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KULTUR/400: Die Verbindlichkeit kultureller Orientierung (idw)


Universität Koblenz-Landau - 17.10.2016

Die Verbindlichkeit kultureller Orientierung


Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 wird in der öffentlichen Debatte die Verbindlichkeit des kulturellen Selbstverständnisses zunehmend zur Herausforderung: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Science to Mayence" beleuchtete der Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Orientierung und normative Bindung" der Universität Koblenz-Landau aktuelle Fragen der gelebten und gleichzeitig als prekär empfundenen Kultur.


Wie werden alltäglich gelebte Selbstverständlichkeiten verbindlich? Welche Werte können oder müssen gesellschaftlich verbindlich sein? Wie kann das Zusammentreffen verschiedener kultureller Orientierungen in unserer Gesellschaft funktionieren und wohin soll es führen? Wir werden täglich mit diesen Fragen konfrontiert - in der Schule, in sozialen Einrichtungen oder in Betrieben. Die zum Teil hitzigen Auseinandersetzungen um das Burka-Verbot dokumentieren beispielsweise die Emotionen, die in diesen Fragen liegen. Die Forderung nach Selbstbestimmung der Frau durch ein Verbot des Kleidungsstückes steht unvermittelt neben der Auffassung, dass just dieses Verbot ihre Freiheit untergräbt. Es schließen sich aber auch genau hieran die Fragen, wie Riten und Verkörperungen zusammenhängen, welchen Normen Verkörperungen unterliegen oder wie darüber adäquat gesprochen werden kann, an. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsschwerpunktes "Kulturelle Orientierung und normative Bindung" (Kultur-Norm) widmen sich diesen Fragen und zeigen, was solchen Debatten zugrunde liegt und was sie für unsere Zeit bedeuten.

Der Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Orientierung und normative Bindung" nahm diese aktuellen Fragen zum Anlass und lud zu einem Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zum Thema Integration, Verbindlichkeit und Kultur in die Mainzer Staatskanzlei ein. Mit dem Format "Science to Mayence" wird der Wissenstransfer in die Gesellschaft und Politik intensiviert. Forscherinnen und Forscher kommen in die Landeshauptstadt und präsentieren eingeladenen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Gesellschaft und Medien profilbildende Forschungsprojekte und -schwerpunkte der Universität Koblenz-Landau.

"In einer Zeit, in der Normen durch permanente Flexibilisierung und Veränderung sozialer und kultureller Rahmenbedingungen immer mehr infrage gestellt werden, ist eine fundierte Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern 'kulturelle Orientierung' und 'normative Bindung' von besonderer Dringlichkeit. Der Forschungsschwerpunkt Kultur-Norm, seit 2014 an der Universität Koblenz-Landau etabliert und durch die Landesforschungsinitiative gefördert, trägt daher nicht nur zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bei, sondern liefert auch wichtige Beiträge zu aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Umso mehr freut es mich, dass wir mit dem innovativen Veranstaltungsformat 'Science to Mayence' die Möglichkeit haben, unseren Forschungsschwerpunkt zentralen Akteuren der Bürgergesellschaft vorzustellen", so Universitätspräsident Prof. Dr. Roman Heiligenthal.

"Wir konnten es im Jahr 2013 nicht voraussagen, haben es aber vielleicht geahnt, dass genau dieses Thema der Verbindlichkeit in modernen Kulturen besonders brisant wird - man denke etwa an die Diskussionen rund um die Flüchtlingsströme. Wo Verbindlichkeit fehlt, entsteht Desorientierung. Wo Desorientierung zum Regelfall wird, entstehen Ängste. Das Geschäft der Aufklärung besteht vielleicht heute nicht nur darin, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen, sondern auch darin, aus einer selbstverschuldeten Angst zu führen. Und vielleicht ist das Konzept der Verbindlichkeit hier ein guter Wegweiser", hob Prof. Dr. Christian Bermes, Sprecher des Forschungsschwerpunktes, hervor.

Bereits im Vorfeld stellte Minister Prof. Dr. Konrad Wolf zur Entwicklung des Forschungsschwerpunktes fest: "Es ist beeindruckend zu sehen, was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Projektes in knapp drei Jahren auf die Beine gestellt haben. Über die internationale und gesellschaftliche Vernetzung des Forschungsschwerpunktes hinaus, ist es seinen Mitgliedern gelungen, ihr Thema 'Verbindlichkeit' interdisziplinär zu erschließen und in die öffentliche Debatte um Integration einzubringen."

