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FRAGEN/025: Interview mit Dr. Aleida Guevara - Das lebendige Erbe eines absoluten Kämpfers (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kuba / Lateinamerika
Interview mit Dr. Aleida Guevara - Das lebendige Erbe eines absoluten Kämpfers

Von Sergio Ferrari


(Quito, 02. Oktober 2017, alai) - Ein halbes Jahrhundert nach seiner Ermordung im bolivianischen La Higuera zählt Ernesto Che Guevara auch heute noch zu den weltweit am meisten wahrgenommenen politischen Persönlichkeiten. Kaum eine soziale Bewegung, die nicht das Konterfei des argentinisch-kubanischen Guerilla-Kämpfers abbildet, der im Alter von nur 38 Jahren im bolivianischen Urwald erschossen wurde. Wenigen Politiker*innen ist es gelungen, innerhalb einer so kurzen Lebenszeit die Zeitgeschichte in einem solchen Maße zu prägen. Das liege sicher auch an seiner umfassenden Menschlichkeit, meint seine Tochter Aleida Guevara in einem Interview.

Dr. Aleida Guevara, kürzlich auf Einladung von Cuba Sí in der Schweiz, lebt in Kuba, wo sie 1960, zwei Jahre nach der kubanischen Revolution, geboren wurde. 1964 schloss sich ihr Vater dem internationalistischen Kampf an, um zunächst im Kongo und anschließend in Bolivien aktiv zu werden.


Was ist für Sie das wichtigste Erbe, das Sie von Ihrem Vater erhalten haben?

Aleida Guevara: Ganz eindeutig: seine Fähigkeit zu lieben. Obwohl ich sehr klein war, als er aus meinem Leben verschwand, habe ich ihn immer als ganzen Menschen wahrgenommen. Nicht als Ikone oder lebloses Bild, sondern als einen Menschen, der in der Lage ist zu lieben. Diese für uns Kinder spürbare Anwesenheit meines Vaters verdanken wir unserer Mutter, einer außergewöhnlichen Frau. Sie hat seine Liebe an uns weitergegeben.

Dadurch war mein Vater immer irgendwie anwesend; er war für uns der Gute, wie die Helden im Film. Wir Kinder mussten brav sein und gute Noten nach Hause bringen, weil wir unseren Vater lieb hatten und wollten, dass er stolz auf uns ist. Unsere Mutter hat es immer geschafft, dass wir das wirklich so empfunden haben, ohne uns in irgendeiner Form zu nötigen ...

Was sind Ihre bewusstesten und lebendigsten Erinnerungen?

Aleida Guevara: Als ich 16 war, gab mir meine Mutter einige Seiten eines Manuskripts zu lesen, ohne mir zu sagen, wer es verfasst hatte. Ich vertiefte mich in den Text und merkte erst später, dass er es geschrieben hatte. Es war ein Bericht über seine erste Reise durch Lateinamerika. Ich fand es sehr schön, diesen jungen Mann, der mein Vater gewesen war, zu entdecken. Er war mir so nah, hatte ungefähr mein Alter.

Das war nicht der Mann, den ich von klein auf kannte, aus den Schriften, die alle kubanischen Kinder lesen. Das war nicht der heldenhafte Guerillakämpfer, nicht der Kommunist, der Staatsmann in wichtigen leitenden Funktionen. Durch diesen Bericht lernte ich den jungen Mann kennen, der er gewesen war. Eine wunderbare Erfahrung!

Diese Fähigkeit zu lieben, die Sie als eine der charakteristischsten Eigenschaften Che Guevaras bezeichnen, denken Sie, dass es sich um ein universelles oder ein familiäres Vermächtnis handelt?

Aleida Guevara: Im Studienzentrum Che Guevara in Havanna kann man die Reden des Che nachhören. Dabei stehen immer zwei Dinge im Vordergrund: die Bildung und die menschliche Empfindsamkeit. Junge Menschen müssen sich weiterbilden, um sich mit der Natur verbinden, Mitleid mit ihr empfinden und von ihr lernen zu können. Wir können die Natur kontrollieren, aber nur, wenn wir sie auch respektieren. Und wir müssen empfindsam sein gegenüber den Dingen, die auf dieser Welt passieren, in ihren abgelegensten Winkeln.

