" hatte ursprünglich Schwerpunktthema dieser Ausgabe werden sollen. Aufgrund der aktuellen Ereignisse bilden wir in diesem Heft mit zwei Beiträgen einen Auftakt ab. Die Debatte wird fortgesetzt.

Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel erleben Identitäten und deren absichtliche oder unabsichtliche Verletzung aus ihrer Erfahrung in der politischen Bildungsarbeit als stark aufgeheizt. Sie plädieren für solidarische Gespräche und Bündnisperspektiven, die zugleich respektvoll und tolerant gegenüber unbeabsichtigten Fehlern gestaltet werden. Es gehe auch darum, Etappensiege wie z.B. die Ehe für alle, die Anerkennung des dritten Geschlechts und die Streichung des "N-Wortes" aus der Kinderbuchliteratur als solche ernst zu nehmen und nicht in einem allgemeinen Lamento zu verharren. Max Reinhardt und Stefan Stache analysieren gesellschaftliche Strukturen und Spaltungen und ziehen kritisch u.a. Analysen von Andreas Reckwitz, Didier Eribon, Cornelia Koppetsch und Wolfgang Merkel heran. Eine Unterscheidung zwischen einem linken und einem autoritären Lager sei weiterhin gesellschaftlich maßgeblich, für die Wahrnehmungen von politischen Spaltungen im Alltag und in der Politik identitätsstiftend und sinnvoller als die zwischen "Kommunitaristen" und "Kosmopoliten". Denn nach wie vor stehe eine solidarische. Arbeitnehmer*innenschaft, die um ihre Selbstbestimmung kämpfe, vor allem einer autoritären Kapital- und Bürger*innenfraktion gegenüber.


Der Artikel analysiert die Frage nach der Spaltung und Strukturierung von heutigen Gesellschaften auf der Grundlage aktueller Diskurse von Andreas Reckwitz, über Didier Eribon bis hin zu Cornelia Koppetsch, Wolfgang Merkel u.a.. Der Artikel bietet darauf auch eine erste Antwort einer Differenzierung in ein linkes und ein autoritäres Lager, die angesichts der andauernden Klassenpolarisierung zwischen solidarischer und einer um Selbstbestimmung kämpfenden Arbeitnehmer*innenschaft und autoritären Kapital- und Bürgerfraktionen naheliegender erscheint als der Rückgriff auf vermeintlich postmoderne Gegensätze wie der zwischen "Kosmopoliten" und "Kommunitaristen".

Diversität versus Identität?

Einen vergleichbaren, ähnlichen dichotomen Gegensatz beschreibt z.B. der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Artikel "Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus"(2), auf den sich die kritische Auseinandersetzung im Folgenden bezieht:

• den zwischen einer "neue[n] globale[n] Mittelklasse, vor allem in Asien und Lateinamerika"(3) mit ihrer "Pluralisierung von Lebensstilen, verbunden mit einer Öffnung und Pluralisierung von Geschlechternormen, Konsummustern und individuellen Identitäten"(4) vor allem "in den globalen Metropolen"(5)

• und einer homogenen Klassenidentität der Arbeiter*innenklasse in der Rolle "einer neuen, post-industriellen Unterklasse, vor allem in den Industriegesellschaften"(6).

Dabei erscheint nun die Mittelklasse als pluralistisch tolerant und die Arbeiterklasse als homogen und als eher intolerant. Reckwitz nimmt dabei nicht zur Kenntnis, dass es gerade die Arbeiterklasse ist, die sich in immer stärker selbstbestimmte und höher qualifizierte Teilfraktionen ausdifferenziert. Sie gehören zur sogenannten Mitte der Gesellschaft, ohne dass sie deshalb ihren Herkunftshabitus abgelegt hätten. Vielmehr haben sie ihn in Folge von sozialen Öffnungen mit Höherqualifikation sowie mehr Raum für Teilhabe und Selbstbestimmung modernisiert, wie Michael Vester u.a. schon Anfang der 1990er Jahre herausgearbeitet und in späteren Aktualisierungen bestätigt haben.(7) Ein Teil der Mittelklasse sind arbeitnehmerische Fraktionen mit facharbeiterlicher Tradition, während ein zweiter Teil kleinbürgerliche Fraktionen mit teils autoritären und mit zum Teil teilmodernisierten Einstellungen sind.(8)

