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MILITÄR/880: Die neue NATO-Strategie - Kompromiss auf Zeit (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Die neue NATO-Strategie
Kompromiss auf Zeit

Von Christos Katsioulis, November 2010


- Beim Gipfel vom 19. und 20. November 2010 haben die Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses ein neues Strategisches Konzept verabschiedet. Das von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verfasste Papier löst das Konzept von 1999 ab, das bis dahin die Rolle und Aufgaben der NATO beschrieben hatte.

- Das Konzept von 2010 soll den bestehenden Konsens der Mitgliedstaaten zusammenfassen und neue Weichenstellungen einleiten, ohne den konkreten Fahrplan auszuformulieren. Es soll die NATO zumindest konzeptionell im neuen Sicherheitsumfeld verorten. Die darin identifizierten Kernaufgaben der NATO sind Verteidigung, Krisenmanagement und Kooperative Sicherheit.

- Allerdings übertüncht das strategische Konzept den teils brüchigen Konsens der Mitgliedstaaten und vermeidet an den strittigen Stellen eindeutige Weichenstellungen. Dabei stechen vier strittige Aspekte besonders hervor, bei denen das Papier des Generalsekretärs hinter den Erwartungen zurückbleibt, bzw. zukünftigen Konfliktstoff birgt: die Rolle der Nuklearwaffen des Bündnisses, das Krisenmanagement im Verhältnis mit anderen Akteuren, das Verhältnis zu Russland, das besonders auf die gemeinsame Raketenabwehr fokussiert wird und die Frage der Finanzierung von Verteidigung in Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise.

- Die neue NATO-Strategie vertagt damit wichtige Fragen für das Bündnis in die kommenden Jahre. Lediglich bei der Kooperation mit Russland finden sich in der Kombination des Konzepts und der Entscheidungen des NATO-Russland-Rates konstruktive Ideen für eine langfristige Verbesserung des Verhältnisses mit dem ehemaligen Gegner.


Einleitung

Beim Gipfel vom 19. und 20. November 2010 haben die Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses ein neues Strategisches Konzept verabschiedet. Das von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verfasste Papier löst das Konzept von 1999 ab, das bis dahin die Rolle und Aufgaben der NATO beschrieben hatte. Mit dem neuen Dokument soll die NATO für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aufgestellt und ihre nächste Evolutionsphase eingeleitet werden. In diesem Sinne stellt das nun präsentierte Strategische Konzept die dritte Entwicklungsstufe seit dem Kalten Krieg dar, die beiden vorangegangenen Konzepte datieren von 1991 und 1999. Das Bündnis soll sozusagen durch gezielt vorgenommene »Genmutationen« in die Lage versetzt werden, mit neuen Fähigkeiten und Partnern auf künftige Bedrohungen und politische Herausforderungen zu reagieren.

Ein kursorischer Blick auf die zentralen Ereignisse verdeutlicht, welche massiven Veränderungen sich im sicherheitspolitischen Umfeld der Mitgliedstaaten seit dem letzten Konzept der NATO ergeben haben, auf die das neue Grundlagendokument eingehen musste:

• Die terroristischen Attacken vom 11. September 2001 und der dadurch erstmals ausgelöste Bündnisfall der NATO. Daraus folgte der Einsatz der NATO in Afghanistan, der bis heute andauert;

• Die Spaltung des Bündnisses anlässlich des Irakkrieges 2003, als einige Verbündete die USA in einer Koalition der Willigen unterstützten, während andere sich dem demonstrativ verweigerten;

• Die Anschläge islamistischer Terroristen in Madrid und London, 2004 und 2005;

• Die Erweiterungen der NATO 2004 und 2009;

• Der Cyber-Angriff auf estnische Server 2007, der die öffentliche Kommunikationsinfrastruktur des Landes weitgehend lahm legte;

• Die massive Zunahme der Piraterie im Golf von Aden, einer der meistbefahrenen maritimen Handelsrouten der Welt;

