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MENSCHENRECHTE/221: Menschenrechte, Freiheit und innere Sicherheit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Menschenrechte, Freiheit und innere Sicherheit

Von Volker Beck


In der Debatte um die Balance von Freiheit und Sicherheit gerät vielfach aus dem Blickfeld, dass ein zentraler Standard nicht zur Disposition gestellt werden darf: die Einhaltung der Menschenrechte. Eine Klarstellung.


Zunächst ein Blick auf die Kernfunktion der Menschenrechte in dieser Debatte (nach Heiner Bielefeldt):

Die Verankerung der Menschenrechte im internationalen Recht nach dem Zweiten Weltkrieg ist als direkte Reaktion auf den Schrecken dieses Krieges und insbesondere den Nationalsozialismus zu sehen. Die Menschenrechte implizieren daher konzeptionell von Anfang an ihre unmittelbare und direkte Geltung. Das Grundgesetz bringt dies wie folgt zum Ausdruck: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich daher zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Es handelt sich mithin nicht um ein "Schönwetterkonzept", das nur in guten Zeiten und unter zivilen Bedingungen gelten soll. Erst recht sind die Menschenrechte nicht nur etwas, das man sich leisten kann, wenn die Rahmenbedingungen günstig sind. Derartige Argumentationsmuster sind vielmehr kennzeichnend für totalitäre Gesellschaften, die unter Verweis auf die gegenwärtige Situation den aktuellen Geltungsanspruch der Menschenrechte verneinen bzw. relativieren.

Dass die Menschenrechte auch in Bedrohungslagen nicht geopfert werden können, selbst wenn eine Mehrheit dies wünscht, folgt daraus, dass die Menschenrechte unveräußerlich sind. Eine den Menschenrechten verpflichtete Gemeinschaft kann daher den Kern der individuellen Freiheiten nicht aufgeben, um - trügerische - Sicherheit zu schaffen. Dies verdeutlicht das Grundgesetz, indem es den durch die Menschenwürde geschützten Kern der Freiheitsrechte auch einer Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzieht.

Selbstverständlich ist es die elementare staatliche Aufgabe, die Rechte seiner Bürger zu schützen. Aus dem Blickwinkel der Menschenrechte handelt es sich jedoch dabei um eine der Freiheit dienende Funktion. Keineswegs ist es so, dass es ein den Menschenrechten gleichstehendes oder sogar vorrangiges "Recht auf Sicherheit" gäbe. Gelegentlich gibt es Argumentationsmuster, die ein solches nahe legen wollen, so wenn Alexander v. Humboldt - der sich dabei wahrscheinlich im Grabe umdrehen würde - zitiert wird ("Ohne Sicherheit ist keine Freiheit"). Derartige Argumentationen überhöhen die Funktion des Staates dahin, dass er die Freiheitsrechte - durch eine repressive Politik - erst schaffen muss. Zu betonen ist hingegen, dass das Konzept der Menschenrechte vom gegenteiligen Verständnis ausgeht. Art. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung sagt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Der Staat muss den Menschen ihre Rechte nicht erst verschaffen. Deshalb muss er, auch wenn er zum Schutz seiner Bürger tätig wird, die Menschenrechte zugleich als Grundlage seines Schutzauftrages mitdenken. "Nur in der Achtung der Freiheit - das heißt: in der strengen und kontrollierten Bindung an hier und jetzt geltende Menschenrechte kann staatliche Sicherheitspolitik ihren Auftrag zum Schutz der Freiheit erfüllen" (Bielefeldt). Insofern formuliert im Grundsatz die Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Gelb richtig (mag man auch zweifeln, dass hieraus in der Praxis hinreichende Konsequenzen gezogen werden): "Der Staat hat die Aufgabe, die unveräußerlichen Freiheiten jedes Einzelnen durch politische, rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen umfassend zur Geltung zu bringen." Und insoweit beansprucht der Satz "Im Zweifel für die Freiheit" Geltung.

Schließlich ist die Schutzfunktion der Grundrechte gegen Diskriminierungen zu betonen. Schon der zitierte Art. 1 der Menschenrechtserklärung verdeutlicht, dass die Menschenrechte jeder Person in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Anknüpfend an die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus betont gerade das GG in seinen in Art. 3 verankerten absoluten Diskriminierungsverboten: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Gerade dieser Verpflichtung zu genügen, muss Ziel einer menschenrechtsfundierten Politik sein.