Reckwitz hingegen beschreibt die Arbeiterklasse als abgestiegen und die pluralisierte Mittelklasse als in ihrer Semantik leitende Klasse. Er greift dabei auf eine von ihm abgewandelte Kulturkampfthese von Samuel Huntington(9) zurück und konstruiert einen Gegensatz

• zwischen der bereits genannten Mittelklasse auf der einen Seite mit den ihr von Reckwitz pauschal zugeschriebenen "Leitsemantiken" "Diversität" und "Kosmopolitismus", die auf einem kulturellen Markt um die Gunst der Selbstverwirklichung wetteifern würden.(10)

• Auf der anderen Seite behauptet Reckwitz nun eine für die Arbeiterklasse schon beschriebene "Kultur der Identitäten"(11), die er auch "in gemäßigter Form Teile(n) des Feldes der identity politics in den USA"(12) zuschreibt und damit den von ihm so titulierten Schwarzen, Hispanics, Italo-Amerikanern, etc., die sich in "Herkunftsgemeinschaften [...] imaginieren"(13) würden.

• Noch eindeutiger sieht er die "Kultur der Identitäten" als gegeben an "für die neuen Nationalismen etwa in Russland, China oder Indien und für neue sogenannte fundamentalistische religiöse Bewegungen wie Salafisten oder Pfingstkirchler."(14)

Während die Mittelklasse als Kulturalisierungsregime I in der spätmodernen Welt noch versucht, über den Multikulturalismus einen Pluralismus mit der "Kultur der Identitäten" herzustellen, ändert die postmoderne Welt diesen Modus im Falle der Erkenntnis:

"Erkennt die Hyperkultur in der Kultur der Identitäten einen Kulturessenzialismus, wechselt sie über in den Modus eines Kampfes zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden. Nun wird der Kulturessenzialismus insofern als totalitär begriffen, als man dort versucht, das plurale Spiel der Differenzen innerhalb der Hyperkultur durch einen homogenisierenden Antagonismus zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu eliminieren."(15)

Reckwitz redet also mit Huntington einem Kulturkampf ("Culture War") das Wort. Die Mittelklasse würde in der Postmoderne mit ihrem Kulturalisierungsregime I gegen die "Kultur der Identitäten" kämpfen. Reckwitz behauptet aus einem Mix aus Huntington und Popper den Konflikt "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"(16), ohne Popper zu zitieren. Zudem verlagert er diesen Konflikt aus dem Jahr 1958 in die Postmoderne. Das Kulturalisierungsregime II hingegen sieht er als Kampf kultureller Identitäten:

"Die eigene, überlegene Nation gegen die Fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus)."(17)

Dabei bleibt offen, warum Reckwitz die Kulturalisierungsregime I und II nicht als dichotome Ideologien entlarvt, die vor allem von der westlichen Welt gegenüber einer kulturell unterlegenen, d.h. homogenen Welt der Arbeiterklasse, der afroamerikanischen u.a. sozialen Bewegungen oder Russlands und Chinas behauptet. Er wertet damit die emanzipative Rolle und die emanzipativen Einstellungen der Arbeiterklasse und der afroamerikanischen sozialen Bewegungen ab bzw. blendet sie vollständig aus. Leider aber kann Reckwitz hierbei auf andere Autor*innen bauen, die ihm Recht zu geben scheinen (siehe übernächstes Kapitel). Eribon jedoch ist hierfür das falsche Beispiel.

Modernisierung der Arbeiterklasse? Oder: Gegensatz von Arbeiterklasse und Pluralisierung?