• Der Krieg zwischen Russland und Georgien 2008, der in der Abspaltung Südossetiens und Abchasiens mündete und insbesondere bei den mittelosteuropäischen NATO-Mitgliedern für Unruhe und Misstrauen in Bezug auf Russland sorgte;

• Die Wiederbelebung des politischen Ziels einer atomwaffenfreien Welt, das vom amerikanischen Präsidenten Obama 2009 in Prag postuliert wurde;

• Die Reform der Europäischen Union durch den Lissabon-Vertrag 2009, der eine Solidaritäts- und Beistandsklausel in der EU verankerte und damit den Grundstein für eine Europäische Verteidigungsunion legt.


Der neue Weg zum Strategischen Konzept - von der Transparenz zur Geheimdiplomatie

Der Jubiläumsgipfel der NATO 2009 in Strasbourg und Kehl beauftragte den Generalsekretär mit dem Verfassen eines neuen Strategischen Konzeptes. Der Prozess, der zu dem nun verabschiedeten Konzept führte, war einzigartig für ein Verteidigungsbündnis wie die NATO. Eine Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright erarbeitete Empfehlungen für den NATO-Generalsekretär in einem Dialog orientierten Prozess. So fanden Seminare mit Wissenschaftlern, Journalisten und Entscheidungsträgern statt, die Gruppe tagte auch in Moskau und konsultierte zudem zahlreiche internationale Organisationen und Staaten außerhalb der Allianz, bevor sie am 17. Mai 2010 ihren Bericht an Generalsekretär Rasmussen übergab. Diese Phase wurde von einer intensiven und parallel zur Expertengruppe strukturierten Onlinedebatte auf der Homepage der NATO begleitet, bei der die Teilnehmer aufgefordert waren, ihre Vorstellungen bezüglich des neuen Konzepts der NATO darzulegen. Der bis dahin beispiellos transparente und partizipatorische Prozess wurde dann jedoch wieder zur Geheimdiplomatie. Auf der Grundlage des Berichts und der Debatten erarbeitete Generalsekretär Rasmussen einen eigenen Entwurf, der den Mitgliedstaaten Ende September zugeleitet wurde und die Grundlage für das neue Strategische Konzept der NATO bildet. Diese letzte Phase war von Verhandlungen der Mitgliedstaaten geprägt und unterlag wieder strikter Geheimhaltung, so dass selbst den nationalen Parlamentariern mit nur wenigen Ausnahmen die Lektüre der Entwürfe verweigert wurde.


Das neue strategische Konzept

Die anfänglichen Befürchtungen, dass dieser Prozess das Auseinanderdriften des strategischen Konsenses in der NATO eher beschleunigen als verhindern würde, haben sich nicht erfüllt. Das Konzept von 2010 fasst den bestehenden Konsens der Mitgliedstaaten zusammen, es leitet neue Weichenstellungen ein, ohne den konkreten Fahrplan auszuformulieren, und verortet die NATO zumindest konzeptionell im neuen Sicherheitsumfeld.


Kernaufgaben der NATO

Wie erwartet betont das neue Konzept die Rolle der NATO als Verteidigungsbündnis und hebt die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des NATO-Vertrages als Kernaufgabe der Allianz hervor. Diese Revitalisierung von Artikel 5 war vor dem Hintergrund der Diskussionen nach dem russisch-georgischen Krieg sowie des Einsatzes der NATO in unterschiedlichen Missionen weltweit offenbar notwendig geworden, um zu bekräftigen, dass es bei allen Debatten um die Sinnhaftigkeit der NATO in der Vergangenheit weiterhin einen Grundkonsens im Bündnis gibt, der sich auf Artikel 5 bezieht.

Neben der Verteidigung wird das Krisenmanagement als zweite wichtige Aufgabe der NATO genannt. Hier soll die Allianz vor, während und nach Konflikten tätig werden, die eine Auswirkung auf die Sicherheit der Allianz haben.

