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FRAGEN/007: Claudia Roth zur Flüchtlingspolitik - "Deutschland muss seine Blockadehaltung aufgeben" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

"Deutschland muss seine Blockadehaltung aufgeben"

Interview mit Claudia Roth von Benjamin Klaußner



Die Zahl der weltweiten Flüchtlinge ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind derzeit mehr als 45 Millionen Menschen auf der Flucht. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) fordert, mehr Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen und die europäische "Abschottungspolitik" zu beenden.


DJI Impulse: Frau Roth, Sie haben im Januar 2014 syrische Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien und im Irak besucht. Wie leben die Menschen in den Flüchtlingscamps?

Roth: Ich habe mehrere Flüchtlingslager, Camps und Gemeinden in den drei Ländern besucht, in denen ein Teil der über zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben, die den Grausamkeiten des Krieges wie des Assad-Regimes entkommen sind. Wir haben es in diesen Ländern und vor allem in Syrien selbst mit einer humanitären Katastrophe zu tun, die die internationale Gemeinschaft nicht gleichgültig lassen darf. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR arbeitet in allen Ländern auf Hochtouren, um möglichst viele Flüchtlinge zu registrieren und so eine koordinierte Hilfe organisieren zu können.


DJI Impulse: Welche Probleme gibt es bei der Versorgung der Flüchtlinge?

Roth: Zumindest in den vom UNHCR betreuten Einrichtungen ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Zelten und erster Hilfe kein akutes Problem, sondern eher die Fragen nach gesundheitlicher Versorgung, Bildung und Zukunftsperspektiven der Flüchtlinge. Das Traurige im Leben der Flüchtlinge ist nicht nur, dass sie durch die Flucht und Vertreibung alles verloren haben, dass ihre Erziehung, ihre Bildung, ihre Qualifikationen, ihre Häuser und vieles andere durch die Flucht nichts mehr wert sind. Es ist vor allem die bedrückende Angst, wie es weitergeht, wie lange die Menschen diese Ungewissheit ertragen müssen, was mit den Kindern und Jugendlichen wird. Und wir reden hier von millionenfachen Schicksalen. Aufgrund der vielen Menschen, die zu ihnen kommen, steht die gesamte Infrastruktur der Nachbarländer Syriens vor dem Zusammenbruch. Diese Not droht nicht mehr kontrollierbare politische Krisen in diesen Ländern nach sich zu ziehen.


DJI Impulse: Was könnten die westlichen Staaten oder die Vereinten Nationen politisch tun, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern?

Roth: Als wichtigstes: Sie sollten das Schicksal der Flüchtlinge des syrischen Bürgerkrieges nicht vergessen. Denn zum einen bedeutet es enormes Leid für die Menschen, die vor Gewalt und Not fliehen mussten, zum anderen bedeutet die enorme Fluchtbewegung in der Region aber inzwischen auch eine große Herausforderung für die humanitäre und politische Situation in den Aufnahmeländern wie dem Libanon, Irak oder eben auch Jordanien. Deswegen sollte die internationale Gemeinschaft diesen Ländern dringend nicht nur mit weiteren klassischen Hilfsmaßnahmen zur Seite stehen und die humanitäre Lage dort verbessern, sondern mit neuen Ansätzen von Entwicklungsund Aufbaumaßnahmen aktiv werden, um die zusehends kollabierende Infrastruktur in diesen Ländern zu retten. Zum anderen müssen sich aber auch mehr Länder dazu bereit erklären, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Es wird vor Ort durchaus mit großer Enttäuschung wahrgenommen, dass in Europa bislang nur Deutschland und Schweden syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen. Angesichts der Zahlen von über 2 Millionen syrischer Flüchtlinge in den Anrainerstaaten und 6,5 Millionen Binnenflüchtlingen ist die Aufnahme von 10.000 Syrerinnen und Syrern in Deutschland nur eine symbolische Geste. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land wie Deutschland viel mehr Flüchtlinge aufnehmen kann. Diese Zahl sollte man in Relation setzen zu den über 1,3 Millionen syrischen Flüchtlingen im Libanon bei einer Gesamtbevölkerung von 4 Millionen Einwohnern. Nur so lässt sich die Dramatik der Lage in der Region und die Notwendigkeit einer größeren Aufnahmebereitschaft in Europa deutlich vor Augen führen.


DJI Impulse: Sie haben die Haltung der meisten EU-Staaten beim Umgang mit Flüchtlingen vor einigen Jahren als "Wettlauf der Schäbigkeit" bezeichnet. Was meinten Sie damit?