Die Publikationen von Didier Eribon belegen die These vom Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der Pluralisierung der Lebensstile mit der Akzeptanz von Homosexualität eben nicht. Er beschreibt in seiner autobiografischen Analyse(18) zwar, wie er sich selbst durch seinen Bildungsweg im Vergleich zu seiner sozialen Herkunft modernisiert hat. So sind seine öffentlichen Reflexionen über seine Homosexualität für seine "Mutter durchaus eine Prüfung oder zumindest ein Moment der Scham gewesen"(19), wenn sie von einem Nachbarn danach gefragt wurde. Auch Eribon empfand diese Scham und wollte sie gleichzeitig überwinden.

Er stellte aber bei seinen Selbstreflexionen über seine soziale Herkunft, für die Bourdieu eine zentrale Rolle spielt,(20) Gemeinsamkeiten mit seinen Großmüttern fest, die beide aus der Arbeiterklasse stammen. Während seine Großmutter väterlicherseits die klassische Rolle als Ehefrau, Mutter und Hausfrau eingenommen hatte und sich von Zeit zu Zeit aus ihr zu befreien suchte, war die Großmutter mütterlicherseits zunächst unverheiratet geblieben und konnte viel selbstbestimmter leben und handeln. Sie heiratete den Vater ihres ersten Kindes nicht; auch nach ihrer Heirat mit einem anderen Mann blieb sie selbstbestimmt. Sie verließ ihren späteren Mann vor allem während der Kriegsjahre mehrfach. Eribon verdeutlicht hiermit, dass sich je nach Feldlogik und Herrschaftsmechanismen trotz homologer Position im sozialen Raum unterschiedliche Lebensweisen herausbilden können.(21) So kommt Didier Eribon eben zu dem Schluss, dass er sein soziales Milieu nicht einfach überwunden hat:

"Wie Nizan(22) trage ich die Vergangenheit und das Milieu, das ich hinter mir gelassen habe, noch immer in mir. Wie Bartlett(23) habe ich mir ein anderes Milieu und ein anderes 'Ich' erfunden, die mehr oder weniger friedlich mit denen zusammengelebt haben, die schon vor ihnen da waren"(24).

Eribon plädiert letztlich auch nicht dafür, Klassenidentität und Geschlechtsidentität gegeneinander auszuspielen. Vielmehr weiß er in Anschluss an Bourdieu darum, dass die entscheidende Frage vielmehr darin besteht, die "Gewalt der legitimen Kultur"(25) zu analysieren und die nichtlegitimen Kulturen zurückzuerobern, darunter auch die der Arbeiterklasse.(26) So gelingt es ihm auch, wie bei seinen so zunächst unterschiedlich erscheinenden Großmüttern Gemeinsamkeiten zwischen der nichtlegitimen Kultur der Arbeiterklasse und der nichtlegitimen Geschlechtsidentität eines Homosexuellen zu entdecken.(27)

Kosmopoliten versus Kommunitaristen? Oder: Internationale Solidarität im linken Lager?

Anders als Reckwitz behauptet Eribon keinen absoluten Gegensatz von Kosmopolitismus und traditioneller Arbeiterklasse. Andere Autor*innen hingegen wiederholen den Gegensatz zwischen einem großbürgerlichen Kosmopolitismus und einem arbeiterlichen Kommunitarismus. So erscheint der Angriff gegenüber Linksliberalen mit Titeln wie "Die liberale Illusion"(28) oder neuerdings auch "Die Illusion der Linksliberalen"(29) als Rückschritt, vor allem dann, wenn er traditionelle Verhaltensweisen der Arbeiterklasse gleichzusetzen versucht mit rechtem Gedankengut. Er lenkt in fundamentaler Weise von dem wahren Kern rechtsradikaler und chauvinistisch-protektionistischer Einstellungen ab, die sich nicht neu entwickelt haben. Sie bilden vielmehr eine Konstante eines Teils der Bevölkerung, die mit der Faustformel seit den 1990er Jahren auf etwa 20 Prozent plus minus X geschätzt wird. Nun sollen aber die Linksliberalen oder nach Heisterhagen, Koppetsch und zuvor schon Wolfgang Merkel(30) Kosmopolit*innen für das Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) verantwortlich sein? Dieses Ablenkungsmanöver findet denselben Gegner, den auch die Rechtspopulist*innen und Rechtsradikalen schon seit jeher auserkoren haben. Hier werden Verantwortungslogiken vertauscht und neue Sündenböcke wie die Kosmopolit*innen gefunden, statt die wirklichen Legitimationsmuster rechter Herrschaft zu entlarven. Bereits Johannes Simon(31) hatte darauf hingewiesen, dass die Theorie des ehemaligen rechtsradikalen Beraters von Donald Trump, Steve Bannon sich z.B. in dem Buch "The Road to Somewhere"(32) von David Goodhart, und in dem vermeintlichen Gegensatz zwischen "Kosmopoliten" und "Kommunitaristen" fortlebt. Der Freihandel aber sei, so Simon, alles andere als kosmopolitisch (Stichwort Standortnationalismus). Vielmehr werde z.B. von Wolfgang Merkel der vermeintliche Gegensatz eröffnet, um nur noch darüber zu diskutieren, wie die Schließung der Grenzen zu erfolgen habe.