Die dritte Aufgabe der NATO soll die Schaffung kooperativer Sicherheit sein. Dazu will die NATO sich in Partnerschaften mit internationalen Organisationen und Staaten engagieren, um Sicherheit zu gewährleisten. Als Unterpunkte werden hierbei Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nonproliferation genannt, sowie die künftige Erweiterung und die Pflege von Partnerschaften.

Das strategische Konzept betont zudem die Rolle der NATO als transatlantisches Forum. In diesem Zusammenhang soll die Allianz weiterhin als zentraler Ort für Konsultationen dienen.


Wer bedroht die NATO heute noch?

Auch wenn die Beschreibung des Sicherheitsumfeldes nicht nach einer klaren Priorisierung der Bedrohungen für die NATO erfolgt, ergibt sich aus der Reihenfolge jedoch ein ungefähres Bild. So werden an erster Stelle konventionelle Attacken genannt, auch wenn ihre Wahrscheinlichkeit als sehr gering eingestuft wird. Gleichzeitig wird festgehalten, dass die Verbreitung von Raketentechnologie zu einer realen und wachsenden Bedrohung für den euroatlantischen Raum geworden ist. Die Proliferation von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen wird als zweite Bedrohung genannt, die weltweit die Stabilität gefährdet. Es folgen der internationale Terrorismus als Bedrohung für die Bürgerinnen und Bürger der NATO, wobei auch auf die Gefahr eingegangen wird, die von Massenvernichtungswaffen in der Hand terroristischer Gruppierungen ausgeht. Als weitere, eher konkrete Bedrohungen nennt das Konzept Cyberangriffe, die Unterbrechung von Handelsrouten und dabei besonders die Verwundbarkeit durch große Abhängigkeit vom Import von Energieressourcen. Abschließend werden noch technologische Weiterentwicklungen von Waffensystemen aufgeführt sowie eher allgemein und unverbunden die Knappheit von Ressourcen, Risiken durch Umweltschäden, Klimawandel und Wassermangel als Probleme, die das künftige Sicherheitsumfeld der NATO prägen werden.


Die Umsetzung der Kernaufgaben - Verteidigung

Bei der Frage, wie sich die NATO in diesem Umfeld verteidigen kann und soll, bleibt das Konzept eher vage. Artikel 5 des NATO-Vertrages wird zwar als identitärer Kern des Bündnisses betont, es wird aber nicht genau festgelegt, in welcher Situation der Bündnisfall konkret eintritt. Damit konnten Differenzen über den Umgang mit Cyberangriffen, wie sie sich im Vorfeld abzeichneten, vermieden werden. Stattdessen setzt die NATO auf ein Bündel von Maßnahmen. Wie gehabt, bleibt Abschreckung ein zentraler Aspekt der Verteidigung, basierend auf einem angemessenen Mix zwischen nuklearen und konventionellen Waffen. Dabei werden explizit die strategischen Arsenale der USA sowie die unabhängigen Nuklearwaffen Frankreichs und Großbritanniens genannt, die zur Sicherheit der Alliierten beitragen. Bei der Formulierung der Bedingungen für einen Einsatz der Nuklearwaffen greift das Konzept nahezu wortgleich auf die Formulierung von 1999 zurück: »The circumstances in which any use of nuclear weapons might have to be contemplated are extremely remote«. Neben den strategischen Waffen werden implizit auch die taktischen genannt, denn die Alliierten sollen in möglichst breiter Form an der nuklearen Teilhabe partizipieren. Als neues, lange angekündigtes und viel diskutiertes Projekt der Bündnisverteidigung wird die Raketenabwehr in das Konzept aufgenommen, die ein Kernelement der NATO werden soll. Dabei soll eng mit Russland und anderen Partnern kooperiert werden. Gleichzeitig sollen konventionelle Kräfte vorgehalten werden, die sowohl zur Verteidigung, als auch zum Krisenmanagement eingesetzt werden können - robust, mobil und schnell verlegbar. Um sich gegen Cyberangriffe und Terrorismus zu wappnen, soll die Allianz ihre Fähigkeiten zur Identifikation und Verteidigung gegen derartige Angriffe stärken und die nationale Abstimmung zwischen den Mitgliedsländern verbessern. Beim Thema Energiesicherheit bleibt das Konzept defensiv, hier ist vage die Rede vom Schutz kritischer Infrastrukturen sowie der Transportrouten, die Mitgliedstaaten sollen konsultiert und gemeinsame Planungen entwickelt werden. Insgesamt nimmt sich die NATO auch vor, die nationalen Verteidigungsausgaben aufrecht zu erhalten, um die Ausstattung der nationalen Armeen zu gewährleisten.