Ohne Sensibilität wird der Mensch niemals Mensch sein. Wir brauchen empfindsame Menschen, um eine andere Welt zu schaffen. Wie sonst kann man von einem kubanischen Arzt verlangen, nach Afrika zu gehen und bei der Bekämpfung von Ebola mitzuwirken? Mein Vater hat es so ausgedrückt: "Man kann mich für einen Romantiker halten oder für einen Idioten, aber ich sage immer: Ein echter Revolutionär muss in der Lage sein, starke Gefühle der Liebe zu entwickeln. Wer das nicht kann, wird nie ein echter Revolutionär."

Die internationalistische Perspektive wird stets als weiterer Kerngedanke der Politik Che Guevaras benannt. Würden Sie sagen, dass es sich bei diesem Konzept in gewisser Weise um einen Vorläufer der Antiglobalisierungsbewegung handelt?

Aleida Guevara: Mein Vater hat in verschiedenen Kontexten deutlich gemacht, dass es unser wichtigster Traum sei, eines Tages soweit zu kommen, dass es beispielsweise einem Kongolesen nichts mehr ausmacht, für die Unabhängigkeit eines asiatischen Landes zu sterben. Oder dass ein Lateinamerikaner bereit ist, sein Leben auf europäischem Territorium zu riskieren, wenn es nur darum geht, unsere Sache zu verteidigen.

Das Wichtigste ist, dass die Menschen es schaffen, die Grenzen niederzureißen und sich und andere als Menschen zu begreifen und zu erkennen, dass wir einander brauchen, trotz der zahlreichen Unterschiede, insbesondere der kulturellen, die uns voneinander trennen. Wir müssen spüren können, wie wichtig es ist, dass wir als Menschen, die wir zusammen auf diesem Planeten leben, einander kennen und verstehen.

Diese umfassende Vision, die Sie gerade dargelegt haben, ist eng verbunden mit der Ideologie des neuen Menschen, die im Denken Ihres Vaters großen Raum einnahm.

Aleida Guevara: Der neue Mensch war für ihn immer der Mensch im sozialistischen Kuba. Was er damit meinte, war ein Mensch, der fähig sein sollte zu spüren, empfindsam und solidarisch zu sein und der anderen Menschen Respekt entgegenbringt. Der in der Lage ist, all' das Gute zu begreifen, dass die neuen Technologien mit sich bringen, ohne jedoch der Natur zu schaden. Ein Mensch, der seine Kreativität in den Dienst seiner Mitmenschen stellt.

Wie würde das Konzept des neuen Menschen heute aussehen?

Aleida Guevara: In der Schule für lateinamerikanische Medizin in Kuba habe ich beispielsweise junge Ärzt*innen kennengelernt. Es sind phantastische jungen Frauen und Männer, die sehr respektvoll miteinander umgehen. Einige von ihnen waren jahrelang nicht verreist und fuhren nun in ihr Land zurück, um ihren Urlaub dort zu verbringen. Was taten sie? Nach der Landung stellten sie ihre Taschen ab und gingen in weit entlegene Indígena-Dörfer, um dort zu arbeiten. Oder die jungen Leute von der brasilianischen Landlosen-Bewegung, mit denen ich zusammenarbeite, die sich für die Umsetzung der Landreform einsetzen, ohne die die Bauern nicht von ihrer Arbeit leben können.

Sie engagieren sich rückhaltlos dafür, dass das Land den Menschen zugutekommt und nicht den Großkonzernen. Ich habe viele junge Bolivianer*innen kennengelernt, die die Reformen von Evo Morales unterstützen, weil sie die Lebensbedingungen der Menschen verbessern wollen. Oder die kolumbianischen Student*innen, die zusammen mit Landarbeiter*innen und Indígenas gezeigt haben, über welche außerordentliche Macht sie verfügen. Oder die mexikanischen Männer und Frauen, die nicht schweigen, sondern weiter nach ihren Kindern suchen, die ihre Angst überwinden und immer weiter gehen.