Das von Simon zu Recht als reaktionär kontextualisierte Narrativ "Kosmopoliten versus Kommunitaristen", das die Entrechtung der Arbeitnehmer*innen durch eine Diskursverschiebung verschleiert, soll hier aufgegriffen und um eine Analyse des rechten Lagers und seiner errungenen Diskurshoheit erweitert werden. Wir stellen uns dabei folgende Fragen: Wer ist das rechte Lager und wie konnte es zur Diskurshoheit insbesondere in der Migrationspolitik kommen?

Das bereits genannte deutlich rechts eingestellte Fünftel der Bevölkerung bestimmte im Bündnis mit der sogenannten gemäßigteren konservativen Mitte vor allem die Asyl- und Flüchtlingspolitik maßgeblich mit. Neben der Union hatte sich die SPD 1993 auf eine extrem restriktive Asylpolitik geeinigt, die Asylbewerber*innen kaum noch Chancen ließ, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Mittels Verfassungsänderung wurde das Drittstaatenprinzip eingeführt, nach dem niemand einen Asylantrag stellen durfte, der über ein Drittland eingereist war. Deutschland entledigte sich eines Großteils der menschenrechtlichen Verantwortung für Geflüchtete. Eine qualifizierte parlamentarische Mehrheit hatte autoritär-rechten Minderheitspositionen nachgegeben. Vorausgegangen waren Exzesse von rechtsextremen Gewalttäter*innen, die teils gemeinsam mit Unterstützung eines radikalisierten Teils der Bevölkerung Anschläge auf Asylbewerber*innenheime verübt hatten.

Erfreulicherweise hat der Historiker Karsten Krampitz im November 2019(33) daran erinnert, wie sehr die Union schon seit Konrad Adenauer bis heute die Rechtsradikalen verharmlost. An die Stelle einer eindeutigen Kritik ist, so Krampitz, in der Union die Hufeisentheorie gerückt, nach der Rechts- und Linksradikale gleichermaßen zu bekämpfen sind. So wurden AfD und Die Linke z.B. von Mike Mohring, dem ehemaligen thüringischen CDU-Fraktions- und CDU-Landesvorsitzenden sowie Spitzenkandidaten, während des thüringischen Landtagswahlkampfes 2019, einfach gleichgesetzt. Schon 1992 spielte die Union ihr Versagen beim Schutz der Flüchtlinge während der Anschläge in Rostock-Lichtenhagen herunter und verharmloste die Gewalttaten. Helmut Kohl erklärte gar, so Krampitz weiter, die Stasi zum Anstifter dieser Anschläge. Genau "solche Legenden und Debatten boten den geistigen Nährboden für das Anwachsen der rechtsradikalen Gegenkultur, auch und erst recht in Thüringen"(34), wo der Verfassungsschutz im Umgang mit Rechtsradikalen versagte.