Wo verlaufen auf Grundlage meines Verständnisses der Freiheitsrechte die Leitlinien in der Praxis?

Die Menschenwürde schützen: Die äußerste Grenze für staatliche Maßnahmen auch auf dem Feld der inneren Sicherheit markiert die Menschenwürde.

Kernsatz bleibt damit, dass jeder - auch der Gegner oder Feind - ein Träger von Menschenrechten bleibt. Insoweit ist daher Konzepten eine klare Absage zu erteilen (vgl. Jakobs "Feindstrafrecht"), die z.B. Terroristen aus den allgemein geltenden rechtsstaatlichen Verbürgungen ausgrenzen wollen. Als praktizierte Politik solcher die Menschenwürde angreifenden Politik gegen Feinde kann man den Status - bzw. Nicht-Status - bewerten, den die Bush-Regierung den Häftlingen in Guantánamo zubilligte. Ebenso verhält es sich, wenn aufgrund von Maßnahmen des Weltsicherheitsrates Personen in ihrer Freiheit als Wirtschaftssubjekt aufzutreten, nahezu vollständig beschränkt werden, ohne dass die Kriterien hierfür klar wären und den Betroffenen Rechtsmittel hiergegen zur Verfügung stünden. Der Europäische Gerichtshof ist dieser Praxis daher für die europäische Rechtsgemeinschaft zu Recht entgegen getreten.

Dass darüber hinaus die Menschenwürde als äußerste Grenze in der praktischen Diskussion auch in Deutschland bereits verteidigt werden muss, zeigt nicht nur die Diskussion um die Folter oder um die - erst vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gestoppte - Überwachung auch privatester Lebensäußerungen im geschützten häuslichen Bereich ("Großer Lauschangriff"), sondern auch die Diskussion um das Luftsicherheitsgesetz. Das BVerfG hat die Vorschrift im Luftsicherheitsgesetz, die die staatliche Tötung Unschuldiger nicht eindeutig genug ausschloss, zu Recht - auch - wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde aufgehoben. Dies war auch deshalb nötig geworden, weil sie von Mitgliedern der Bundesregierung entgegen der gesetzgeberischen Intentionen (jedenfalls der Grünen-Fraktion) dahingehend interpretiert wurde, dass sie eine Tötung Unschuldiger erlaubt.


Der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung

Die Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus haben gezeigt, welche zerstörerische Kraft es hat, wenn ein Staat seine Maßnahmen an Herkunft, politischer Anschauung oder Religion von Menschen orientiert.

Deshalb ist hier bereits im Vorfeld echter Benachteiligungen auf Grund solcher Merkmale extreme Vorsicht geboten. Auch wenn Maßnahmen, die an diese Merkmale anknüpfen, nicht aus der niedrigen Gesinnung von Nationalsozialisten heraus getroffen werden, so können sie doch geeignet sein, die zivilisatorischen Grundlagen und unser rechtsstaatliches Gemeinwesen grundlegend zu beschädigen.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade aus Großbritannien, das eine - vom House of Lords für mit den Menschenrechten unvereinbar erklärte - Sicherungshaft für potenziell gefährliche Ausländer eingeführt hatte (wie sie auch in Deutschland immer wieder gefordert wird), der Vorfall berichtet wurde, dass sich Fluggäste geweigert hatten, in einem Flugzeug mit zu fliegen, wenn nicht fremdländisch aussehende Passagiere aus der Maschine entfernt würden. Die Gefahren von Maßnahmen wie der Sicherungshaft dürften daher von Richter Lord Hoffmann in der Entscheidung des House of Lords nicht ganz falsch eingeschätzt worden sein: "The real threat to the life of the nation, in the sense of a people living in accordance with its traditional laws and political values, comes not from terrorism but from laws such as these."

Auch im deutschen Rechtskreis haben sich gefährliche Tendenzen beim Merkmal "Herkunft" in der vergangenen Legislatur manifestiert. So konnte das BMI das seit langem betriebene - von Bündnis 90/Die Grünen in der rot-grünen Koalition immer wieder abgewehrte - Konzept eines Registers mit den Daten eingebürgerter Personen (Staatsangehörigendatei) durchsetzen. Das Diskriminierungspotenzial, das eine solche Datei in konkreten Situationen bieten kann - etwa durch Rasterfahndungen mit dem Kriterium Eingebürgerter aus einem bestimmten Herkunftsland - ist erheblich.