Roth: Es ist ein großes Versagen der europäischen Staaten, dass sie sich bis heute nicht auf eine gemeinsame Einwanderungspolitik, auf einheitliche Asylregeln und einheitlich hohe Standards zum Umgang mit Flüchtlingen einigen konnten. Und dass es in Europa noch nicht einmal die politische Einsicht gibt, dass die Flüchtlinge, die aus armen oder konfliktreichen Regionen Zuflucht in Europa suchen, für alle Staaten eine gemeinsame Verantwortung bedeuten und sie nicht nur das "Problem" Italiens, Maltas, Griechenlands oder Ungarns sind. Solange die Länder im Zentrum der EU sich ihrer Verantwortung und Verpflichtung verweigern, haben es die Länder mit EU-Außengrenzen leicht, das Fehlen von rechtsstaatlichen Standards im Umgang mit Flüchtlingen mit "Überlastung" zu rechtfertigen. Solange diese Länder mit dem Problem alleingelassen werden, werden sie weiter auf das Prinzip Abschreckung und Abschottung setzen. Dieses Politikversagen hat einen Wettlauf um die unzumutbarsten Bedingungen für Flüchtlinge zur Folge. Und das ist grauenhaft.


DJI Impulse: Es wird immer wieder argumentiert, dass Deutschland ohnehin schon mehr Flüchtlingen und Asylsuchenden helfe als andere Staaten. Immerhin nahm die Bundesrepublik laut dem UNHCR-Jahresbericht 2012 nach Pakistan und Iran die drittmeisten Flüchtlinge weltweit auf und erkannte nach den USA die zweitmeisten Asylanträge an. Warum ist das trotzdem keine gute Bilanz?

Roth: Pro Asyl hat ja bereits deutlich gemacht, dass diese Statistik durchaus irreführend ist. In absoluten Zahlen nimmt die Bundesrepublik zwar europaweit die meisten und weltweit die drittmeisten Flüchtlinge auf; jedoch ist es viel aussagekräftiger, wenn man sich anschaut, wie die Zahl der Asylbewerber im Verhältnis zur Bevölkerung aussieht. Und da ist die Bilanz von Deutschland nicht zufriedenstellend. Demnach kam das wirtschaftlich starke Deutschland 2012 nämlich auf weniger als einen Flüchtling pro 1.000 Einwohner. Deutschland belegte so gerade einmal Platz zehn unter allen EU-Ländern. Ganz vorne steht in diesem Ranking Malta mit fünf Asylbewerbern pro 1.000 Einwohner, gefolgt von Schweden, Luxemburg, der Schweiz, Belgien, Norwegen, Österreich, Zypern und Dänemark. Es gibt also keinen Grund, uns hier in Deutschland in Sachen Flucht und Asyl zurückzulehnen.


DJI Impulse: Laut "Dublin II"-Abkommen der EU ist das jeweilige Einreiseland eines Flüchtlings für das Asylverfahren zuständig. Drittstaaten schicken Flüchtlinge deshalb oft in die Länder zurück, in denen sie zuerst eingereist sind. Wie könnte die EU eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staaten erreichen?

Roth: Indem nicht die geografische Lage der Länder, sondern die gemeinsame Verantwortung aller maßgebend wird und indem beispielsweise Deutschland innerhalb der EU endlich seine Blockadehaltung für eine gemeinsame Lösung aufgibt. Es braucht eine Mischung aus freier Wahl der Flüchtlinge, wo sie leben möchten, und einem fairen Ausgleich zwischen den einzelnen EU-Staaten. Dabei müssen dann natürlich Kriterien wie die Einwohnerzahl, die Aufnahmekapazität und die Wirtschaftsstärke eines Landes eine Rolle spielen.


DJI Impulse: Welche Mittel hätte die deutsche Bundesregierung noch, um gemeinsam mit anderen Staaten in der EU eine modernere Flüchtlingspolitik durchzusetzen?

Roth: Sie könnte über den EU-Rat Druck machen, dass endlich legale Migrationsmöglichkeiten geschaffen werden, die auch für die irreguläre Migration durch Flucht und Vertreibung gelten. Außerdem müsste sie sich dafür einsetzen, dass die Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen ein Ende hat. Denn die Hinnahme des Massensterbens im Mittelmeer bedeutet nichts anderes als die Verletzung der Schutzpflicht und der humanitären Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft. Dieses Sterben muss beendet werden, genauso wie die Verweigerung des Rechtswegs und menschenwürdiger Standards für Flüchtlinge. Flüchtlingen muss in Europa ein Leben in Würde ermöglicht werden.


ZUR PERSON

Claudia Roth ist seit Oktober 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. In den Jahren 2001-2002 sowie von 2004-2013 war sie Vorsitzende der Partei "Bündnis 90/Die Grünen". Die 1955 in Ulm geborene Politikerin arbeitete nach dem Abbruch ihres Studiums der Theaterwissenschaften in München als Dramaturgin in Dortmund, wo sie ein freies Theater mitbegründete. In den frühen 1980er-Jahren war sie Managerin der Rockband "Ton Steine Scherben". Zu "Bündnis 90/Die Grünen" kam sie 1985 als Pressesprecherin der Bundestagsfraktion. Zwischen 1989 und 1998 war sie Abgeordnete im Europaparlament, von 1994-1998 Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Claudia Roth ist seit 1998 (mit einer Unterbrechung von 2001-2002) Mitglied des Deutschen Bundestags.


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014
- Nr. 105, S. 18-19
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2014