Während Krampitz die Verantwortlichen genau benennt, versuchen andere, nun Linksliberale zur Verantwortung zu ziehen und blenden damit aus, wer die Hauptverantwortlichen sind. Die Verwirrung beginnt schon mit dem Begriff der Linksliberalen, dem Hauptgegner der Rechten in den USA: Sie sollen nun auch in Deutschland und Europa für die Spaltung der Bevölkerung in Eliten und Deklassierte verantwortlich sein? An die Stelle bisheriger linker Kritik am Neoliberalismus tritt nun der Linksliberalismus? Dabei war es doch der Neoliberalismus und Neokonservatismus, der schon in den 1980er Jahren mit Reaganomics und Thatcherismus den Gewerkschaften in den USA und Großbritannien das Rückgrat brach und zu einem ungehemmten Marktradikalismus führte. Zuvor war es bereits in Chile mit einem rechten Putsch des Generals Augusto Pinochet (1973) gelungen, einen autoritären Neoliberalismus (Milton Friedman) durchzusetzen.(35) Kohl war im Vergleich zu Pinochet, Reagan und Thatcher zwar zaghafter, weil er die Gewerkschaften fürchtete. Aber auch er begann mit einer Politik des Sozialstaatsabbaus (bspw. Rentenkürzung, zwischenzeitliche Abschaffung des Schlechtwettergeldes und vieles mehr).

Osteuropa und Ostdeutschland wurden zu einem neoliberalen "Experimentierfeld" der Deregulierung und Privatisierung, wie Philipp Ther in seinem Werk "Eine Geschichte des neoliberalen Europa" feststellt und ausführt.(36) Nicht allein in Ostdeutschland (Treuhand), sondern in ganz Osteuropa wurden Staatsbetriebe zu Spottpreisen verkauft. Die radikalen Privatisierer kümmerten sich nicht um den Verbleib und das Wohlbefinden der Beschäftigten. Sie waren lediglich Spielball dieses radikalen Neoliberalismus.

Diese radikale Form der Deregulierung war in Kombination mit der Verharmlosung und indirekten Legitimation rechtsradikalen Denkens und Handelns der Nährboden für die spätere direkte Legitimation rechtsradikalen Denkens und ihrer politischen Repräsentation in Form der AfD.

Die AfD schien zwar zunächst eine vorwiegend neoliberale, chauvinistische Partei zu sein, die sich gegen den Euro sowie die weiteren Kredite und Rettungspakete für Griechenland wendete. Sie war jedoch von Anfang an eine Partei von drei autoritären bis rechtsradikalen Strömungen:

• einer neoliberalen, chauvinistischen Strömung um Bernd Lucke und Frauke Petry (beide inzwischen aus der AfD im Kampf um die Macht unterlegen und ausgetreten) sowie Alice Weidel;

• einer nationalkonservativen Strömung um den ehemaligen CDU-Politiker Alexander Gauland;

• einer rechtsradikalen Strömung mit deutlichen nationalsozialistischen Anleihen um den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke, mit dem sich Gauland verbunden hat und von dem er kaum noch unterscheidbar ist.(37)

Keine dieser Strömungen fordert einen Ausbau sozialer Rechte, sozialer Daseinsvorsorge oder mehr Verteilungsgerechtigkeit für Arbeitnehmer*innen oder Arbeitslose; im Gegenteil: Die AfD-Strömungen stehen für einen Abbau sozialer Rechte ein. Ihre Führungseliten stammen zum Großteil aus dem konservativ-gehobenen Bürger*innentum und Kleinbürger*innentum. Ihre Diskurse zielen neben einer Deregulierung und Flexibilisierung sowie einer nationalistischen Politik auf die Ausgrenzung aller als fremd wahrgenommenen Gruppen und Minderheiten. Wenn überhaupt, geht es ihnen um exklusive völkische Solidarität, die mit Ausgrenzung und der Loslösung von europäischer und internationaler Kooperation verknüpft wird.