NATO-Krisenmanagement nach Afghanistan

Bei der Umsetzung dieser Kernaufgabe setzt das neue Strategische Konzept auf den comprehensive approch. Effektives Krisenmanagement bedarf eines kombinierten Ansatzes aus politischen, zivilen und militärischen Ansätzen, weswegen sich die NATO gemeinsam mit anderen internationalen Akteuren um maximale Kohärenz bemühen werde. Denn, auch dies macht der Text deutlich, Krisen und Konflikte außerhalb der NATO stellen eine direkte Bedrohung für die Sicherheit des Bündnisses dar. Die Allianz soll daher in allen drei Phasen des Krisenmanagements aktiv werden: präventiv, zur Beendigung von gewaltsamen Auseinandersetzungen und bei der Stabilisierung von Post-Konfliktsituationen. Dazu soll das bestehende Instrumentarium (unique conflict management capacities) von dem nur das Militär explizit genannt wird, ausgebaut werden. Die NATO will ihre Frühwarnfähigkeiten verbessern, sie will ihre militärischen Instrumente zur Aufstandsbekämpfung, Stabilisierung und zum Wiederaufbau weiter entwickeln und sie will eine eigene Einheit zum zivilen Krisenmanagement aufbauen, um besser mit zivilen Partnern interagieren zu können und die Grundlagen für die Verantwortungsübergabe an andere Akteure zu legen. Daneben sollen die zivil-militärischen Planungen verbessert, das Training zur Ausbildung lokaler Truppen verstärkt und nationale zivile Experten identifiziert und ausgebildet werden, um schnell einsetzbar zu sein.


Kooperative Sicherheit

Während die beiden ersten Kernaufgaben noch ein deutliches Übergewicht an militärischer Planung und Fähigkeiten enthielten, wendet sich der Abschnitt über die Kooperative Sicherheit, dem politischen Aspekt des Bündnisses zu. In drei Bereichen soll die NATO ihre politischen Bemühungen um Sicherheit konzentrieren: erstens Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung, zweitens Erweiterung und drittens Partnerschaften.

Die NATO verschreibt sich mit diesem Konzept dem Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen, allerdings ohne Bezug auf Global Zero, sondern mit Verweis auf den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Sie betont ihre großen Abrüstungsschritte seit 1990 und verweist auf die Notwendigkeit größerer Transparenz des russischen Arsenals und reziproker Abrüstung mit Russland im Bereich der Kurzstreckenwaffen. Konventionelle Rüstungskontrolle wird ebenfalls als Anliegen der NATO aufgeführt. Hierbei wird allgemein auf die Bemühungen zur Stärkung von Rüstungskontrollregimes in Europa verwiesen, die Nennung des KSE-Vertrages fehlt allerdings im Gegensatz zum Konzept von 1999. Vor einseitigen nationalen Abrüstungs- oder Rüstungskontrollpolitiken warnt das Papier implizit und betont stattdessen, dass angemessene Konsultationen der Alliierten über diese Themen notwendig sind und im Zweifel entwickelt werden müssen.