Keine Grundpflichten der Bürger

Jeder Mensch ist mit Rechten versehen. Deshalb erfordern staatliche Maßnahmen, die in seinen Rechtskreis eingreifen, eine Begründung. Nach den klassischen Regeln waren solche Eingriffe dann zulässig, wenn von dem Betroffenen eine Gefahr ausging (Gefahrenabwehr, Prävention) oder wenn er im - zu begründenden - Verdacht stand, eine Straftat begangen zu haben (Strafverfolgung, Repression).

Gerade im Bereich des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung nehmen hier die Eingriffe zu, die nicht mehr daran anknüpfen, dass vom Bürger Gefahren ausgehen oder er einer Straftat verdächtig ist. Lässt man solche Eingriffe schrankenlos oder fast schrankenlos zur Beförderung guter Zwecke zu, so löst sich das Recht auf Freiheit nahezu vollständig auf. Die Bürger werden Grundpflichten gegenüber dem Staat unterworfen. Damit verflüchtigt sich die individuelle Freiheit. Deshalb ist daran festzuhalten, dass derartige Eingriffe nur in extremen und konkreten Gefahrensituationen zulässig sein können. Eine Pflicht des Bürgers solche Eingriffe zu dulden, kann nur in solchen Gefahrensituationen toleriert werden.

Ein besonders eklatantes Beispiel für eine Grenzüberschreitung, die ungefährliche und unschuldige Bürger mit generellen Pflichten überziehen will, auch ohne dass eine konkrete Gefahrenlage vorhanden sein muss, ist die Vorratsdatenspeicherung. Aufgrund von Europarecht sah sich die Bundesregierung veranlasst, ein Gesetz durch den Bundestag zu bringen, das die anlass- und verdachtslose Speicherung der Verkehrsdaten (etwa Rufnummern) aller Menschen vorsieht, die über das Internet oder das Telefon miteinander kommunizieren, damit diese Daten später unter - viel zu niedrigen Voraussetzungen - im Einzelfall zur Strafverfolgung oder nach Maßgabe von Landesrecht auch zur Gefahrenabwehr genutzt werden können. Viele Menschen, auch MdBa von Bündnis 90/Die Grünen, haben die Vorratsdatenspeicherung daher beim BVerfG zu Recht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen. Wenn diese Maßnahme mit den nationalen und den europäischen Grundrechten vereinbar wäre, so ließe sich beinahe jede verdachtslose Speicherung von Bürgerdaten mit der Begründung rechtfertigen, man könne diese Daten später noch einmal benötigen. Um dieser die Menschenrechte aller Europäer gefährdende Maßnahme einen Riegel vorzuschieben, wäre es wünschenswert, dass das BVerfG die Sache mit einem klaren Votum dem Europäischen Gerichtshof vorlegte, damit dieser die Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Denn leider ist nicht zu hoffen, dass die neue Bundesregierung ernsthafte Schritte unternimmt, um zu einer grundrechtskonformen Situation zurück zu kehren.


Die Aufgabe der Politik

Folgende Beschreibung von Winfried Hassemer ist nach den oben gemachten Feststellungen zutreffend: "Im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit bewegen wir uns seit geraumer Zeit hin zum Pol der Sicherheit. Das geht zu Lasten der Freiheit." Die Balance von Freiheit und Sicherheit ist daher konkret gefährdet. Teils sichern nur noch die Gerichte - BVerfG und Europäischer Gerichtshof - die äußersten Grenzen der Freiheit. Das darf nicht so bleiben. Unser politischer Auftrag ist es, dass das Parlament selbst wieder seiner Aufgabe gerecht wird, die Freiheit der Bürger zu schützen und Deutschland und die Europäische Union zu einer menschenrechtsorientierten Politik zurück findet.

Dies bedeutet auch, in der Sicherheitspolitik nicht immer alles zu machen, was verfassungsrechtlich gerade noch geht, und sich stattdessen auf das Notwendige und unbedingt Erforderliche in diesem Rahmen zu beschränken.


Volker Beck (* 1960) MdB, ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
volker.beck@bundestag.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 24-27
27Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2010