Das Erstarken der AfD nahm zunächst mit der leichten Entspannung der ökonomischen und finanziellen Krise in Europa wieder ab. Es waren zwei Ereignisse, die die Partei wieder stärkten:

• Die politische Entscheidung für eine Öffnung der Grenzen als humanitäre Rettungsmaßnahme für die Flüchtlinge, die in Ungarn in Lagern vor sich hinvegetierten. AfD und Pegida konstruierten hieraus einen staatlichen Kontrollverlust, obwohl es sich um eine gezielte Rettungsmaßnahme handelte.

• Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln, die die Vorstellung von Flüchtlingen als archaisch und gewalttätig vorherrschend werden ließen. Fortan war die Öffnung der Grenzen auch in der Mehrheit der Medien zunehmend kein menschlicher Akt mehr, sondern eine Bedrohung durch Fremde im eigenen Land ("Flüchtlingsstrom").

Diese Vorstellungen wurden auf der Ebene der politischen Repräsentation von den oben genannten drei Strömungen mitgetragen. Bereits für Anfang der 1990er konnte nachgewiesen werden, dass auf der Alltagsebene unterschiedliche soziale Milieus bzw. Klassenfraktionen autoritäre Einstellungen haben und zwar mal eindeutig rechtsradikale, mal chauvinistische Einstellungen, die bei insgesamt ca. 27 Prozent der Befragten feststellbar waren, die rechtspopulistische, teils sogar rechtsradikale Parteien wählen.(38)

Allerdings spielt es keine entscheidende Rolle, ob diese sozialen Milieus in der Union oder der AfD repräsentiert sind. Im Ergebnis erscheint die AfD zunächst einfach bedrohlicher, wenn sie diese radikalisierten Teile der kleinbürgerlichen und gehobenen konservativen Milieus repräsentiert. Aber auch in den 1990er Jahren waren die Folgen im Prinzip ähnliche: eine restriktive Asylpolitik und lange Zeit auch eine restriktive Geschlechterpolitik. In den letzten Jahren wich die Öffnung gegenüber Geflüchteten einer Politik der Abschottung und einem autoritären europäischen Grenzregime. Erst in den letzten Jahren hat die Zahl arbeitsloser und arbeiterlicher AfD-Wähler*innen zugenommen, aber es sind nicht irgendwelche Wähler*innen. Vielmehr sind es auch hier die Wähler*innen mit rechten Einstellungen, die die AfD wählen.(39)

Insofern ist es keine "Arbeiterbewegung von rechts"(40), denn die Arbeiterbewegung hat sich explizit als arbeiterlich, international-solidarisch, antifaschistisch und damit auch antivölkisch verstanden, während die autoritär eingestellten Arbeiter*innen eine völkische Vorstellung haben, d.h. sich auch nicht explizit nur als Arbeiter*innen sehen. Die Anfälligkeit dieser Arbeiter*innen hat vielmehr mit ihren autoritären Einstellungen zu tun und nicht mit ihrer Identität als Arbeiter*in.

Die Frontstellung zu den "Kosmopoliten" ist dabei aus völkischer Sicht eine alte, wie Richard Herzinger schon am 21.07.2001 im Tagesspiegel analysierte.(41) Aus dem positiven Bild des humanen Kosmopoliten wurde "parallel zum Aufstieg des modernen Nationalismus im 19. Jahrhundert" (ebd.) ein negatives Bild eines "potenzielle(n) Hochverräter(s)" (ebd.) oder auch wie im Nationalsozialismus oder Stalinismus der Jude (siehe ebd.).

Die Analyse des rechten Lagers zeigt, dass hier archaische, rechtsradikale Einstellungen immer noch hinter die Moderne zurückfallen. Die Modernisierung der Union in Fragen der Gleichstellung und Integrationspolitik hat dieses Lager zunehmend inkompatibel mit ihrer Politik gemacht, während sie sich zu Kohls Zeiten noch repräsentiert fühlten. Zwar kann es vor allem der Union gelingen, diese Fraktionen aus dem rechten Lager wieder zu binden. Allerdings wäre der Preis einer Rückbesinnung auf entschieden konservative, antimodernistische Haltungen hoch, weil damit ihre durch langfristige Lernprozesse erarbeitete Modernisierung und ihre Humanität z.B. in Fragen der Gleichberechtigung durch eine Restauration chauvinistischer und entschieden rechter Einstellungen in Frage gestellt werden würde.