In Sachen Erweiterung bleibt das Konzept knapp. Die Erfolge der Vergangenheit werden hervor gehoben und die Vorstellung einer Integration aller europäischer Länder in die NATO als Ideal skizziert. Mit diesem Bezug wird die weiterhin offene Tür der NATO für alle europäischen Demokratien, die die Werte der Allianz teilen und zur gemeinsamen Sicherheit und Stabilität beitragen, betont. Die Erwartung, dass neue Mitglieder bald an die Tür der NATO klopfen werden, bleibt im Gegensatz zum vorherigen Konzept aus. Mit anderen Worten: hinter die Entscheidung von Bukarest konnte die NATO nicht zurück gehen, sie scheut sich aber in Bezug auf Georgien und der Ukraine, Namen zu nennen.

Stattdessen ist der Bereich der Partnerschaften deutlich ausgebaut worden. Hier impliziert die NATO das Konzept des effektiven Multilateralismus, indem sie von einem weiten Netzwerk von Partnerschaften spricht, welches die euroatlantische Sicherheit befördert. Dabei werden zwar die Vereinten Nationen, die Europäische Union und Russland besonders hervorgehoben, allerdings ist dies ein Multilateralismus, in dessen Zentrum die NATO selbst steht. So will sie den politischen Dialog und die Kooperation mit den Vereinten Nationen vertiefen und die praktische Zusammenarbeit verbessern. Die EU und die NATO sollen komplementäre und sich gegenseitig verstärkende Rollen bei der Herstellung von Sicherheit spielen. Dazu soll die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Organisationen gestärkt werden. Praktisch soll die Kooperation in Operationen verbessert werden und der Kapazitätsaufbau gemeinsam vorgenommen werden.

Die Beziehungen mit Russland sollen ebenfalls verbessert werden, denn ihnen wird strategische Bedeutung beigemessen. Daher soll eine »wirkliche strategische Partnerschaft« mit Russland entstehen, aufbauend auf den gemeinsamen Interessen bei Raketenabwehr, Terrorismusbekämpfung, Drogen, Piraterie und der Förderung internationaler Sicherheit. Hierfür soll der NATO-Russland-Rat voll genutzt werden.

Neben diesen drei konkreten Partnerschaften wird noch eine Reihe weiterer Programme genannt, darunter »Partnership for Peace«, der Mittelmeerdialog, die Zusammenarbeit mit der Golfregion und die Istanbuler Kooperationsinitiative. Interessanterweise werden in diesem Abschnitt auch die Beziehungen zu Georgien und der Ukraine angesprochen, allerdings mit dem Verweis auf die Aspirationen beider Länder, irgendwann dem Bündnis beizutreten.


Bewertung

Das neue Strategische Konzept bündelt die verschiedenen Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Es hält damit den dringend notwendigen gemeinsamen Konsens über die Rolle und die Aufgaben des Bündnisses 2010 fest und verdeutlicht nach innen und außen, dass die NATO auch unter stark veränderten Bedingungen eine wichtige und tragende Rolle für die Mitgliedstaaten spielen kann.

Dieser Konsens ist allerdings an einigen Stellen brüchig; das Strategische Konzept bleibt hier besonders unklar und vermeidet eindeutige Weichenstellungen. Dabei stechen vier strittige Aspekte besonders hervor, bei denen das Papier des Generalsekretärs hinter den Erwartungen zurückbleibt, bzw. zukünftigen Konfliktstoff birgt:

• die Rolle der Nuklearwaffen des Bündnisses,
• das Verhätnis mit anderen Akteuren beim Krisenmanagement,
• das besondere Verhältnis zu Russland, das besonders auf die gemeinsame Raketenabwehr fokussiert wird,
• die Frage der Finanzierung von Verteidigung in Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise.