Neben der Vorstellung der Cluster "Kultur und Lebensform" (Prof. Dr. Christian Bermes), "Verkörperung und Kultur" (Prof. Dr. Michaela Bauks) sowie "Kulturelle Öffentlichkeit und die Verbindlichkeit der Sprache" (Prof. Dr. Jan Georg Schneider) verorteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Gespräch Fragen und Vorschläge ihrer Gäste vor dem Hintergrund der laufenden Forschungsarbeiten. In der abschließenden Podiumsdiskussion setzten sich Dr. Christiane Rohleder, Staatssekretärin im Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz, die Schriftstellerin Marjana Gaponenko, der Ethnologe Prof. Dr. Andreas Ackermann und der Rechts- und Moralphilosoph Prof. Dr. Matthias Jung mit der Frage "Migration und Integration - eine Herausforderung für unser kulturelles Selbstverständnis?" auseinander. Sie erörterten die Kernfrage, was unsere pluralistische Kultur ausmacht. Was verbindet die Vielzahl von Lebensweisen, die hier tagtäglich aufeinandertreffen? Können oder müssen wir diese Verbindung herstellen? Oder ist es nicht so, dass viele Menschen sich durch die Unterschiede, die sie erleben, in ihrem weltoffenen Selbstverständnis herausgefordert fühlen und nach Verbindlichem suchen?

Hieran anschließend formulierte Staatssekretärin Dr. Christiane Rohleder die Position: "Unsere Werte sind verbindlich, unsere Kultur ist es nicht. Die Kultur verträgt Vielfalt. Es gehört sogar zu unseren verbindlichen Werten, kulturelle Vielfalt zu tolerieren. Es ist mir wichtig, diesen Wert zu vermitteln - und zwar sowohl den zu uns Geflüchteten als auch gegenüber Rechtspopulisten, die diese Vielfalt in Frage stellen. Vielfalt zu akzeptieren gehört für mich zum Kern unserer freiheitlichen Gesellschaft, in der jeder nach seiner Art glücklich werden kann."

Durch die Veranstaltung führte Dr. Timo Werner, Geschäftsführer des Frank-Loeb-Instituts.


WEITERE INFORMATIONEN
Forschungsschwerpunkt Kultur-Norm

Dem Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Orientierung und normative Bindung" gehören 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Koblenz-Landau an. Sprecher des Forschungsschwerpunktes ist Prof. Dr. Christian Bermes, stellvertretende Sprecherin ist Prof. Dr. Michaela Bauks. Die zentrale Frage, welche normative Kraft die Kultur in der Gegenwart haben kann, führt die verschiedenen Forschungsinteressen der beteiligten Disziplinen zusammen.

Koblenzer und Landauer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Pädagogik, Philosophie, Soziologie, Theologie, Ethnologie sowie Literatur- und Sprachwissenschaft gehen gemeinsam der Frage nach, was moderne Gesellschaften zusammenhält und an welchen Normen sich die Mitglieder moderner Gesellschaften orientieren können. Als Beispiele können die aktuellen Diskussionen um die Zuwanderung von Flüchtlingen, die Frage nach der Normierung von Sprache oder der Umgang mit Prozessen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung genannt werden. In all diesen Fällen finden Transformationsprozesse statt, die durch das Auseinandertreten oder auch Aufeinandertreffen von sozialen Vorgegebenheiten und Normativitätsansprüchen gekennzeichnet sind. Das Forschungsprojekt beschreibt diese Phänomene als ein Teil der kulturellen Entwicklung und greift das angedeutete Spannungsfeld mit dem Ziel auf, die wissenschaftliche Theoriebildung weiterzuentwickeln und die gewonnenen Einsichten in die aktuellen gesellschaftlichen Debatten einzubringen.

Landesforschungsinitiative Rheinland-Pfalz

Die Forschungsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz wird durch das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur gefördert und dient der Profilbildung an den Universitäten des Landes. Mit Hilfe der Forschungsinitiative etabliert die Universität Koblenz-Landau neue Forschungsschwerpunkte, die national und international sichtbar sind, und die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb ihres Profils Bildung-Mensch-Umwelt ausbauen. Die Forschungsschwerpunkte wurden extern wissenschaftlich evaluiert, die Einrichtung durch den Senat der Universität beschlossen. Es bestehen zurzeit folgende Forschungsschwerpunkte: Kulturelle Orientierung und normative Bindung (Kultur-Norm), Kommunikation-Medien-Politik: Vermittlung, Wahrnehmung und Verarbeitung politisch relevanter Diskurse (KoMePol), Land-Wasser-Interaktionen unter dem Einfluss neuer anthropogener Stressoren (Auf Land).

Weitere Informationen unter:
http://www.kulturelle-orientierung.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution183

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Koblenz-Landau, Bernd Hegen, 17.10.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2016

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