Vor kurzem habe ich zur Vorbereitung des 9. Kongresses der Komitees zur Verteidigung der Revolution CDR (Comités de Defensa de la Revolución) verschiedene kubanische Provinzen bereist, und es war wunderbar, so viele junge Menschen im Alter von durchschnittlich 24 bis 25 Jahren zu treffen, die den Wunsch haben, ihr Land voranzubringen. Auch die europäischen Aktivistinnen und Aktivisten möchte ich an dieser Stelle nennen. Gut vernetzt, sehr bemüht und reflektiert.

Was meinen Sie: Wenn Ihr Vater heute leben würde, was wäre er dann? Ein Revolutionsarzt, ein überzeugter Umweltschützer, ein militanter Globalisierungsgegner?

Aleida Guevara: Das ist eine schwierige Frage, besonders weil mein Vater nicht hier ist. Obwohl, wenn wir ihn wirklich so gut kennen, wie wir ihn zu kennen glauben, dann wäre Mauricio Macri jetzt nicht in Argentinien an der Macht. Wäre mein Vater am Leben, dann wäre Argentinien sicher nicht das, was es heute ist. Mein Vater wollte von Bolivien weiter nach Argentinien. Wäre er am Leben, würde das bedeuten, dass er mit seinem Plan Erfolg hatte.

Er selbst hat immer gesagt: Mit einer richtigen Revolution hat man entweder Erfolg, oder man stirbt. Wäre er noch am Leben, würde das bedeuten, dass jede Menge umwälzende Veränderungen in der gesamten Cono Sur-Region stattgefunden haben. Es wäre sicher eine andere Welt für uns alle. Wer weiß, vielleicht wäre ich ihm gefolgt, um ihm zu helfen. Er wäre sicher in der Nähe der Völker Lateinamerikas. Immer. Daran besteht für mich kein Zweifel. Würde er leben und die Revolution hätte sich nicht durchgesetzt, dann würde er es weiter versuchen. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.

Che und die kubanische Revolution sind wie zwei Seiten derselben Münze. Wie würden Sie die gegenwärtige Situation in Kuba beschreiben?

Aleida Guevara: Wir sind gerade in einer sehr schwierigen Situation. Nicht nur wir, sondern die ganze Welt. An der Spitze der USA steht ein unberechenbarer Mann, der die Macht zur Zerstörung in den Händen hält und dem man nicht über den Weg trauen kann. Was er heute sagt, das widerruft er morgen wieder. Deshalb haben wir uns gesagt, dass wir vorbereitet sein müssen. Kuba muss vorbereitet sein, das Volk ist fest entschlossen. Wir haben aus unserer Geschichte etwas sehr Wichtiges gelernt: Das einzige, was das Überleben Kubas sichern kann, ist seine Revolution. Wir müssen sie verbessern, perfektionieren. Hätten wir nicht unseren gesellschaftlichen Prozess, würden wir sofort von der Bildfläche verschwinden.

Wir erhalten unsere sozialistische Gesellschaft aufrecht, um leben zu können und unseren Lebensstandard zu verbessern. Das ist natürlich nicht einfach ... Besonders weil wir schon immer mit anderen Völkern solidarisch waren. Wenn man immer mit den anderen solidarisch ist, kann man nicht gleichzeitig auch selbst von einem Tag auf den anderen wachsen. Als Beispiel möchte ich die kubanischen Ärzt*innen nennen, die zu Tausenden in vielen Ländern der Welt arbeiten, größtenteils als freiwillige Internationalist*innen. Und zum Schluss möchte ich noch sagen: Wir haben gelernt, so zu leben, und niemand hat es geschafft, uns unsere Lebensfreude zu nehmen. Das ist das Beste am kubanischen Volk. Wir lachen sogar über uns selbst. Und ein Volk, das über sich selbst lachen kann, ist praktisch unbesiegbar. Man kann es nicht unterjochen oder ihm seine Kraft nehmen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2017

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