Die Rolle der Nuklearwaffen

Die Erwartungen an die NATO, sich ein klareres abrüstungspolitisches Profil zu geben, waren seit der Rede von Präsident Obama in Prag gestiegen. Mit der amerikanischen Nuclear Posture Review hatte Washington auch eine deutlich defensivere Blaupause für die Einsatzbedingung von Nuklearwaffen vorgelegt. Darin wird der Einsatz von Nuklearwaffen auf Staaten eingeschränkt, die sich nicht an die Regeln des Nichtverbreitungsregimes halten und Atomwaffen einsetzen oder damit drohen. Dahinter fällt die NATO klar zurück, indem sie die Formulierung von 1999 wieder aufnimmt, die den Einsatz von Atomwaffen in extrem unwahrscheinlichen Fällen vorsieht. Eine weitere Qualifizierung und Einschränkung findet aber nicht statt. Die zweite bedauerliche Unterlassung betrifft die nukleare Teilhabe, die weiterhin prominent im Konzept erwähnt bleibt, bei möglichst breiter Partizipation der Alliierten. Damit versäumt die NATO, die Regeln des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, auf den sie wenige Abschnitte vorher noch rekurriert, umzusetzen und die vertragswidrige Stationierung amerikanischer Waffen auf europäischem Boden zu beenden. Sie vertagt das Problem jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, da die technische Haltbarkeit der Teilhabe zumindest in Deutschland erreicht sein wird und die Tornado-Flugzeuge, die zur Verbringung der Waffen verwendet würden, außer Dienst gestellt oder teuer ersetzt werden.

Die Forderung einer reziproken Abrüstung mit Russland in diesem Zusammenhang hilft nur bedingt weiter, denn Russland fordert vor einer Debatte über die taktischen Waffen einen Abzug der letzten etwa 200 Bomben der USA aus Europa. Die dritte Unterlassung ist die fehlende Verbindung zwischen Raketenabwehr und Abrüstung. Hier konnte sich der deutsche Außenminister Westerwelle nicht gegen den Bündnispartner Frankreich durchsetzen. So wollte die Bundesregierung die Raketenabwehr als Beginn des Ausstiegs der NATO aus der atomaren Bewaffnung interpretiert sehen, Paris dagegen wollte sie als Ergänzung des atomaren Arsenals fixieren. Das Konzept verankert die Raketenabwehr im Kern der kollektiven Verteidigung nicht ohne auf die überragende Rolle der Nuklearwaffen für das Bündnis zu verweisen. Das Fehlen einer vertraglichen Begrenzung und Verifikation der Raketenabwehrsysteme kann jedoch einen neuen Rüstungswettlauf anstoßen, denn der Raketenschild verstärkt vor allem die militärische Ausnahmestellung der NATO und verringert gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit als abrüstungspolitischer Akteur. Das Strategische Konzept leitet damit keineswegs eine Wende der NATO hin zu mehr Abrüstung und Rüstungskontrolle ein, sondern garniert die zunehmende Unangreifbarkeit lediglich mit politisch opportunen aber in keiner Hinsicht bindenden Formulierungen.


Krisenmanagement - wie und mit wem?

Das Krisenmanagement der NATO als Kernaufgabe birgt drei Fallstricke, die das Bild der NATO nach außen und ihre Kompatibilität mit anderen Akteuren gefährden. So findet sich zwar ein Paragraph zum Verhältnis mit den Vereinten Nationen, dieser ist aber unter »Partnerschaften« subsumiert und nicht im deutlich wichtigeren Kapitel zum Krisenmanagement. Zudem wird darin nur vage von mehr Kooperation zwischen den Hauptquartieren, politischem Dialog und praktischer Zusammenarbeit gesprochen. Die Entsprechung dazu im Kapitel Krisenmanagement ist die verstärkte Bereitschaft, mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Es fehlt aber ein klares Bekenntnis, Einsätze zur Konfliktbeilegung nur unter einem Mandat des VN-Sicherheitsrates durchzuführen. Hier droht weiterhin die Gefahr einer Selbstmandatierung der NATO und damit der Rückfall in die Rolle des »Weltpolizisten«, die in den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts diskutiert wurde.