Das rechte Potenzial darf zudem nicht unterschätzt werden. So haben sich laut der "Fragilen Mitte"-Studie rechtspopulistische Einstellungen bei etwa 21 Prozent der Befragten verfestigt und insgesamt 43 Prozent zeigen eine rechtspopulistische Tendenz.(42)

Das autoritäre Lager hat es im Bündnis mit für Rechtspopulismus anfälligen Strömungen und konservativen Teilfraktionen geschafft, die Deutungshoheit über die Migrationspolitik zu erlangen. So werten 52,9 Prozent der Befragten der "Fragilen-Mitte"-Studie(43) asylsuchende Menschen ab. Aufgabe aller Demokrat*innen ist es, diese Bündnisse aufzubrechen und die etwas weniger anfälligen Fraktionen für eine gemeinsame integrativ-demokratische Politik zu gewinnen und das entschieden rechte, autoritäre Lager durch Aufklärung über die inhumanen, antidemokratischen Positionen zu delegitimieren.

Das linke solidarische Lager konnte mit dieser Politik bereits die eigenen Anhänger*innen mobilisieren. So hatte die SPD-Spitzenkandidatin und Ministerpräsidentin Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz bei der Landtagswahl 2017 damit Erfolg, nicht auf den restriktiven Flüchtlings- und Heimatdiskurs von Sigmar Gabriel einzuschwenken und sich durch eine linke Sozial- und Bildungspolitik entschieden von den Rechtspopulist*innen abzugrenzen.


Fußnoten

(1) Dr. Max Reinhardt ist Mitglied der spw-Redaktion und Autor zahlreicher Publikationen zur SPD und zu sozialen Milieus. Stefan Stache ist Chefredakteur der spw und lebt in Hannover.

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete und von Max Reinhardt um die ersten drei Kapitel (Einleitung und zwei weitere Kapitel) erweiterte Fassung des in der Freitag-Community veröffentlichten Artikels mit demselben Titel: Max Reinhardt/Stefan Stache 2019:
https://www.freitag.de/autoren/mreinhardt/das-rechte-lager-und-die-kosmopolit-innen.

(2) Andreas Reckwitz 2016: Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus, online:

https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240826/zwischen-hyperkultur-und-kulturessenzialismus.
Reckwitz ordnet seinen eigenen Artikel wie folgt ein: "Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg am 27. September 2016. Die Argumentation greift auf mein laufendes Buchprojekt unter dem Titel "Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne" zurück, dessen Veröffentlichung für den Herbst 2017 im Suhrkamp Verlag geplant ist." (Reckwitz 2016).

(3) Ebd.
(4) Ebd.
(5) Ebd.
(6) Ebd.

(7) Michael Vester/Peter von Oertzen/Heiko Geiling/Thomas Hermann/Dagmar Müller 2015: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M.; für die Studierendenmilieus siehe z.B. Andrea Lange-Vester/Martin Schmidt (Hg.) 2020: Herausforderungen in Studium und Lehre. Heterogenität und Studienabbruch, Habitussensibilität und Qualitätssicherung, Weinheim/Basel.

(8) Siehe Vester u.a. 2015.

(9) Samuel Huntington 1996: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien.

(10) Reckwitz 2016.
(11) Ebd.
(12) Ebd.
(13) Ebd.
(14) Ebd.
(15) Ebd.

(16) Karl Raimund Popper 1958: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons und Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Bern u.a.

(17) Reckwitz 2016.

(18) Didier Eribon 2017 [2013]: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Frankfurt a.M., S. 136-147.

(19) Ebd., S. 96.

(20) Siehe auch Fußnote 20.