Der zweite Fallstrick ist der geplante Aufbau einer zivilen Einheit, »an appropriate but modest civilian crisis management capability«, wie es im Original heißt. Hiermit führt die NATO ihre Bereitschaft der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren ad absurdum, denn dies würde die Duplizierung bereits bestehenden Fähigkeiten von VN, EU oder OSZE bedeuten, um auch in zivilen Bereichen führen zu können. Zudem tritt sie dann auch bei der Anwerbung ziviler Experten in Konkurrenz zur EU und den VN. Diese Personen sind bereits für Einsätze dieser beiden Akteure nur schwer zu rekrutieren, die Mitgliedstaaten würden - ähnlich wie bei Kampfverbänden - dann EU und NATO die gleichen Experten als verfügbar melden, um die mithin ein Wettbewerb der Organisationen entbrennen würde.

Das dritte Problem, das ein effektives Krisenmanagement der NATO in Kooperation mit der EU verhindert, ist die weiterhin bestehende Blockade des strategischen Dialogs zwischen den beiden Organisationen durch die Türkei auf NATO-Seite und Zypern auf EU-Seite. Es ist nicht möglich, diesen Konflikt im Strategischen Konzept zu thematisieren, er limitiert aber die Möglichkeiten der effektiven Kooperation nachhaltig und verhindert die vorgesehene »komplementäre« Zusammenarbeit.


Das Verhältnis zu Russland - Annäherung durch Raketenabwehr?

Das Verhältnis zu Russland birgt ebenfalls Konfliktstoff für die NATO, denn der Kompromiss der Beteiligung Moskaus an der Raketenabwehr ist noch lange nicht in trockenen Tüchern. Die prinzipielle Bereitschaft Medwedews, dieses System gemeinsam mit der NATO zu betreiben, ist mit einer zentralen Einschränkung zu betrachten, die er selbst in Lissabon formuliert hat: Eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Russland und der NATO bei der Raketenabwehr.(1) Diese ist in ihrer konkreten Ausgestaltung noch sehr unklar. Eine Lösung, die die Erwartungen beider Seiten erfüllt, dieses System mit zu gestalten, Entscheidungen zu treffen und die jeweiligen Informationen zu schützen, ist beim gegenwärtigen Stand des Verhältnisses zwischen Russland und einigen NATO-Mitgliedstaaten eher unwahrscheinlich. Daher sind die Entscheidungen des NATO-Russland-Rates in Lissabon zur Gestaltung des gemeinsamen Verhältnisses klug, denn sie federn diese problematische Situation ab und ermöglichen eine pragmatische Verbesserung der Beziehungen. Eine gemeinsame Bedrohungsanalyse soll erstellt werden, einerseits in Bezug auf die allgemeinen Sicherheitsbedrohungen, andererseits in Bezug auf die Gefährdung durch ballistische Raketen. Zudem sollen die gemeinsamen Bemühungen um die Stabilisierung Afghanistans verstärkt werden. Russland hat der NATO für den Transport nicht-letaler Güter mehr Transitrechte eingeräumt und auch die Zusammenarbeit im Kampf gegen Drogen soll verstärkt werden.


Schwindende Verteidigungshaushalte

Eine Lücke im Papier des Generalsekretärs ist unübersehbar: Im Strategischen Konzept findet sich kein Hinweis darauf, dass die Verteidigungshaushalte der Mitgliedstaaten vor den größten Kürzungen seit dem Ende des Kalten Krieges stehen. Stattdessen betont das Konzept, dass die NATO die notwendige Ausstattung der Haushalte im Blick behalten wird: »(we will) ... sustain the necessary levels of defence spending, so that our armed forces are sufficiently resourced«. Die einzige konkrete Idee, wie dies geschehen könnte, ist beim Kapitel zu den EU-NATO-Beziehungen zu finden. Hier soll beim Fähigkeitsaufbau enger kooperiert werden, um kosteneffektiver beschaffen zu können. Diese blinde Stelle des Konzepts ist einer der größten Schwachpunkte, denn beinahe alle Mitgliedsländer stehen vor der Herausforderung, Bündnisfähigkeit gewährleisten zu wollen, aber gleichzeitig massiv in den Verteidigungshaushalten sparen zu müssen. Und kein Geringerer als Mike Mullen, Stabschef der USA, stellte fest, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise die größte Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten, also des wichtigsten Bündnispartners darstellt. Die etwa EUR 200 Mio. angekündigten Finanzmittel, die für die Raketenabwehr nötig sein sollen, machen sich vor diesem Hintergrund zwar gut, sie sind aber nur der Beginn dieses Programms, während die Folgekosten für die Mitgliedsländer deutliche höher ausfallen werden.


Ausblick

Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die allgemeine Euphorie über den Gipfel in Lissabon nicht angebracht erscheint. »Historisch« ist an diesem Gipfel höchstens, dass die NATO trotz der vorangegangenen Differenzen ein gemeinsames strategisches Konzept verabschiedet hat. Das Papier selbst bleibt unklar in den wichtigsten Punkten und vertagt damit vor allem die Fragen nach der Rolle der Nuklearwaffen, dem abrüstungspolitischen Profil und der Ausgestaltung der Kriseneinsätze. Lediglich bei der Kooperation mit Russland finden sich in der Kombination des Konzepts und der Entscheidungen des NATO-Russland-Rates konstruktive Ideen für eine langfristige Verbesserung des Verhältnisses mit dem ehemaligen Gegner. Das Konzept verschafft der NATO eine Atempause, entbindet sie aber nicht von der Verantwortung, in den kommenden Jahren Entscheidungen treffen zu müssen, die für einige der Mitgliedsländer schmerzhaft sein werden. Der Abzug der taktischen Waffen bleibt auf der Tagesordnung, bei der Zusammenarbeit mit der EU im Bereich Krisenmanagement droht eine neue Duplizierungsdebatte und die Grundlage der NATO, das militärische Potential der Mitgliedstaaten erodiert im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der Afghanistaneinsatz - der im übrigen nur einmal kurz im Konzept Erwähnung findet - ist ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Der Abzug könnte ein ganz neues Licht auf die Bereitschaft der NATO werfen, noch einmal einen Stabilisierungseinsatz dieser Größenordnung führen zu wollen. In diesen Aspekten muss mehr Klarheit geschaffen werden. Die taktischen Waffen sollten als abrüstungspolitisches Signal baldmöglichst abgezogen werden. Die NATO sollte sich beim Krisenmanagement unter das Dach der VN begeben, um ihre einzigartigen militärischen Fähigkeiten im von den VN dirigierten Konzert der Akteure einzubringen. Die Möglichkeiten zum Aufbau sezialisierter und arbeitsteiliger Streitkräfte in Europa sollte von der NATO unterstützt werden, denn es entlastet auf mittlere Sicht die Mitgliedstaaten und sichert dem Bündnis schlagkräftige Einheiten. Das neue Strategische Konzept ist vage genug, um diese Entscheidungen offen zu lassen, es liegt an der NATO und den Mitgliedsländern, hier einen gemeinsamen Weg zu finden. Sollten sie ihn nicht finden, dann könnte sich diese Phase der Evolution der NATO als Sackgasse erweisen, aus der es nur den Ausweg gibt, der partiell bereits beschritten wird: die Beschränkung auf die kollektive Verteidigung.


Anmerkung

(1) Siehe die Pressekonferenz mit Präsident Medwedew in Lissabon unter: http://www.natochannel.tv/default.aspx?aid=4371


Über den Autor
Christos Katsioulis ist Referent der Internationalen Politikanalyse in der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin.


Die Internationale Politikanalyse (IPA) ist die Analyseeinheit der Abteilung Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung. In unseren Publikationen und Studien bearbeiten wir Schlüsselthemen der europäischen und internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Unser Ziel ist die Entwicklung von politischen Handlungsempfehlungen und Szenarien aus der Perspektive der Sozialen Demokratie.

Diese Publikation erscheint im Rahmen der Arbeitslinie »Europäische Außen- und Sicherheitspolitik«, Redaktion: Christos Katsioulis, christos.katsioulis@fes.de.

ISBN 978-3-86872-571-1


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2010