(21) Siehe Eribon 2017, S. 78. Er spitzt diese These zu und verweist darauf, dass Bourdieu in seinem Buch "Ein soziologischer Selbstversuch" (2002, Frankfurt a.M.) die Position im jeweiligen Feld als entscheidend für die Entwicklung der Biografie beschreiben und dabei den Habitusbegriff degradieren würde. Ganz im Sinne von Bourdieu aber merkt Eribon an, dass der Habitus und die Lernprozesse in Kindheit und Jugend entscheidend für "die 'Anziehungen' und 'Abstoßungen'" (Eribon 2017, S. 78) beim Eintritt in das intellektuelle Feld seien.

(22) Paul Nizan (1905-1940), französischer Schriftsteller.

(23) Neil Bartlett (*1958), englischer Regisseur.

(24) Eribon 2017, S. 253.

(25) Ebd., S. 201. Möglicherweise bemüht sich Eribon auch so stark um eine Differenzierung der Arbeiterklasse, weil Bourdieu zumindest in seinem Buch "Die feinen Unterschiede" (1982 [1979], Frankfurt a.M.) nur das Kleinbürgertum und noch nicht die Arbeiterklasse ausdifferenzierte. Für Deutschland haben Vester u.a. 2015 unter Rückgriff auf die Methodik des Sinus-Instituts die Arbeiterklasse ausdifferenziert.

(26) Die vorherigen drei Kapitel stammen von Max Reinhardt; danach folge der leicht überarbeitete Artikel von Reinhardt/Stache (siehe auch Fußnote 1).

(27) Siehe Eribon 2016, S. 259-265.

(28) Nils Heisterhagen 2018: Die liberale Illusion, Bonn.

(29) Cornelia Koppetsch 2019, in: FUTURZWEI 10/2019, online:
https://taz.de/Cornelia-Koppetsch-ueber-Rechtspopulismus/!169769/.

(30) Wolfgang Merkel: 2017: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst/Ina Kubbe/Thomas Poguntke (Hg.): Parties, Governments and Elites. Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden, S. 9-23.

(31) Johannes Simon 2018: Wer sind nur diese Kosmopoliten?, in: der Freitag 16.08.2018, online:
https://www.freitag.de/autoren/josimon/wer-sind-nur-diese-kosmopoliten

(32) David Goodhart 2017: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, London.

(33) Karsten Krampitz 2019: Hufeisen im Hirn, in: der Freitag 45/2019, online:
https://www.freitag.de/autoren/karsten-krampitz/hufeisen-im-hirn.

(34) Ebd.

(35) Zu Chile, aber auch zu Osteuropa und weiteren Beispielen vgl. z.B. Naomi Klein 2007: Die Schock-Strategie, Frankfurt a.M.

(36) Philipp Ther 2019 [2016]: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent - Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a.M.

(37) Zu den politischen Strömungen in der AfD vgl. z.B. Max Reinhardt 2015: Autoritäre Milieus, autoritäre gesellschaftspolitische Lager und Parteipräferenzen im Wandel? Biedermann und die Brandstifter, in: spw 3/2015, S. 26-34.

(38) Zu den Milieupräferenzen siehe Michael Vester 2017: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit,
https://www.spw.de/data/michael_vester.pdf, S. 32.

(39) Zu den Einstellungen von AfD-Wähler*innen siehe Martin Schröder 2018: AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich, online:
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.595120.de/diw_sp0975.pdf.

(40) Klaus Dörre/Sophie Bose/John Lütten/Jakob Köster 2018: Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte, Berliner Journal für Soziologie 28/2018, S. 55-89, online:
https://doi.org/10.1007/s11609-018-0352-z.

(41) Richard Herzinger 2001: Kosmopolitismus: Wurzeln mit Flügeln, in: tagesspiegel.de 21.07.2001, online:
https://www.tagesspiegel.de/kultur/kosmopolitismus-wurzeln-mit-fluegeln/243140.html.

(42) Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan 2019: Verlorene Mitte - Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, online:
https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie/.

(43) Ebd.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2020, Heft 237, Seite 58-64
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2020

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